Elisa Ronzheimer
Ohrenfällig: Grundlegungen zur Methodik und Geschichte des lyrischen Sprachklangs
Claudia Hillebrandt, Mit den Ohren lesen. Zur akustischen Dimension schriftfixierter Lyrik. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 2022. 394 S. [Preis: EUR 89,00]. ISBN: 978-3-465-03399-8.
Die Untersuchung historischer Klangkulturen hat sich mit den Sound Studies seit den 2000er-Jahren als ein eigenständiges, interdisziplinäres Forschungsfeld etabliert, dessen Impulse auch in der Literaturwissenschaft – etwa in kulturgeschichtlichen, medienpoetischen oder performanzästhetischen Arbeiten[1] – Wirksamkeit entfaltet haben. Doch fehlt es bislang an methodischen Grundlagen zur Beschreibung und Analyse der klanglichen Dimension von Literatur. Diesem Desiderat widmet sich Claudia Hillebrandt in ihrer Studie Mit den Ohren lesen. Zur akustischen Dimension schriftfixierter Lyrik (2022). Das Ziel der Arbeit ist ein zweifaches: Zum einen geht es ihr in systematischer Hinsicht um die Entwicklung eines methodischen Instrumentariums zur »differenzierten Beschreibung von Sprachklangelementen« (15) in lyrischen Gedichten, das der »interpretationspraktischen Unsicherheit im Umgang mit akustischen Aspekten schriftlich fixierter lyrischer Gebilde« (26) abhelfen soll. Zum anderen verfolgt die Verfasserin ein literaturhistorisches Interesse, insofern sie mit der Anwendung ihrer Methode in drei historischen Fallstudien zu Johann Klaj, Friedrich Gottlieb Klopstock und Ludwig Tieck Grundlagen für eine »Sprachklanggeschichte der deutschsprachigen Lyrik« (341) erarbeitet. Entsprechend gliedert sich Hillebrandts Studie in zwei Teile, deren erster die Methode systematisch und theoretisch darlegt, bevor die Anwendung im zweiten, historischen Teil anhand exemplarischer Analysen erfolgt.
Dabei gilt Hillebrandts Aufmerksamkeit im Besonderen der Frage, wie »akustische Faktur und Semantik von Texten allgemein aufeinander bezogen sein können und welche Typen von Relationen für Lyrikanalysen besonders relevant sind« (26), anders gesagt, wendet sie sich dem methodischen Problem zu, wie Rezipient:innen von Lyrik »mit den Ohren lesen«, d. h. schriftbasierte Lyrik multimodal rezipieren. Mit ihrem systematischen Zugriff ordnet Hillebrandt die eigene Arbeit dem Forschungsfeld der Lyrikologie zu (36), das – in Anlehnung etwa an die Narratologie – in jüngerer Zeit unterschiedliche Spielarten einer methodisch reflektierten Lyrikforschung entwickelt hat.[2] Neben Impulsen aus der Lyrikologie macht Hillebrandt außerdem interdisziplinäre Anregungen aus der analytischen Ästhetik, der Hör- und Gestaltpsychologie, der Psycholinguistik und der kulturhistorischen Klangwissenschaft sowie aus Metrik und Rhetorik produktiv.
1.
