Maike Neumann

Unzuverlässigkeit und ihre Geschwister

Matthias Aumüller, Unzuverlässiges Erzählen. Studien zur deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Berlin, Heidelberg: J.B. Metzler 2023. 563 S. [Preis: EUR 42,79]. ISBN: 9783662670460.

›Unzuverlässiges Erzählen‹ ist eines der meistdiskutierten Konzepte der internationalen Erzählforschung und hat jahrzehntelang Forschende zu vielfältigen und oft idiosynkratischen Begriffsbildungen, Reformulierungen und Neu-Konzeptionen angeregt. Mit Janina Jackes Untersuchung des Unzuverlässigkeitsbegriffs wurde 2018 eine Studie vorgelegt, die den Versuch einer konsensfähigen Standardisierung des gleichermaßen intuitionsgesättigten und vagen Unzuverlässigkeitsbegriffs unternimmt.[1] Der Bedarf an systematisch orientierten Konzeptualisierungen scheint befriedigt, doch fehlt angesichts der ungeheuren Unübersichtlichkeit der Theorie-Entwürfe immer noch eine handhabbare Terminologie für die Arbeit mit Erzähltexten. In seiner Untersuchung »Unzuverlässiges Erzählen. Studien zur deutschsprachigen Nachkriegsliteratur« macht Matthias Aumüller nun einen anwendungsorientierten Vorschlag für eine restriktive, schlanke Konzeption des Unzuverlässigkeitsbegriffs. Ziel ist es, eine Weiterentwicklung des textwissenschaftlichen Ansatzes unzuverlässigen Erzählens mit einer historischen Untersuchung der Formen und Funktionen des Phänomens in diachroner Perspektive zu verknüpfen. Angesichts des Überflusses an Theorien unzuverlässigen Erzählens stellt sich die Frage: Bietet Aumüllers Konzeption eine konsensfähige Explikation, die eine gerechtfertigte Weiterentwicklung des etablierten Unzuverlässigkeitsbegriffs darstellt – oder generiert der Verfasser eine weitere theoretische Idiosynkrasie?

1.

Aumüller widmet sich der Unzuverlässigkeitskonzeption in einem ausführlichen und stringenten Theoriekapitel (Kap. I). Die anschließenden Analysekapitel sind annähernd chronologisch angelegt und untersuchen bekanntere Texte, verhandeln aber auch von der Forschung weniger intensiv bearbeitete, teils in Vergessenheit geratene Autor:innen. Die Studie integriert dabei sowohl konventionell unzuverlässig erzählte Erzähltexte als auch Werke, deren Unzuverlässigkeitsdiagnose problematisch ist oder die sich sogar als zuverlässig erzählt herausstellen. Den Auftakt bildet ein Grundlagenkapitel zum unzuverlässigen Erzählen vor der Nachkriegsliteratur (Anna Seghers, Thomas Mann, Robert Neumann, Hermann Broch) (Kap. II). Anschließend verfolgt Aumüller zwei unterschiedliche Stränge in der Nutzung erzählerischer Unzuverlässigkeit: Ein Strang, der erzählerische Unzuverlässigkeit markant und tendenziell in ›Reinform‹ einsetzt, beginnt mit Max Frischs Unzuverlässigkeitskonzeption (Kap. IV), an die jüngere Schweizer Autoren wie Walter M. Diggelmann, Walter Vogt (Kap. V) und Otto F. Walter (Kap. VI) mit eigenen Projekten anschließen. Demgegenüber ist die Nutzung erzählerischer Unzuverlässigkeit in der bundesdeutschen und österreichischen Tradition weniger markant ausgeprägt; Unzuverlässigkeit erweist sich hier eher als sekundäres, von dominanteren Verfahren überlagertes Phänomen, wie Aumüller zunächst an Texten der deutschen Literatur außerhalb der Gruppe 47 (Heinz Risse, Hans Erich Nossack, Marlen Haushofer, Hermann Lenz, Arno Schmidt, Thomas Bernhard) zeigt (Kap. III). Das 7. Kapitel zeichnet daran anschließend das Auftreten erzählerischer Unzuverlässigkeit in Werken der Gruppe 47 (Heinrich Böll, Günter Grass, Martin Walser, Peter Handke) nach. Die Kapitel 8 und 9 widmen sich jeweils einem Einzeltext von Gabriele Wohmann und Alfred Andersch. Aumüller schließt seine Untersuchung mit einem Blick auf das unzuverlässige Erzählen in der DDR (Kap. X).

