Jasmin Trächtler

Wittgenstein und die Literatur(wissenschaft)

Robert Chodat, John Gibson (Hg.): Wittgenstein and Literary Studies. Cambridge MA: CUP 2022. 215 S. [Preis: EUR 105,95]. ISBN: 978-1108833219

Die Konjunktionen eines Philosophen wie Wittgenstein mit dessen Werk näher oder ferner stehenden anderen Wissenschaften, ›Ismen‹ und Lebensbereichen können unabhängig vom Inhalt solcher Querschläge als Zeichen für eine Phase und Form der Rezeption gesehen werden, die danach drängt, über das Werk dieses Philosophen hinauszugehen. Den Beiträgen in Wittgenstein and Literary Studies gelingt dies, indem sie auf unterschiedliche Weise zeigen, welch vielfältige Quelle der Inspiration Wittgensteins Philosophie sowohl für Dichter*innen, Autor*innen und die Literatur selbst als auch für die Literaturwissenschaften bietet, sodass sowohl Wittgensteinianer*innen wie ich selbst als auch – wie ich zu behaupten wage – Literaturwissenschaftler*innen viel lernen können.

Tatsächlich soll der Band als eine Antwort auf die Frage »Why Wittgenstein and Literary Studies?« verstanden werden, wie John Gibson in seiner gleichnamigen Einleitung betont, und zwar »by highlighting a very specific community of scholars, namely, those whose work is, at the present moment particularly visible, novel, and important« (14). Dass es sich hierbei um eine Gemeinschaft von Literaturwissenschaftler*innen und Philosoph*innen handelt, zeigt sich vor allem durch einen deutlichen Schwerpunkt auf Wittgensteins Spätphilosophie und einer durch Cavell beeinflussten Lesart dieser. Der Tractatus kommt inhaltlich nur in dem Beitrag LeMahieus zur Sprache, der sich auf den Einfluss des Tractatus auf literarische Werke konzentriert; in anderen Beiträgen wird dieser Teil von Wittgensteins früher Philosophie allenfalls unter formal(-ästhetischen) Gesichtspunkten bewundert. Dies ist wenig überraschend und hat durchaus den Vorteil, dass die Beiträge so durch einen gewissen Konsens bezüglich der Konjunktion von Wittgenstein und der Literaturwissenschaft zusammengehalten werden, der darin besteht, dass Wittgensteins Philosophie hier als eine Brücke zwischen der kontinentalphilosophisch beeinflussten Literaturwissenschaft und der (anglophonen) analytischen Philosophie betrachtet wird:

Wittgenstein’s work has come to offer both parties to the not-so-ancient debate a space that seems to excise from analytic philosophy its perceived cultural illiteracy and from literary studies its supposedly hip but thin reliance on wholly negative and skeptical forms of criticism […]. Wittgenstein is especially appealing to scholars who find a grain of truth in these unflattering descriptions of their own fields. (3)

Dieser grundlegende Konsens erlaubt nicht zuletzt auch die äußerst gelungene Anordnung der einzelnen Beiträge: Anders als bei vergleichbaren Bänden werden diese nicht in unterschiedliche Teile aufgespalten, sondern folgen einer »natural progression of topics«, wodurch der Band als Ganzes tatsächlich mehr ist als die Summe seiner Teile (12). Dieses natürliche Fortschreiten bewegt sich dabei von Untersuchungen zu »Wittgenstein’s influence, actual or desired, on both literature and contemporary critical practices« hin zu Diskussionen philosophischer Probleme der Literatur (12f.).

Neben dieser Erläuterung des Themas und des Aufbaus des Bandes enthält Gibsons Einleitung eine kurze Einführung in die für die literaturwissenschaftliche Rezeption wichtigen Aspekte von Wittgensteins Philosophie, die informativ genug ist, um das Buch auch Leser*innen ohne tiefere Vertrautheit mit Wittgensteins Philosophie zugänglicher zu machen, und immerhin vorsichtig genug ist, um auch besonders ernsthafte Wittgensteinianer*innen nicht zu verlieren. Eine etwas größere Vorsicht wäre vielleicht bei Gibsons englischer Übersetzung von unheimlich geboten gewesen, dessen ältere Bedeutung neben ›uncanny‹ wohl am ehesten mit ›un-cosy‹ (›un-homy‹) übersetzt werden könnte – nicht aber mit »homeless« (vgl. 6)!