Im systematischen Teil erklärt Hillebrandt zunächst in Auseinandersetzung mit neueren Lyriktheorien des deutschsprachigen Raums den der Arbeit zugrunde gelegten Lyrikbegriff. Ihre Erörterung der Ansätze von Heinz Schlaffer, Karl Eibl, Klaus W. Hempfer und Rüdiger Zymner zeichnet sich durch Ruhe, begriffliche Präzision und theoretische Besonnenheit aus, Eigenschaften, die den Stil der Arbeit insgesamt prägen und ihren anspruchsvollen Ausführungen eine bemerkenswerte Zugänglichkeit und Luzidität verleihen. Die von Hillebrandt entfaltete Lyrikdefinition wirkt nach den diskutierten funktionsgeschichtlichen (Schlaffer), evolutionsbiologischen (Eibl), prototypensemantischen (Hempfer) und wahrnehmungspsychologisch-sprachphilosophischen (Zymner) Ansätzen (37) fast etwas unterbestimmt, hat aber den Vorteil, ein breites Spektrum an historischen Erscheinungsformen von Lyrik abzudecken und der Vielfalt ihrer medialen Vermittlung und Rezeption Rechnung zu tragen: In Anlehnung an Dieter Burdorf und Anna Christina Ribeiro schlägt Hillebrandt einen formalästhetischen Lyrikbegriff vor, der allerdings nicht das enge Kriterium der Versform zugrunde legt, sondern das Vorhandensein von »sprachlichen Wiederholungsstrukturen« (53).[3] Komplementiert wird die formalästhetische Bestimmung durch eine intentionalistische, »die auch solche Gebilde hinzurechnet, die zwar keine Text- bzw. Versform aufweisen, durch ihre paratextuelle Gestaltung oder durch andere Kontexte aber als zur Gattung ›Lyrik‹ zugehörig erkennbar sind.« (53) Dieser »formtheoretisch-intentionalistische Lyrikbegriff« (52) wird anschließend, im Rückgriff auf Peter Lamarque, in eine soziologisch-praxeologische Perspektive gerückt, wobei die Dimensionierung von Lyrik als »sozialer Praxis« im Verhältnis zu den fundierten analytischen und ästhetiktheoretischen Ausführungen insgesamt etwas unterbeleuchtet bleibt (55–58).
Im Folgenden wendet sich Hillebrandt der Frage zu, wie eine sprachklangsensible Lyrikanalyse das Objekt ›Gedicht‹ anhand von dessen multimedialer Überlieferung und multimodaler Rezeption ontologisch fassen könne: »Ist das Gedicht das Geschriebene, das Gehörte oder etwas anderes?« (64) In Anlehnung an Ribeiro bestimmt sie das lyrische Objekt als ein abstraktes Artefakt, das in einer von vier Instantiierungsformen – als »Deklamation«, »Ton-Aufnahme«, »Inskription mit Klangvorstellung« oder reine »Inskription« (71) – erscheint und folglich durch reines Hören, reines Sehen oder eine Mischung aus Sehen und Hören rezipiert werden könne (dies gilt vor allem für die »Inskriptionen mit Klangvorstellung«, die im Zentrum der Studie stehen). Eine historische Lyrikologie, wie Hillebrandt sie mit ihrer Arbeit ins Auge fasst, muss freilich in den allermeisten Fällen von schriftbasierten Instantiierungen ausgehen, da primär aural rezipierte Instantiierungsformen wie die Deklamation vor dem 20. Jahrhundert nicht überliefert werden konnten. Die Verfasserin argumentiert, dass die lautliche Form von Gedichten auch auf Grundlage ihrer schriftlichen Fixierung rekonstruiert werden könne (75), wobei es sich freilich um abstrakte Klangrekonstruktionen handelt (71), die – anders etwa als die historische Aufführungspraxis in der Musik – keinen Anspruch darauf erheben, die ›authentische‹ akustische Performanz der historischen Artefakte erfassen zu können (164).
Um zu analysieren, wie die schriftlich fixierten Sprachklänge beim Lesen hörbar gemacht werden und in die Interpretation von Gedichten einfließen, unterscheidet Hillebrandt zwischen zwei Ebenen des Zugriffs auf die lyrische Klangdimension. Mit der »Wirkungsdisposition« bezeichnet sie die möglichen Hörwahrnehmungen, die Gedichte in hörphysiologischer und gestaltpsychologischer Hinsicht erzeugen können. Unter der »Ausdrucksqualität« fasst sie die Zuschreibung von Bedeutungen zu den Hörwahrnehmungen. Für die Untersuchung der klanglichen Wirkungsdimension lyrischer Gedichte arbeitet Hillebrandt im Rückgriff auf die wahrnehmungspsychologische Forschung zentrale Prinzipien der auditiven Gestaltbildung heraus. Dazu zählt sie die relative Nähe von auditiven Stimuli, ihre Ähnlichkeit, Kontinuität, Organisation, die Kontextabhängigkeit ihrer Wahrnehmung, ihre Zugehörigkeit zu Klangquellen, ihre Durchsetzungsfähigkeit in einem Wahrnehmungsfeld und die Automatizität von Wahrnehmungsprozessen (97–99). Aufbauend auf diese Prinzipien stellt sie Überlegungen dazu an, welche formalen Elemente lyrischer Gedichte »auditiv signifikant« sind, d. h. den wahrnehmungspsychologischen Gesetzen auditiver Gestaltbildung entsprechen (107–120). Um auf dieser Basis das Verhältnis von Klang und Bedeutung interpretationstheoretisch zu konturieren, adaptiert Hillebrandt eine Typologie von Klang-Bedeutungs-Relationen des Literaturtheoretikers Benjamin Hrushovksi, der zwischen neutralen, onomatopoetischen/mimetischen, expressiven und fokussierenden Klangmustern unterscheidet (147–148). Dabei betont sie, im Anschluss an Nelson Goodman, dass die Klangformen, denen bestimmte Ausdruckseigenschaften zugeschrieben werden, diese nicht tatsächlich »besitzen«, sondern nur im übertragenen Sinne darüber verfügen (130). Dies relativiere die in der Lyrikforschung verbreitete »Lautikonismusthese«, wonach Sprachlauten unabhängig von den wissens- und kulturgeschichtlichen Kontexten ihrer Verwendung bestimmte Ausdrucksqualitäten zugemessen werden (150–157).