In seinen Vorüberlegungen zu einer anwendungsorientierten Konzeption unzuverlässigen Erzählens bietet Aumüller eine Strukturbeschreibung des Phänomens an, deren Komponenten er nachfolgend systematisch abarbeitet. Ausgehend von notwendigen und hinreichenden Begriffselementen erweitert er schrittweise den Radius seiner theoretischen Betrachtungen hin zur Frage nach der Zuschreibung erzählerischer Unzuverlässigkeit im Interpretationsprozess. Seine theoretischen Überlegungen zum eng gefassten Unzuverlässigkeitsbegriff charakterisiert der Verfasser als »Rückbesinnung auf das konzeptuelle Residuum« (VIII): Die Konzentration auf das Kernphänomen soll die Unterscheidungs- und Abgrenzungsfähigkeit unzuverlässigen Erzählens von verwandten Phänomenen erhöhen. Restriktive Begriffsbestimmungen erzählerischer Unzuverlässigkeit bringen potenzielle Vor- und Nachteile mit sich: Einerseits birgt der Ausschluss bereits als unzuverlässig akzeptierter Randphänomene aus dem engeren Begriffsumfang die Gefahr, etablierten Intuitionen nicht gerecht werden zu können, sodass die intersubjektive Konsensfähigkeit der Unzuverlässigkeitskonzeption leidet. Andererseits reduziert ein enger Begriffsumfang den Bedarf an präzisierenden Subtypen – von denen die Unzuverlässigkeitsforschung nicht zu wenige formuliert hat –, die erforderlich wären, um innerhalb eines weiten Begriffsumfangs differenzierungsfähig zu bleiben.

Die Wahl eines engen Begriffsumfangs dient Aumüller dazu, erzählerische Unzuverlässigkeit von verwandten Verfahren abzugrenzen und so die Grenzen des Phänomens zu schärfen. Aumüller versteht unzuverlässiges Erzählen als ein spezifisches Verfahren innerhalb eines größeren Verfahrensspektrums, in dem die Angemessenheit der Rede infragesteht.[2] Insbesondere dort, wo Unzuverlässigkeit im engeren Sinn nicht eindeutig, zweifelsfrei oder selbstverständlich erscheint, vermutet Aumüller besonderes heuristisches Potenzial. Ihn interessiert, »inwiefern [ein Text] unzuverlässig erzählt ist – und auch ggf. inwiefern nicht – und was das für Konsequenzen für weitergehende Interpretationsfragen hat« (2).[3] Aus der Einschränkung des Begriffs ergibt sich die Notwendigkeit, angrenzende Phänomene neu zu beschreiben und die narratologische Terminologie auszudifferenzieren.

2.

Aumüller wählt für seine Unzuverlässigkeitskonzeption ein fiktionstheoretisches Fundament: Als Gegenstand dessen, worauf sich Unzuverlässigkeit beziehen kann, nutzt er den fiktions- und interpretationstheoretisch weitgehend neutralen Begriff des ›Sachverhalts‹.[4] Von den in einer erzählten Welt bestehenden Sachverhalten lassen sich Normen und Werte als Handlungsvorschriften und -empfehlungen sowie Wertungen mit Gültigkeit in der erzählten Welt unterscheiden. Sachverhalte sowie Normen/Werte finden ihre Entsprechung in der Rede der Erzählinstanz in Form von Sachverhalts- bzw. Norm-/Wertdarstellungen. Diese Unterteilung hat bereits in frühen Unzuverlässigkeitstheorien dazu geführt, zwei Typen erzählerischer Unzuverlässigkeit anzunehmen, die Aumüller ›mimetisch‹ (faktenbezogen) und ›axiologisch‹ (wertebezogen) nennt und in Bezug auf ihre jeweiligen Maßstäbe getrennt behandelt.[5]