Das erste Kapitel »Writing after Wittgenstein« von Michel LeMahieu bietet einen ›sanften‹ Einstieg in die Konjunktion »Wittgenstein and Literary Studies«, indem hier gezeigt wird, wie Wittgenstein als Person und als Philosoph immer wieder Eingang in die Literatur gefunden hat. Anhand einer großen Breite literarischer Wittgenstein-Bezüge in verschiedenen Werken des 20. und 21. Jahrhunderts verfolgt LeMahieu die Frage, was »writing after Wittgenstein« bedeutet, und zwar sowohl chronologisch verstanden als auch in dem Sinne der verschiedenen Möglichkeiten, Wittgenstein bzw. seiner Philosophie ›schreibend nachzugehen‹: »To write after Wittgenstein is both to come after him and to come for him« (17). Neben einem interessanten und informativen Überblick über die zahlreichen und ganz verschiedenartigen Wittgenstein-Bezüge in Werken von Thomas Pynchon, Vladimir Nabokov, Angela Carter, Don DeLillo, Thomas Bernhard, David Markson, Samuel Beckett, Maggie Nelson, Kathy Acker, Lydia Davis, Ben Lerner, Nicholas Mosley, W.G. Sebald, David Foster Wallace und Amiri Baraka macht LeMahieu hier vor allem auf die Entwicklung in der literarischen Wittgenstein-Rezeption aufmerksam, die von einem recht einheitlichen Bild von Wittgenstein als dem Verfasser des Tractatus, und damit dem Logiker und Mystiker, hin zu einer zunehmend differenzierteren und vielseitigeren Darstellung vor allem seiner Spätphilosophie durch Bezüge auf das Privatsprachenargument, Schmerzäußerungen oder Aspektsehen verläuft.

Die nächsten beiden Kapitel befassen sich mit Wittgenstein’schen Perspektiven auf die Literaturkritik. Toril Moi untersucht in ihrem Beitrag »A Wittgensteinian Phenomonology of Criticism«, wie Literaturkritik als Interpretation oder kritische Lektüre in einem Wittgenstein’schen Sinne möglich ist, d. h. »whether literary criticism can be existentially serious, expressive of genuine thinking« (42). Unter Bezugnahme auf Stanley Cavells »The Avoidance of Love« arbeitet Moi auf äußerst originelle und vielschichtige Weise einen Ansatz der Literaturinterpretation heraus, der insofern eine ›Phänomenologie‹ genannt werden kann, als die persönlich-existenzielle, die menschliche Erfahrung der Lektüre im Zentrum steht. Damit richtet sie sich gegen formalistische und, wie sie sagt, »un-wittgensteinsche« Ansichten der Literatur und Literaturkritik (vgl. 58) und betont die Subjektivität und Partikularität, die Wichtigkeit von Beispielen gegenüber Verallgemeinerungstendenzen der Literaturwissenschaft (vgl. 57). Der ›Wittgenstein’sche Geist‹ in Mois Ansatz bestehe somit vor allein in einer Haltung gegenüber dem Text als Handlung und Ausdruck, mit dem es in Dialog zu treten gilt, und weniger als ›Objekt‹, dessen versteckte, tieferliegende Wahrheiten durch die kritische Lektüre enthüllt werden müssten (vgl. 59). Wenn Mois Konzeption der kritischen Lektüre sich so auch nicht den Vorwurf gefallen lassen muss, ›un-wittgensteinsch‹ zu sein, lässt sich doch fragen, ob der ›Wittgenstein’sche Geist‹ darin nicht allzu dünnluftig daherkommt, und sich ihr Ansatz nicht treffender als ›Cavell’sche Literaturkritik‹ bezeichnen ließe – ohne damit die auch für Wittgensteinianer*innen zweifellos interessanten Einsichten und feinsinnigen Beobachtungen von Mois Beitrag schmälern zu wollen.