2.
Hillebrandts sprachklanggeschichtliche Untersuchung beginnt mit einem Kapitel zu Johann Klaj und einer Rekonstruktion der »Wirkungsdisposition« des Sprachklangs von dessen Gedicht »Hellgläntzendes Silber«. Hier ermittelt die Verfasserin die akustischen Gestalteinschnitte des Textes, arbeitet deren Betonungsstruktur heraus und untersucht sie auf auffällige Vokalmuster und andere »subsemantische Gestaltbildungen«, also Binnenreime oder rhetorische Figuren wie Assonanzen, Apostrophe, Alliterationen. Auch weitere »auditiv signifikante Aspekte« wie die dialektale Färbung werden beleuchtet (185–199). Die Analyse zeigt, dass die sprachklangliche Gestaltung von Klajs Gedicht eine »unmittelbare auditive Signifikanz« (244) aufweist, d. h. aus hörpsychologischer Sicht leicht rezipierbar ist – oder »ohrenfällig«, wie Hillebrandt es an anderer Stelle nennt (z. B. 189).
Um die klanglichen Ausdrucksqualitäten von Klajs Lyrik zu bestimmen, rekonstruiert Hillebrandt den sozialgeschichtlichen Kontext und die »hörrelevanten Praxiskonventionen«, die die Abfassung und den Vortrag des im Folgenden analysierten Redeactus »Aufferstehung Christi« prägten. Dabei hebt sie hervor, dass der Redeactus für eine primär auditive Rezeptionssituation konzipiert wurde (202–217). Die onomatopoetischen und expressiven Klang-Bedeutungs-Relationen, die Hillebrandt in ihrer Analyse der Ausdrucksqualitäten von »Aufferstehung Christi« herausstellt, erweisen sich in der anschließenden historischen Kontextualisierung als poetische Umsetzung des sprachtheoretischen und ausdruckspoetischen Programms der literarischen Gruppe der Nürnberger Pegnitz-Schäfer (217–243).
In der historischen Fallstudie zu Friedrich Gottlieb Klopstocks Lyrik befasst sich Hillebrandt mit dem Problem der »Divergenz von Verstehensintention und akustischer Faktur« (247), d. h. mit dem Widerspruch, dass Klopstocks Gedichte inhaltlich wie auch hinsichtlich ihrer akustischen Gestaltbildung schwer zu verstehen sind, wenngleich ihre sprachklangliche Komposition mit dem Ziel eines gesteigerten Rezeptionserlebnisses konzipiert wurde. In ihrer Rekonstruktion der »Wirkungsdispositionen« von Klopstocks Ode »Siona« zeigt Hillebrandt, dass deren metrische Form zwar »auditive Signifikanz« aufweist, diese jedoch konterkariert wird durch die komplexe syntaktische Struktur, die einer reibungslosen auditiven Gestaltbildung entgegensteht. Hillebrandt stellt so mit Blick auf die »akustische Faktur« und inhaltliche Konzeption der Ode fest: »Ein unmittelbar verstehendes Hören von Siona in ihrer gesamten Komplexität kann damit auch für zeitgenössische Hörende durchaus als kaum möglich eingeschätzt werden und der Ode lässt sich tatsächlich im Fall der einmaligen und unmittelbaren auditiven Rezeption eine desemantisierende Tendenz zuschreiben.« (265–266) Den Widerspruch zwischen intendierter Rezeption und komplexer akustischer Gestalt löst Hillebrandt im Folgenden durch eine medien- und rezeptionsgeschichtliche Einordnung von Klopstocks Lyrik auf. Dabei weist sie darauf hin, dass die Oden und Hymnen vielfach an einen engen Kreis aus freundschaftlich verbundenen Rezipienten adressiert waren, die zum Zeitpunkt der primär auditiven Rezeptionssituation bei der Deklamation der Gedichte in den meisten Fällen bereits durch intensive und stille Lektüre mit den Texten vertraut waren. Die sprachklangliche Gestaltung von Klopstocks Lyrik zeugt damit, so Hillebrandt, von einer medien- und rezeptionsgeschichtlichen Diversifizierung von Lektürepraktiken, die auf eine wiederholte und multimodale Rezeption der Gedichte hinauslaufe (294–295).