Mimetische Unzuverlässigkeit bezeichnet eine bestimmte Relation zwischen Sachverhalten und Sachverhaltsaussagen: »Wenn eine Sachverhaltsaussage ›S‹ der Erzählerrede ›N‹ nicht auf den ihr zugehörigen bzw. von ihr behaupteten Sachverhalt S zutrifft, ist das ein guter Grund dafür, dass ›N‹ (mit Bezug auf S/›S‹) unzuverlässig ist.« (5) Aumüller charakterisiert Sachverhaltsaussagen als deskriptiv; sie geben an, was in der erzählten Welt (nicht) der Fall ist und sind vergleichsweise leicht ermittelbar, jedoch nicht voraussetzungslos. Diese Annahme spielt auf die so genannte ›Mimesis-Präsumtion‹ an: Erzählerische Unzuverlässigkeit ist angewiesen auf »mimetisches Erzählen in dem Sinne, dass die Aussagen über die Welt, von der erzählt wird, (fiktional) wahrheitswertfähig sind – […] unabhängig davon, wie diese Welt im Einzelnen beschaffen ist« (50). Daran schließt die Vorstellung an, dass eine Erzählinstanz weltwiedergebend sein muss, damit Unzuverlässigkeit zuschreibbar wird. Im Falle einer welterzeugenden, die Sachverhalte der erzählten Welt stipulierenden Erzählinstanz sei es hinfällig, nach dem (Nicht-)Bestehen erfundener Sachverhalte in einer erfundenen Welt zu fragen. Mit dieser Formulierung einer einschränkenden Zuschreibungsvoraussetzung erreicht Aumüller nicht die komplexe Differenzierungsfähigkeit, die Janina Jacke in ihrer systematischen Studie erarbeitet.[6] Wie zentral indes diese Bedingung und der daraus folgende Entschluss ist, Fälle welterzeugender Erzählinstanzen aus dem Anwendungsspektrum mimetischer Unzuverlässigkeit auszunehmen, zeigt sich an Erzähltexten, deren Erzählinstanzen nicht als rein weltwiedergebend oder welterzeugend eingeordnet werden können, sondern Mischformen aufweisen.

Der heuristische Nutzen lässt sich an Aumüllers Interpretation von Günter Grassʼ Die Blechtrommel (Kap. VII.3) illustrieren. In Oskar Matzeraths Schilderungen treffen Unglaubwürdiges und Zuverlässiges, Fantastisches und durch fiktive Zeitzeugen Bezeugtes aufeinander. Aumüller unterscheidet zwei Deutungsoptionen: 1) Oskar ist ein zumindest partiell welterzeugender Erzähler, agiert entsprechend als Garant einer mindestens partiell phantastischen erzählten Welt, in der einige seiner Behauptungen der bizarren und grotesken Ereignisse als wahr und zuverlässig einzustufen sind (etwa das ›Glaszersingen‹). Aber warum gibt es dann Passagen, in denen Alternativversionen plausibler erscheinen als Oskars Sachverhaltsdarstellung (z.B. die als Wunschtraum lesbare Brausepulver-Episode)? 2) Oskar ist ein ausschließlich weltwiedergebender Erzähler. Die erzählte Welt ist durchgängig realistisch und Oskars Behauptung bizarrer Ereignisse ist als mimetische Unzuverlässigkeit einzustufen. Aber warum dann so übermäßig viele Unwahrheiten?

Beide Deutungsvarianten – und ebenso die in der Forschung oft angenommene prinzipielle Offenheit des Textes – wertet Aumüller als defizitär, denn Oskars Rede liefert nach seiner Beobachtung nicht etwa permanent gleichwertige Gegenentwürfe zu seinen Behauptungen. Stattdessen wechseln unplausible, falsche, aber auch glaubwürdige Behauptungen einander ab. Für eingrenzbare Bezugsbereiche kann Aumüller Oskars mimetische Unzuverlässigkeit entsprechend plausibel konkretisieren (etwa den Bereich der sexuellen Beziehungen zu Maria und Lina Greff), an anderen Stellen bleiben die Zweifel an Oskars Erläuterungen unauflösbar bestehen. So wie eine prinzipielle Offenheit dem Text als Deutungsoption unangemessen ist, so ist es auch die Annahme einer mimetischen Unzuverlässigkeit als den Text als ganzen prägendes, konsequent gesetztes Verfahren:[7] »Die Wahrheit liegt, wie so oft, dazwischen und ist kognitiv unbequem: Mit Bezug auf manche Motive ist es tatsächlich müßig, Oskars Sachverhaltsdarstellung anzuzweifeln, […]; aber das gilt eben nicht für alle Motive […].« (392) Abschließend schlägt Aumüller vor, Oskar Matzerath als einen Erzähler zu verstehen, der sich in bestimmten, konkretisierbaren Bereichen mimetisch unzuverlässig verhält, dessen Unzuverlässigkeit sich aber nicht gegen die Figur, sondern auf die der Lächerlichkeit preisgegebenen Sitten der Umgebung richtet. Groteske Elemente und erzählerische Unzuverlässigkeit bleiben in einer Spannung: »Richtet man die Aufmerksamkeit allein auf die grotesken Züge, verliert man Oskars mimetische Unzuverlässigkeit leicht aus dem Blick – und umgekehrt […]. Es ist das Eigentümliche des Romans, dass er beständig beide Perspektiven aktualisiert.« (380) Mag Aumüllers Lösungsvorschlag auch unbequem sein, liefert er doch eine nuancierte Textinterpretation, der es gelingt, die Grenzen der erzählerischen Unzuverlässigkeit klar abzustecken.