Auch Robert Chodat setzt sich in seinem Beitrag »Appreciating Material – Criticism, Science, and the Very Idea of Method« kritisch mit bestimmten naturwissenschaftlichen Tendenzen in der Literaturwissenschaft auseinander. Im Fokus stehen dabei zum einen jüngere Bestrebungen, ›Big Data‹-Analysen für ein neues Verständnis der Geschichte des modernen Romans zu nutzen, und zum anderen neurowissenschaftliche Untersuchungen, die der Natur und Besonderheit ästhetischer Erlebnisse empirisch habhaft zu werden versuchen, wobei beide Ansätze unsere Auffassungen von ästhetischem Verstehen zu revolutionieren beanspruchen. Auf Grundlage von Wittgensteins metaphilosophischen, ästhetischen und geistesphilosophischen Bemerkungen (v.a. in Vorlesungen über die Ästhetik und Philosophische Untersuchungen) kritisiert Chodat diesen ›empirical turn‹ in den Literaturwissenschaften (vgl. 65): Während bei quantitativen Datenerhebungen zum »modernen Roman« ein ästhetisches Genre, d. h. ein prinzipiell offener Begriff, mit einer klar abgrenzbaren Klasse materieller Objekte (d. h. Bücher) verwechselt würde, vermengten neurowissenschaftliche Untersuchungen ästhetisches Verstehen und Erleben mit materiellen Prozessen, die gegenüber dem geistigen Erleben massiv unterbestimmt seien und sich zudem z. B. mittels bildgebender Verfahren nur insofern empirisch untersuchen ließen, als dass sie die in der Sprachpraxis etablierten Kriterien für diese mentalen Zustände und Erlebnisse bereits voraussetzten (vgl. 70f.). Das Wesentliche ästhetischen Verstehens könne Chodat zufolge nicht empirisch mittels Verallgemeinerungen und Kausalhypothesen erklärt werden, vielmehr seien diese, wie Chodat an Moi anknüpfend darlegt, vor dem Hintergrund einer immersiven Erfahrung mit einer handwerklichen und existenziell-subjektiven Dimension zu verstehen. Im Unterschied zu Moi bietet Chodats Beitrag eine im engeren Sinne Wittgenstein’sche Perspektive auf die Aufgabe und den Gegenstand der Literaturwissenschaft und damit vor allem den mit Wittgensteins metaphilosophischen und ästhetischen Ansichten weniger vertrauten Leser*innen erhellende Einblicke in dessen Philosophie.