Im Kapitel zu Ludwig Tieck betrachtet Hillebrandt das romantische Paradigma der ›Wortmusik‹ aus der Perspektive der lyrischen Sprachklanganalyse. Dafür arbeitet sie die heterogenen Musikauffassungen in Tiecks (und Wilhelm Heinrich Wackenroders) frühromantischer Ästhetik heraus, die zwischen einer Vorstellung von Musik als zweckfreiem künstlerischem Spiel und kommunikativer Ausdrucksästhetik oszillieren (303–311). In der Analyse der »Wirkungsdispositionen« und »Ausdrucksqualitäten« von Tiecks Gedicht »Ruhe, Süßliebchen im Schatten« aus der Liebesgeschichte der schönen Magelone zeigt die Verfasserin, dass desemantisierende und expressive Funktionen des Sprachklangs bei Tieck einander ergänzen (332). Hillebrandts Untersuchung der Einbettung von Tiecks kontextgebundener Lyrik in Prosaerzählungen verdeutlicht, dass deren wahrgenommene ›Musikähnlichkeit‹ nicht nur durch »Verfahren der Sprachklangmaximierung«, darunter etwa die reim-metrische Versbindung, erzeugt wird, sondern vor allem auch durch die jeweilige kontextuelle Rahmung der Gedichte, die ihre scheinbare Musikalität gezielt in Szene setzt (339). Das ästhetische Paradigma der ›Wortmusik‹ erweist sich so in Hillebrandts Analyse nur sekundär als ein durch die »akustische Faktur« erzeugtes und in erster Linie als Produkt einer Schriftkultur, die die »Praxiskonvention der stillen Lektüre mit Klangvorstellung« begünstigt (339). Das schlägt sich nicht zuletzt in der erhöhten Relevanz der Schriftbildlichkeit für die Rezeption der Texte nieder, die bei Tiecks Gedichten dazu diene, Unregelmäßigkeiten der metrischen Form zu kaschieren (323). Die durch Einrückungen und Absätze erleichterte visuelle Gestaltbildung kompensiere damit die metrische Uneinheitlichkeit des Gedichts, dessen Betonungsmuster sich nicht klar von dem des Prosatextes unterscheiden lasse, in den es eingebettet ist.
3.