3.

In der Folge konkretisiert Aumüller seinen Unzuverlässigkeitsbegriff, wobei ihm ›Falschheit‹ als das »härteste und zugleich einfachste Kriterium für die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit an einen Erzähltext« (16) gilt. Im Unterschied zu den meisten gängigen Theorien entscheidet er sich, die ›Unvollständigkeit‹ nicht zu einem Kriterium der Unzuverlässigkeit zu machen, da er eine »Überdehnung der Kategorie« und einen damit einhergehenden »Distinktionsverlust« (17) vermeiden will.[8] Die Unvollständigkeit ist nur insofern ein Kriterium für Unzuverlässigkeit, als sie mit einer expliziten oder impliziten Falschaussage verbunden ist: In jedem Fall mimetischer Unzuverlässigkeit wird also entweder in der Erzählerrede ausdrücklich etwas Falsches gesagt oder etwas Falsches zu verstehen gegeben. So erhöht Aumüller die begriffliche Präzision: Abgrenzbar von erzählerischer Unzuverlässigkeit werden jene Fälle, in denen das bloße Andeuten oder Verschweigen relevanter Informationen Zweifel am Erzählen weckt, ohne dass damit bereits die Sachverhalte falsch dargestellt werden. Diese Grauzonen werden durch das Falschheitskriterium von ihrer Vagheit befreit und entschieden aus dem Begriffsfeld ausgeklammert.

Als Demonstrationsobjekt führt Aumüller Gabriele Wohmanns Abschied für länger (Kap. VIII) an: Die anonyme Erzählerin äußere sich in vielerlei Hinsicht vage und in Andeutungen, so dass schnell der Eindruck umfassender Unzuverlässigkeit entstehe. Viele Sachverhalte werden ausgelassen, offengelassen oder sind nur implizit erschließbar, allerdings ohne dass dabei etwas zu verstehen gegeben wird, was mit Bezug auf die dargestellten Sachverhalte falsch ist. Mimetisch unzuverlässig ist der Roman nur in Bezug auf einen einzigen Sachverhalt, der allerdings mit anderen Sachverhalten eng verknüpft ist: ihr Motiv für den erfolgslosen Todesstoß, den sie ihrem Geliebten gibt. Indem die Protagonistin und Erzählerin ihr duldsames und mitleidiges Verhalten dem Geliebten gegenüber betont, ihre innere Einstellung jedoch ausspart, gibt sie implizit zu verstehen, dass Verhalten und Einstellung korrespondieren – was aber gerade nicht der Fall ist. Dem Leser wird signalisiert, dass sie aus einer tiefen Enttäuschung das Verlangen entwickelt, sich an ihrem Geliebten zu rächen. Da sie diese Gefühlslage verschweigt, gibt die Erzählerin etwas Falsches zu verstehen und ist in dieser Hinsicht mimetisch unzuverlässig.

Indem Aumüller diese Unzuverlässigkeitsdiagnose mit früheren Ereignissen in der erzählten Welt verknüpft, macht er den Mordversuch als Resultat eines längeren, teils unbewussten Prozesses lesbar. Der Protagonistin ist es nicht nur punktuell unmöglich, ihre Motivation zu verbalisieren, sondern ihr fehlt es in vielerlei Hinsicht an Kommunikations- und Einschätzungsvermögen. Man kann also sagen, dass Wohmanns Roman zu den Werken gehört, »in denen es in erheblichem Maße darauf ankommt, was nicht erzählt wird.« (465) Um dieses Nichterzählte, die gestörte Kommunikation im Text kenntlich zu machen, dient der Autorin erzählerische Unzuverlässigkeit als Verfahren, ohne dies jedoch permanent in den Vordergrund zu stellen.

4.

Aumüller unterteilt im nächsten Schritt die Falschheit der Darstellung in verschiedene Klassen, von denen eine besonders wichtig erscheint: Wie steht es um die Unzuverlässigkeit, wenn offenbleibt, ob ein für ihre Diagnose wesentlicher Sachverhalt in der erzählten Welt besteht oder nicht? Für Aumüller sind solche Fälle, die in der Forschung bislang unter dem Typus ›mimetisch unentscheidbaren Erzählens‹[9] gefasst wurden, keine Beispiele für Unzuverlässigkeit im präzisen Sinn.[10] Er will unterscheiden zwischen »Texten, die auf eine Auflösung widersprüchlicher Sachverhaltsdarstellungen hin angelegt sind und damit die gängige Wirklichkeitsauffassung bestätigen, und solchen Texten, die durch unauflösbar widersprüchliche Sachverhaltsdarstellungen die gewohnte Wirklichkeitsauffassung eben in Frage stellen oder außer Kraft setzen« (21). Letzteres möchte er als ›Unentscheidbarkeit‹ bezeichnen, aber nicht als Fall von Unzuverlässigkeit gelten lassen.