Von der Literaturkritik tastet sich der Band in den Bereichen der Literaturwissenschaft weiter zur Literaturgeschichte vor: In ihrem Beitrag »A Vision of Language for Language Historians – Forms of Life, Context, Use« interpretiert Sarah Beckwith Wittgensteins Begriff der »Lebensform« nicht nur als einen öffentlichen und sozial, sondern auch historisch verstandenen Bedeutungszusammenhang unserer Begriffe, insofern »[y]ou cannot have a one-off form of life isolated in time; it depends on patterns of variation, and repetition, on certain regularities. Forms of life are inherited« (90). Darin sieht Beckwith nicht nur eine radikale Ausweitung des Bedeutungszusammenhangs über den Text, die Sprache selbst hinaus, vielmehr meint sie an John L. Austin, Stanley Cavell und Sandra Laugier anknüpfend, dass dies eine Revision sprachlicher ›Agency‹ impliziere, die anders als jüngeren Ansätzen der Literaturgeschichte zufolge eben nicht dem Text oder der Sprache allein eignet, sondern den jeweiligen Sprecher*innen im und durch den Sprachgebrauch – seien es Autor*innen, literarische Charaktere oder Leser*innen (vgl. 92f.). Bedeutung als ein solch lebender, inter-subjektiver Sprachgebrauch könne jedoch nur retrospektiv spezifiziert und beschrieben werden, daher hätte Wittgensteins, aber auch Austins Philosophie der gewöhnlichen Sprache auch insofern eine ›geschichtliche‹ Komponente, als dass sie die philosophische Tätigkeit als eine »art of memory« sähen (vgl. 93). Beim Zusammentragen der Erinnerungen an den Alltagsgebrauch hebt Beckwith im Folgenden die Rolle historischer Wörterbücher, wie das Oxford English Dictionary (OED) hervor, sowie im besonderen William Empsons historische, gebrauchsorientierte und nicht zuletzt unterhaltsame Ergänzungen daran, in denen Beckwith eine Nähe zu Wittgensteins Sprachphilosophie sieht. (Wohl ungewollt unterhaltsam und retrospektiv war Beckwiths Erläuterung des Akronyms LOL als »lots of love«, die einen genaueren Blick ins OED ratsam erscheinen lässt, vgl. 95.) Insgesamt kann Beckwiths Beitrag somit zwar einige interessante Züge von Wittgensteins Philosophie für die Literaturgeschichte fruchtbar machen. Aus einer Wittgenstein’schen Sicht wird jedoch übergangen, dass dessen »Zusammentragen von Erinnerungen« an alltägliche Wortverwendungsweisen keinen Selbstzweck darstellt, sondern im Zusammenhang der philosophischen Probleme mit diesen Wörtern und Begriffen gesehen werden muss: Es geht ihm eben nicht um die Gebrauchsgeschichte, sondern um die Gebrauchslogik von Wörtern, das, was Wittgenstein in seinem Spätwerk als ›Grammatik‹ bezeichnet hat. So kann sich der im Beitrag inhaltlich zentrale Übergang von Wittgensteins Philosophie zum literaturhistorischen Teil auch nicht eigentlich auf Argumente stützen, sondern hängt hier eher lose, rhetorisch-assoziativ an Wittgensteins Metapher der Sprache als alter Stadt (und das OED als eine mögliche Karte dieser Stadt, vgl. 94f.). So angenehm und unterhaltsam der Beitrag zu lesen ist, erweckt er zuweilen eher den Eindruck einer Collage verschiedener Gedankengänge zum gleich zu Beginn zitierten Apell Frederic Jamesons »Always historize!« (vgl. 82).

Nach diesen Beiträgen zu den verschiedenen Weisen, in denen Wittgensteins Philosophie Eingang in die Literatur und Literaturwissenschaft gefunden hat (oder finden sollte), gehen die Beiträge thematisch fließend in Diskussionen unterschiedlicher philosophischer Aspekte der Literatur und Literaturwissenschaft über.

Espen Hammer geht in seinem Beitrag »Wittgenstein and the Prospects for a Contemporary Literary Humanism« von Rita Felskis »postkritischem Lesen« aus, »which aims to return the text to the reader as a repository of meanings to be reflected upon, emotionally moved by, and imaginatively recreated« und die als humanistische Gegenkonzeption zu der von Paul Ricœur sogenannten und in der Literaturwissenschaft vorherrschenden »Hermeneutik des Verdachts« auftritt (105). Hammer möchte dabei zeigen, dass dieser Gegensatz zwischen ›Verdacht‹ und ›Humanismus‹ zu einfach ist und bemüht einige von Wittgensteins Überlegungen zu ästhetischen Urteilen und Aspektsehen (bzw. ›Sehen als‹ und sekundärer Bedeutung), um schließlich mit Edward Said für einen literarischen Humanismus zu optieren, der »not only argues for the equal legitimacy of intratextual and extratextual study, but also believes that the two complement each other« (123). Indem Hammer Wittgensteins Überlegungen hier nicht nur gleichsam vermittelnd in die Mitte einer literaturwissenschaftlichen Debatte setzt, sondern dabei immer wieder auch in Bezug zu Adornos und Kants ästhetischen Ansätzen setzt, wird hier besonders deutlich, inwiefern Wittgensteins Philosophie als eine Brücke zwischen der analytischen Philosophie und der kontinentalphilosophisch beeinflussten Literaturwissenschaft gesehen werden kann – auch wenn dies der Wittgenstein-Lektüre freilich eine gewisse Flexibilität abverlangt.