In einem kurzen, die Arbeit abrundenden Ausblick auf Forschungsdesiderate für eine Sprachklanggeschichte der deutschsprachigen Lyrik betont die Verfasserin, dass es sich bei ihrer schlaglichtartigen Beleuchtung dreier Stationen dieser Geschichte lediglich um »Vorüberlegungen« handelt (341–352), die weitere Untersuchungen anregen sollen. Die Betrachtungen dazu, welche Geschichte(n) eine klangsensible Lyrikhistoriografie erzählen könnte, fallen entsprechend recht kurz aus und bleiben mit der abschließenden Feststellung der freilich unbestrittenen Relevanz der klanglichen Dimension für die Gattung Lyrik in der Moderne (351) etwas hinter dem literaturhistoriografischem Innovationspotenzial der Arbeit zurück. Wünschenswert wäre hier eine stärkere Zuspitzung der originellen literaturhistorischen Erkenntnisse gewesen, an denen es der Studie mitnichten fehlt. Dazu gehört etwa die Geschichte der Verflechtung zwischen lyrischem Sprachklang und den sich wandelnden Lektüre- bzw. Rezeptionspraktiken. In der Zusammenstellung der drei Fallstudien deutet sich an, dass die unmittelbare ›Ohrenfälligkeit‹ der Gedichte mit der zunehmenden Durchsetzung einer individuellen und stillen Lektürepraxis abnimmt bzw. dass die klangliche Dimension im Zusammenspiel mit den sich im 19. Jahrhundert verbreitenden crossmodalen – gleichermaßen auditiven und visuellen – Rezeptionsformen, weniger durch den Sprachklang als durch die Schriftbildlichkeit gestaltet wird. Ein weiterer literaturgeschichtlicher ›roter Faden‹, der in der Zusammenschau der drei historischen Kapitel und des theoretisch-systematischen Grundlagenteils hervortritt, ist die Frage, ob die Akzentuierung des Sprachklangs desemantisierende Effekte erzeugt, die einer semantischen Interpretation der Texte entgegenwirken. Hillebrandt beleuchtet diese Leitfrage bereits in einem kurzen Abschnitt des ersten Teils (125–128), in dem sie zu dem Schluss gelangt, dass »Desemantisierungsthesen [...] immer im Kontext der historischen Instantiierungsbedingungen begründet werden« müssen (128). Diese Forderung löst sie in den Autorenstudien ein und fördert dabei sehr erhellende Einsichten zutage. Mit Blick auf Johann Klaj zeigt sie, dass sich desemantisierende Effekte kaum plausibilisieren lassen (193), während Klopstocks Hymnen- und Odendichtung hingegen Tendenzen zur Desemantisierung aufweist (268). In Tiecks Lyrik, von der desemantisierende Effekte wohl am ehesten zu erwarten wären, werden diese weniger performativ durch sprachklangliche Mittel erzeugt als dadurch, dass sie ein Konzept von Musik als einer semantisch nicht zu erschließenden Kunstform diskursiv auf der Gegenstandsebene behandelt (338). So erzählt Hillebrandts Sprachklanggeschichte von verschiedenen Konzeptionen und dichterischen Realisationen der Bedeutungshaftigkeit von (lyrischem) Sprachklang und vom historischen Wandel der Klang-Bedeutungs-Relationen.
Nicht zuletzt erzeugt die von ihr entwickelte Methode selbst interessante desemantisierende Effekte. Hillebrandts ›formalistisches‹ Verfahren setzt konsequent auf der Ebene des Sprachklangs an und blendet die in den Gedichten behandelten Gegenstände und Inhalte in einem ersten Schritt dezidiert aus (z.B. 184). Meist wird der Bezug des Klangs zur Semantik in einem zweiten Schritt über die eingehenden sozial-, medien- und rezeptionsgeschichtlichen Kontextualisierungen der Gedichte eingeholt oder in der Rekonstruktion der »Ausdrucksqualitäten« mittelbar thematisiert. In diesem Sinne ist es konsequent, dass Hillebrandts Arbeit mit Überlegungen zur Forschungsdiskussion um Klopstocks rezeptionstheoretische Frage beginnt (16–20), ob »die Vorstellungen, welche die Worte, ihrem Sinne nach, in uns hervorbringen, nicht völlig so schnell, als die, welche durch die Worte, ihrer Bewegung nach, entstehn«[4]. Das »Primat der Wortbewegung« (16), das ausgehend von Klopstock erörtert wird, misst Hillebrandt in ihrer Arbeit methodisch dem Sprachklang bei. Leser:innen und Lyrikforscher:innen erhalten dadurch ein konzeptuelles und methodisches Instrumentarium, das die Effekte der akustischen Dimension und ihre hermeneutische Operationalisierung zu explizieren erlaubt. Mitunter regt sich bei der wahrnehmungspsychologisch ungeschulten Leserin die Frage, ob Rezipient:innen auf diese Weise ›mit den Ohren lesen‹, d. h. ob das Verstehen eines Gedichts der abstrakten Klangrekonstruktion beim Lesen nachgeordnet werden kann bzw. wie eine Lyrikinterpretation vorgehen könnte, die Sprachklang- und Bedeutungsebene nicht hierarchisiert. Diese Frage zu klären ist freilich nicht das Anliegen von Hillebrandts Buch, dem das Verdienst zukommt, ein schlüssiges und anwendungsnahes Konzept für die Beschreibung der »akustischen Faktur« von lyrischen Gedichten entwickelt zu haben, dessen konsequente Fokussierung der formal-akustischen Ebene methodisch sehr anregend ist.