Die mimetische Unentscheidbarkeit von der erzählerischen Unzuverlässigkeit abzugrenzen, ist zentral für Aumüllers Konzeption. Er wendet sich gegen die Praxis, diese Grundverfahren zu konfundieren und undifferenziert als ›Unzuverlässigkeit‹ zu beschreiben. Es geht um die Frage, ob Ungereimtheiten, Auslassungen – kurz textliche Anomalien – auf die Rede einer Erzählinstanz oder auf die besondere (ggf. instabile) Beschaffenheit der erzählten Welt rückführbar sind.[11] Fälle unentscheidbaren Erzählens und instabiler Welten fallen für Aumüller prinzipiell nicht unter erzählerische Unzuverlässigkeit, da für die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit die wahren Umstände ermittelbar sein müssen. Allerdings kann beides durchaus mit Unzuverlässigkeit kombiniert werden. Was eine mimetisch instabile Welt auszeichnet, wird in Aumüllers Studie – obwohl für viele Analysen zentral – in leicht variierenden, über die Untersuchung distribuierten Formulierungen behandelt: »Mimetisch instabil ist eine erzählte Welt […], wenn die Aussagen der Erzählinstanz sowohl eine mimetische als auch eine anti-mimetische Interpretation zulassen.« (226)

Die Möglichkeit der Kombination und Konfusion erzählerischer Unzuverlässigkeit mit mimetisch instabilen Welten bildet Aumüller ausführlich im untersuchten Textkorpus ab (Kap. III). Heinz Risses Erzähler in Wenn die Erde bebt (1950) und Dann kam der Tag (1953) treten beide als Außenseiter auf und scheinen mit ihrem divergenten Verhalten vordergründig prädestiniert für die Zuschreibung erzählerischer Unzuverlässigkeit. Aumüller kann jedoch nachweisen, dass sich in beiden Texten zwei Deutungen die Waage halten: Entweder sind beide Erzähler wahnhafte und unzuverlässige Irre in ansonsten stabilen erzählten Welten oder die erzählten Welten sind übernatürlich-phantastisch geprägt und werden von ihren zuverlässigen Erzählern wahrheitsgemäß dargestellt. Die Interpretationen sind gleichermaßen plausibel, und es kommt zu der für instabile erzählte Welten kennzeichnenden »Patt-Situation« (164).[12] Auch in Hans Erich Nossacks Spätestens im November (1955) hängt die Diagnose mimetischer Unzuverlässigkeit von der Frage ab, ob man die erzählte Welt als stabil lesen will. Der Text endet mit dem Unfalltod der Protagonistin, die ihre Geschichte also offenbar aus dem Jenseits erzählt. Dabei ist schwer zu entscheiden, ob sie in einer surrealen bzw. phantastischen Welt lebt, in der Toten das Erzählen möglich ist, oder ob das Ende der Geschichte allein der Phantasie der Protagonistin entspringt, was die erzählte Welt als eine mimetisch-realistische restituieren würde. Aumüller erscheint die interpretative Annahme einer stabilen erzählten Welt in Nossacks Roman plausibler – die Zuschreibung erzählerischer Unzuverlässigkeit bleibt aber letztlich Ergebnis eines (gut begründbaren) Abwägungsprozesses.