Magdalena Ostas’ Beitrag »Storied Thoughts – Wittgenstein and the Reaches of Fiction« ist der Frage gewidmet, inwiefern Wittgenstein fiktionale Formen bzw. Geschichten in den Philosophischen Untersuchungen als Methode für seine philosophischen Untersuchungen verwendet. Anders als etwa Platons oder Nietzsches fiktionale Erzählungen funktionierten Wittgensteins erfundene Sprachspiele und Gesellschaften weniger als Analogien, die über sich hinaus eine bestimmte, z. B. metaphysische Einsicht vermitteln wollen, sondern arbeiteten in die entgegengesetzte Richtung, indem sie uns auffordern »to recognize ourselves (or to say that we don’t recognize ourselves) in a world given to us for consideration as one we might precisely recognize – but a world that is nonetheless, explicitly fictional« (128). Damit konfrontiere Wittgenstein die propositionalen Grenzen einer klassischeren philosophischen Argumentation mit einer Form fiktionaler Exploration, die Ähnlichkeiten zu literarischen, kinematischen und anderen künstlerischen Erzählformen aufweist und so die grammatischen Möglichkeiten erforscht, »that emanate from a present-tense intertwine of self and world« (139). Dies veranschaulicht Ostas schließlich anhand von Virginia Woolfs Mrs. Dalloway und Jane Austens Persuasion, wobei sie hervorhebt, dass das, was hier jeweils als Detail oder Besonderes im Gefüge des Alltagslebens zählt, gerade in der Vermeidung einer traditionellen Handlung bestehe. Während Wittgensteins fiktive Szenarien schon andernorts häufiger im Hinblick auf ihre methodische Rolle untersucht worden sind und Ostas Ausführungen zur Regelfolgenthematik philosophisch etwas holprig anmuten, bieten ihre nuancierten und feinsinnigen Betrachtungen sowohl der fiktiven Szenarien bei Wittgenstein (z.B. PU, 2) als auch ihre Reflexionen zu Woolfs und Austens Romanen interessante Aufschlüsse über die Art und Weise, wie hier bestimmte Erzählformen nicht nur ein neues Licht auf philosophische Fragen werfen, sondern neue Formen philosophischen Verstehens ermöglichen.

Von fiktionalen Geschichten geht der Band mit Hannah Vandegrift Eldriges Beitrag »Wittgenstein and Lyric« zur Poesie über, genauer zu der Frage, was Lyrik ist bzw. als solche auszeichnet und wie mit dieser Frage in einer Wittgenstein’schen Weise umzugehen ist. »Lyrik« als Substantiv und Kategorie sei dabei eine moderne Erfindung gegenüber dem älteren Adjektiv »lyrisch« und werfe in der Lyriktheorie daher Fragen nach der ›Theoretisierbarkeit‹, nach Definition, Wesen und Existenz, dieses Genres auf. Anstatt nun diese Fragen ähnlich wie Morris Weitz in Bezug auf die Kunst mittels Wittgensteins Begriff der »Familienähnlichkeit« aufzulösen, wählt Vandegrift Eldridge eine subtilere Herangehensweise, die von unserem tätigen, lebendigen Umgang mit Poesie, statt dem abstrakten Begriff »Lyrik« ausgeht: Die Frage, was wir eigentlich mit Poesie tun, führe zu der Verbindung von Sprache und Leben bzw. der Lebensform, aus der die jeweilige Poesie hervorgehe, und damit auch zu gehaltvolleren und sozusagen ›naheliegenderen‹ Antworten darauf, was Lyrik (für uns) ausmache (vgl. 158–160). Dies veranschaulicht Vandegrift Eldridge am Ende ihres Beitrags anhand von Paul Celans Gedicht Fadensonnen, das gleichzeitig innerhalb und außerhalb lyrischer Traditionen (und damit Kategorisierungen) stehend, »the trauma of history in language« zeige (166). Ohne die Lyriktheorie insgesamt verwerfen zu wollen, meint Vandegrift Eldridge: »The questions and suggestions Wittgenstein raises about our lives with language, I argue, do a better job than virtually anything else on offer in explaining how poetry, as language, does what it does, in particular with regard to subjectivity, world-orientation, and the revivifying of language in moments of alienation and oppression« (158). Die Verbindung von ›Wittgenstein and Literary Studies‹ scheint mir in diesem Beitrag besonders gelungen, insofern Wittgenstein hier nicht als Fremdkörper in einer eigentlich literaturwissenschaftlichen Untersuchung auftaucht, sondern vielmehr ein philosophisches Problem der Literaturtheorie in einem Wittgenstein’schen Geist durchdacht wird, sodass hier beide Seiten der Konjunktion organisch miteinander verbunden sind.