Äußerst gewinnbringend ist auch die Art und Weise, in der Hillebrandt die mitunter sehr heterogenen Disziplinen und Ansätze – von der analytischen Ästhetik über die Wahrnehmungspsychologie bis hin zur Sozialgeschichte und historischen Praxeologie – in ihrer Studie miteinander ins Gespräch bringt. Die Syntheseleistung, die ihre Studie auf diese Weise vollzieht, zeugt von Mut zu intellektueller Offenheit bei gleichzeitiger methodischer Entschiedenheit. In der Vermittlung von so unterschiedlichen Theoretiker:innen wie etwa Nelson Goodman, Benjamin Hrushovski und Anna Christina Ribeiro und unter Einbezug der literaturhistorischen Forschung entwickelt Hillebrandt dabei eine ganz eigene Theoriesprache, deren Qualität darin besteht, auf der höchsten Abstraktionsebene und bei größter konzeptioneller Komplexität nie in die Idiosynkrasie zu kippen, sondern die dargelegte Terminologie auf eine Weise transparent und zugänglich zu machen, die die Leserinnen und Leser zu ihrem Gebrauch als methodisches Instrumentarium einlädt. Die Zugänglichkeit und Applikabilität der Konzepte fordern schließlich auch zur Revision des Anwendungsbereiches heraus: So stellt sich die Frage, inwiefern das wahrnehmungspsychologisch und ausdruckstheoretisch fundierte Verfahren auch jenseits der Gattung Lyrik zur Anwendung gebracht werden könnte. Dass Hillebrandt zur Entwicklung ihrer Methode und für die Vorüberlegungen einer Sprachklanggeschichte bei der Gattung Lyrik ansetzt, leuchtet unmittelbar ein. Sie reflektiert dabei, dass die »Fokussierung auf auditiv relevante Aspekte«, die sie als charakteristisches Gattungsmerkmal fasst, zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert historische Veränderungen durchläuft (170). Da aber auch in anderen literarischen Gattungen und Genres die sprachklangliche Ebene keinesfalls irrelevant ist, drängt sich zum Schluss der Studie die Frage auf, ob das von Hillebrandt dargelegte Verfahren ebenso in Bezug auf andere Gattungen fruchtbar gemacht werden könnte – zumal die Verfasserin in ihren exemplarischen Analysen ›Gattungshybride‹ wie Klajs Redeoratorien (209) oder am Beispiel Tiecks die intergenerischen Verflechtungen von Gedicht und Prosaerzählung behandelt. Diese abschließende Frage zeigt indes keine Beschränkung von Hillebrandts Ansatz auf, sondern im Gegenteil dessen transgenerisches Potenzial.
[1] Vgl. z.B. Marjorie Perloff/Craig Dworkin (Hg.), The Sound of Poetry/The Poetry of Sound, Chicago/London 2007; Britta Herrmann (Hg.), Dichtung für die Ohren. Literatur als tonale Kunst, Berlin 2015; Frieder von Ammon, Fülle des Lauts. Aufführung und Musik in der deutschsprachigen Lyrik seit 1945: Das Werk Ernst Jandls in seinen Kontexten, Stuttgart 2018; Tobias Wilke, Sound Writing: Experimental Modernism and the Poetics of Articulation, Chicago 2022. [zurück]
[2] Vgl. Claudia Hillebrandt/Sonja Klimek/Ralph Müller/Rüdiger Zymner (Hg.), Lyrikologie, 2 Bde., Berlin/Boston 2019. [zurück]
[3] Vgl. Dieter Burdorf, Einführung in die Gedichtanalyse, 3. Aufl., Stuttgart 2015; Anna Christina Ribeiro, Intending to Repeat: A Definition of Poetry, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 65/2 (2007), 189–201. [zurück]
[4] Friedrich Gottlieb Klopstock, Vom deutschen Hexameter, in: Ders., Gedanken über die Natur der Poesie, hg. v. Winfried Menninghaus, Frankfurt a.M. 1989, 60–156, hier 148. [zurück]
2024-08-07
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