Auch in Arno Schmidts frühen Romanen ist erzählerische Unzuverlässigkeit wiederholt nachweisbar; besonders komplex wird sie in Aus dem Leben eines Fauns (1953) eingesetzt. Aufgrund zahlreicher Anachronismen und absichtlicher Fehler erscheint eine mimetische Unzuverlässigkeit des Erzählers plausibel. Sie wird etwa durch problematische Angaben zum Zeitpunkt des Erzählens und unmarkierte Übergänge zwischen Wachen und Träumen sowie eine vermutlich fiktive Liebesbeziehung zur Figur Käthe indiziert. Die Erinnerungen des Protagonisten erscheinen porös und epistemisch prekär (vgl. 202f.); bisweilen geht zudem die Phantasie mit ihm durch. Alternativ erscheint es Aumüller jedoch möglich, die Anachronismen kompositionell auf den Autor zurückzuführen. Die erzählte Welt wäre dann instabil und die textlichen Anomalien dienen dazu, ihre Artifizialität auszustellen und illusionsbrechend zu wirken. Aumüller wertet die Unzuverlässigkeit des fiktiven Erzählers letztlich als eine im Text angelegte Deutungsmöglichkeit, mit der einige, aber durchaus nicht alle Textphänomene erklärbar werden. Die unzuverlässigen Sachverhaltsdarstellungen beziehen sich dabei im Kern auf die nach Aumüllers Deutung von der Figur imaginierten Ereignisse im Zusammenhang mit Käthe und der Waldhütte, die so als illusionäre Flucht in die Idylle diskreditiert würden. Diese These verbinde sich stärker mit benachbarten Textphänomenen (z. B. unbemerkten Traumübergängen) als die allgemeinere Annahme, es handle sich beim Text um ein anti-mimetisches Spiel des Autors (vgl. 204f.).

Aumüllers Untersuchung demonstriert eindrücklich die Verbreitung und das künstlerische Niveau der narrativen Verfahren, die von erzählerischer Unzuverlässigkeit konzeptionell zu unterscheiden sind. Phänomene in Verbindung mit der Instabilität erzählter Welten und Fälle unentscheidbaren Erzählens als narrative Grundverfahren, in denen nicht die Angemessenheit der erzählerischen Vermittlung zur Debatte steht, sondern vielmehr die grundlegende Anlage der erzählten Welt, wurden häufig als Textindikatoren für eine erzählerische Unzuverlässigkeit im weiten Sinne gelesen. Tatsächlich leisten sie funktional oft das Gegenteil und stehen im Zusammenhang mit einer besonderen Zuverlässigkeit der Rede, setzen diese teils gar voraus oder lassen schlicht kein Urteil über die Angemessenheit der Rede zu.[13] Gerade beim Begriff der ›Unentscheidbarkeit‹ aber bleiben Aumüllers Hinweise darauf, wie dieses narrative Verfahren genau zu fassen und seinerseits abzugrenzen ist, vage. Die Unterscheidung zwischen der Unauflösbarkeit widersprüchlicher Sachverhaltsdarstellungen und einer Offenheit, ob und inwiefern bestimmte Sachverhalte bestehen oder nicht, wird nicht ausreichend expliziert. Gerade angesichts der Verwechslungsgefahr zwischen erzählerischer Unzuverlässigkeit und Unentscheidbarkeit wäre es zweckmäßig, den Unzuverlässigkeitsbegriff künftig noch stärker nicht nur zu seinen Rändern hin, sondern auch von seinen Rändern her zu fassen.

5.

Die Falschheit der Sachverhaltsdarstellung gilt Aumüller als notwendige, nicht aber als hinreichende Bedingung erzählerischer Unzuverlässigkeit: Damit die Zuschreibung sinnvoll ist und Fehler oder Zensurmaßnahmen von Autor:innen ausschließt, muss eine ›diegetische‹, d.h. textintern belegbare Erklärung für die falsche(n) Sachverhaltsaussage(n) vorliegen. Aumüller vermeidet bei dieser Erläuterung bewusst textexterne und intentionalistische Parameter wie einen Rückbezug auf eine autorseitig gebundene Kompositionsstrategie oder historische Beglaubigungskontexte. Hier stellt die Anschlussfrage, wie mit Texten umzugehen ist, die widerspruchsvoll sind, aber (scheinbar) keine diegetische Erklärung aufweisen. Laut Aumüller gäbe es zwei grundlegende Erklärungsmuster: Entweder wurde die diegetische Erklärung schlicht noch nicht gefunden oder der Erzähltext ist auf unauflösbare Widersprüche hin angelegt – letzteres sei aber kein diegetischer Grund, sondern stehe in einem kompositionellen, also textexternen Begründungszusammenhang.