Der nächste Beitrag »Life, Logic, Style – On Late Wittgensteinn« von Henry W. Pickford wendet sich der Verbindung von Logik und Stil in den Philosophischen Untersuchungen zu. Dabei stellt er zunächst heraus, dass Wittgenstein entgegen Cavell’schen Auffassungen auch in seinem Spätwerk Philosophie als Logik gesehen habe, seine Auffassung vom Logischen jedoch auf Lebensformen und das Leben ausgeweitet habe. Unter Bezugnahme auf Philippa Foot und Michael Thompson zeigt Pickford, dass die logische Form von generischen Sätzen über lebende Organismen logische Eigenschaften, wie Allgemeinheit, Einheit und Notwendigkeit und deren Beziehung zu Zeitlichkeit und Partikularität, aufwiesen, die wiederum einige von Wittgenstein beschriebenen Phänomene erhellen könnten, wie z. B., dass die Allgemeinheit von Familienähnlichkeitsbegriffen Ausnahmen zulasse, und welche Rolle Normativität und Übereinstimmung (in der Sprache, in Lebensformen, in Urteilen) bei solchen generischen Sätzen spiele. Darauf aufbauend arbeitet Pickford abschließend heraus, dass diese logischen Eigenschaften auch in Wittgensteins Begriff des ›Stils‹ zu finden seien, insofern Wittgenstein meint: »Stil ist der Ausdruck einer allgemein menschlichen Notwendigkeit« (Ms 183, 28; vgl. 183). Beschreibungen eines Stils (wie auch eines Gesichtsausdrucks) beinhalteten somit ebenso wie generische Sätze Vagheit, Grenzfälle, Abweichungen und Familienähnlichkeiten bei der Anwendung von Prädikaten, ohne der Beschreibung dadurch Abbruch zu tun. In einem weiteren Kontext, so meint Pickford, könne ›Stil‹ bei Wittgenstein somit auch als eine Metapher für die logische Struktur, z. B. eine gewisse Einheit und Notwendigkeit, unserer Alltagstätigkeiten und -phänomene gesehen werden: »While there is no set of necessary and sufficient features constitutive of a given style or facial expression, there is a unity and the attitude that a certain kind of necessity attends such unity, making it the unity it is, and making it the appropriate unity for the life-activities, in a wider sense, in which it lives.« (186). Damit ist Pickfords Beitrag mit Abstand die gehaltvollste Beschäftigung mit Wittgenstein und zeichnet sich dabei vor allem auch durch eine besonders gründliche Auseinandersetzung mit Wittgensteins Schriften und Nachlass aus. Während seine Ausgangsthese, dass Wittgenstein auch in seinem Spätwerk Philosophie noch als Logik (im weitesten Sinne) betrachtete, vor dem Hintergrund Nicht-Cavell’scher Lesarten, die neben den Philosophischen Untersuchungen z.B. auch die Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik oder die Schriften zur Philosophie der Psychologie berücksichtigen, wenig überraschend daherkommt, werden Leser*innen aus der Wittgenstein Forschung wie aus der Literaturwissenschaft dank seiner gründlichen Auseinandersetzung mit Text und Thematik sowie insbesondere seine Überlegungen zum Zusammenhang von Logik, Leben und Stil viele wertvolle und interessante Einsichten in diesem Beitrag finden.