Anschaulich wird die Rolle der diegetischen Erklärung in Aumüllers Interpretation von Thomas Bernhards Frost (1963) (Kap. III.7): Formale Auffälligkeiten, selektive Sachverhaltsdarstellungen und diskontinuierliche Handlungsversatzstücke in den Aufzeichnungen des Erzählers lassen im Roman schnell den Verdacht erzählerischer Unzuverlässigkeit aufkommen. Anders als bei Arno Schmidt sind die zahlreichen Anomalien jedoch nicht als Erinnerungen oder Träume diegetisch erklärbar, um die Unzuverlässigkeit beweisfähig werden zu lassen. Auch der narrative Status des Textes allgemein bleibt unklar: Handelt es sich, wie vom Erzähler behauptet, um eine Erinnerungsstütze oder doch um eine retrospektive, Authentizität nur vortäuschende Rekonstruktion? Für letzteres lassen sich zwar Indizien im Erzähltext finden, jedoch fehlt es laut Aumüller an einer diegetischen Erklärung, warum der Text eine Rekonstruktion (eines damit unzuverlässigen Erzählers) sein sollte. Aumüller liest die Textanomalien dann auch eher als Zeichen einer Wesensähnlichkeit zwischen dem Erzähler und dem von ihm verfolgten Maler, dessen Sprechweise er übernimmt. Auch weitere Schilderungen des Erzählers bleiben suspekt, beispielsweise verschiedene topographische Anomalien innerhalb der erzählten Welt. Nichts davon lasse sich aber, so Aumüller, mit direkten Belegen am Text ausreichend erklären. Die Annahme erzählerischer Unzuverlässigkeit basiert damit auf einer diegetischen Erklärung mit spekulativem Charakter. Was wahr ist, ist nicht ermittelbar – es gibt aber gute Gründe für die Annahme, dass wiederholt Falsches zu verstehen gegeben wird. Sowohl eine mimetische als auch eine anti-mimetische Lesart bleibt damit möglich, die erzählte Welt ist instabil. Beide Lesarten haben eine Gemeinsamkeit: Die Darstellung ist geprägt von einer irrationalen Sicht auf die erzählte Welt, die sich aber rational geriert – unabhängig davon, ob diese Irrationalität nun vom Erzähler oder der erzählten Welt ausgeht. Die Unzuverlässigkeit bleibt damit partiell eine explanative Option, ist aber ohne belastbare textuelle Basis.[14]

6.

Die Zuschreibungsbedingungen axiologischer Unzuverlässigkeit werfen eigene Schwierigkeiten auf, denn Normen und Werte müssen im Kontrast zu Sachverhalten nicht auf dieselbe Weise Gegenstand eines Erzähltextes sein: Während bei mimetischer Unzuverlässigkeit irgendwann erkennbar werden muss, was in der erzählten Welt tatsächlich der Fall ist, kann bei axiologischer Unzuverlässigkeit »gegen eine nicht erzählte Norm verstoßen werden, die man trotzdem für den Text annehmen muss«. (34) Daher schlägt Aumüller als ›Daumenregel‹ für die Feststellung axiologischer Unzuverlässigkeit vor:

Wenn die Erzählinstanz bzw. die Erzählrede N zu verstehen gibt (gleich ob durch explizites oder implizites Werturteil oder durch Handlung), dass sie für bestimmte W nicht einsteht, obwohl W in eW gelten müssten, ist N in der Regel axiologisch unzuverlässig. (35)

In einigen Analysen Aumüllers tritt die axiologische Unzuverlässigkeit infolge der oft im Zusammenhang mit instabilen Welten interessanter anmutenden mimetischen Unzuverlässigkeit in den Hintergrund. Nicht so in Aumüllers Kapitel zur DDR-Literatur (Kap. X): An mehreren Erzähltexten kann der Verfasser durch die Zuschreibung axiologischer Unzuverlässigkeit zeigen, mit welchen narrativen Komplexitäten einige Werke der meist als konformistisch eingeordneten DDR-Literatur aufwarten können. Hervorzuheben ist Karl-Heinz Jakobs’ Beschreibung eines Sommers (1961). Der Roman baut eine Opposition zwischen dem als Frauenheld gekennzeichneten Erzähler und der SED auf. Nimmt man an, dass die erzählte Welt von der Norm der Parteilichkeit geprägt ist, ist schnell eine axiologische Unzuverlässigkeit des Erzählers diagnostizierbar, der die Werte des politischen Systems beständig unterläuft (und sie damit mit Geltung versieht). Allerdings werden diese Werte auch von Repräsentanten der Partei unterlaufen: »Aus der Perspektive einer Ambivalenz-Poetik ist gerade dies reizvoll.« (528) Der Reiz besteht darin, dass der zentrale axiologische Konflikt des Romans nicht innerhalb der Partei, sondern zwischen der Partei und dem noch unentschiedenen Erzähler stattfindet. Eine axiologisch positiv exemplifizierte Vorbildfigur fehlt im Roman; gleichzeitig bleibt gerade der (unzuverlässige) Erzähler als Sympathieträger deutbar, insofern seine Liebe zu seiner Geliebten als aufrichtig präsentiert wird. Die axiologische Unzuverlässigkeit des Protagonisten wäre auch in dieser Lesart immer noch nachweisbar, für die Lesenden allerdings von geringerer Bedeutung.