Den Schluss des Bandes bildet Ben Wares Beitrag »Wittgenstein’s Apocalyptic Subjectivity«, in dem Wittgenstein als Vertreter eines ›philosophischen Modernismus‹ portraitiert wird, und zwar indem Wittgensteins private Aufzeichnungen zur Atombombe in Beziehung zu anderen modernen Denker*innen, wie Gertrude Stein, Günther Anders und Theodor W. Adorno gesetzt werden. Obgleich sich Wittgensteins Bemerkungen zur Atombombe in seinen privaten Tagebüchern befänden, so meint Ware, wiesen diese eine Verbindung zu seiner Spätphilosophie in den Philosophischen Untersuchungen auf, die nicht nur sprachlich, sondern auch bzgl. der darin vertretenen Auffassung von Philosophie als »apokalyptisch« bezeichnet werden könnten. Dabei diskutiert Ware zunächst kritisch die von ihm sog. ›Standard-Ansicht‹, nach der das Verhältnis von Wittgensteins Philosophie zur Moderne vor allem in ästhetischer Hinsicht begriffen werde, sowie die Haltungen und Beziehungen einiger moderner Kontinentalphilosophen (Deleuze, Adorno, Badiou) Wittgenstein gegenüber. Entgegen diesen Auffassungen entwickelt Ware auf Grundlage von Clement Greenbergs Begriff der Moderne als eine mit Kant beginnende radikale Selbst-Kritik und selbst-referentielle Autonomiebewegung seine Konzeption einer ›modernistischen Philosophie‹, die eine zeitliche Komponente (Neuheit und Andersheit), eine methodologische Komponente (Negation und Destruktion) sowie eine formale Komponente (experimentelle Ausdrucksformen) beinhaltete (vgl. 201f.). Die modernistische Philosophie sei durch und durch apokalyptisch, insofern sie vor allem auch mit dem ›Ende als solchem‹ befasst sei: »One only need consider the vast number of things that it pronounces to be dead and buried: God, man, meaning, metaphysics, the subject, history, nature, art, and of course, philosophy itself« (203). Eine solch apokalyptisch-modernistische Denkweise findet Ware sowohl in Wittgensteins Bemerkungen zur Atombombe – im Gegensatz z.B. zu Steins desinteressierter Haltung der Atombombe gegenüber (vgl. 206) – als auch in seiner Metaphilosophie: Wittgenstein »strives to bring to an end not philosophy as such, but rather philosophy as a discourse of the end – that is, philosophy which takes as its goal ›crystalline purity‹ (107), ›perfect order‹ (98), ›complete exactness‹ (91); philosophy which serves to prescribe and insist that ›this is how things must be‹« (212). Durch seine Gegenüberstellung von Wittgenstein und anderen modernen Denker*innen modelliert Ware eine weniger bekannte Facette von Wittgenstein als Denker – oder denkenden Menschen – des 20. Jahrhunderts. Ob diese Facette auch die Einordnung des Philosophen Wittgenstein in den von Ware skizzierten Geist des Modernismus erlaubt, kann zumindest hinterfragt werden, zumal Wittgensteins Einordnung in jedweden ›Ismus‹ eine schwierige Angelegenheit ist. So ist Wittgensteins Kritik an den oben erwähnten philosophischen Zielen wohl vor allem als Kritik an seinem Frühwerk, dem Tractatus, zu verstehen, der seinerseits in vielerlei, und nicht nur ästhetischer, Hinsicht als ›modernes‹ Werk im Greenberg’schen Sinne verstanden werden kann; gleichzeitig weist gerade Wittgensteins Spätphilosophie (die später entstandenen Teile der PU sowie die danach entstandenen Schriften) z.B. viel weniger ›destruktive‹ Züge auf als die in den frühen 1930er Jahren entstandenen Bemerkungen, so dass man bei solchen Einordnungen in ›Ismen‹ zumindest zwischen verschiedenen Schaffensphasen Wittgensteins differenzieren müsste.

Der in diesem Band unternommene Versuch, Wittgenstein mit den Literaturwissenschaften zu verbinden, zeigt somit einerseits, dass solche Verbindungen immer eine gewisse Flexibilität beider Seiten erfordern und dabei auch zu Reibungen führen können – andererseits sind Reibungen und Dehnungen nichts per se Negatives, sondern oft auch die Voraussetzung für eine (weitere) Bewegung. Damit bietet der Band sowohl durch die einzelnen Beiträge als auch vor allem in der Kompilation viele interessante, lehrreiche und weiterführende Möglichkeiten, Wittgenstein neu oder anders zu lesen und literaturwissenschaftliche Themen und Probleme aus einer anderen Perspektive zu beleuchten.

2024-08-07

JLTonline ISSN 1862-8990

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