Die Unangemessenheit einer erzählerseitigen Axiologie muss in der erzählten Welt jedoch nicht zwangsläufig aufgelöst oder thematisiert werden, damit Unzuverlässigkeit diagnostizierbar wird. Axiologische Unzuverlässigkeit ist, so Aumüller, im Vergleich zu mimetischer Unzuverlässigkeit neben der Ermittlung von Sachverhalten sehr häufig auch auf die Feststellung eines textexternen Wertehorizonts angewiesen (vgl. 44). Sind Werte dagegen erst gar nicht bestimmbar, chronisch ambivalent und unterdeterminiert oder in einer unauflöslichen Aporie zueinander begriffen, so ist axiologische Unzuverlässigkeit nicht zuschreibbar.

Als Beispiel für einen Erzähltext, dem konkurrierende Maßstäbe unterstellt werden könnten, bietet sich Heinrich Bölls Ansichten eines Clowns (1963) an. Der Erzähler offenbart eine ausgeprägte Rücksichtslosigkeit gegenüber seiner Geliebten, hat eine starke Anspruchshaltung und missbraucht ihr Vertrauen. Mit einem modernen Blick auf Gleichstellung und Geschlechtergerechtigkeit wäre er als axiologisch unzuverlässig einzuordnen. Allerdings steht im Zentrum des Romans nicht das – aus zeitgenössischer Sicht durchaus akzeptierte, heute verantwortungsethisch fragwürdige – Handeln des Protagonisten. Stattdessen geht es, so Aumüllers Deutung, um die Unvereinbarkeit zweier Lebensweisen im Kontext eines selbstbestimmten Zusammenlebens. Die Werteordnung des Romans ist in dieser Hinsicht also nur dann als ambivalent einzuordnen, wenn man einen textexternen Maßstab anlegt, der vom Werk nicht gedeckt wird. Auch Martin Walsers Roman Halbzeit (1960) bietet Aumüller ein Beispiel für ein Maßstabproblem: Fraglich ist, ob die im Roman formulierte Gesellschaftskritik den opportunistischen Erzähler einschließt oder nicht. Es gibt im Roman keine Figuren, die positive Werte in der erzählten Welt exemplifizieren oder eine Alternative zum Lebensstil des Protagonisten böten. Daher bleibt unklar, ob dessen Opportunismus kritisch hinterfragt und negativ bewertet wird oder ob der durchaus sympathische, das allgemein Menschliche verkörpernde Erzähler im Roman schlicht als Demonstrationsobjekt funktionalisiert wird. Axiologische Unzuverlässigkeit ist daher in Walsers Roman dazu geeignet, Ambivalenz aufzulösen; angesichts der diesbezüglich zurückhaltenden Autoräußerungen ist Aumüller aber eher geneigt, die Unterdeterminiertheit des Textes in der Konfliktbewertung anzuerkennen.[15]

7.

Nach der Definition mimetischer und axiologischer Unzuverlässigkeit widmet sich Aumüller der Frage, ob Unzuverlässigkeit sich auf das Textganze oder nur auf einzelne Textpassagen bezieht. Beide Annahmen bieten Vor- und Nachteile: Die selektive Zuschreibung kommt Aumüllers Wunsch nach Präzision entgegen und korreliert mit der Einsicht, dass erzählerische Unzuverlässigkeit zu einem bestimmten Moment im Text aufgelöst wird. Dafür laufen allerdings unzuverlässig erzählte Textbereiche potenziell Gefahr, überbetont und vom Textganzen isoliert zu werden. Aumüller befürchtet, dass so ›Mikro-Unzuverlässigkeit‹ zu viel Raum und Bedeutung gegeben würde (vgl. 41). Um dies zu verhindern, aber dennoch am engen Begriffsverständnis anschließen zu können, formuliert der Verfasser eine weitere einschränkende Bedingung, die – so kann man sie von ihren Vorgängerinnen unterscheiden – nicht notwendig für die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit überhaupt, wohl aber notwendig für die Zuschreibung gehaltvoller Unzuverlässigkeit ist. Aumüller geht davon aus, dass sich in Fällen gehaltsvoller Unzuverlässigkeit die einzelnen falschen Sachverhaltsaussagen in einem bestimmten Zusammenhang zueinander (Bezugsbereich) stehen, es also eine »Erklärung höherer Ordnung« (41) für sie gibt. Dieser Bezugsbereich steht in einem Funktionszusammenhang mit den diegetischen Erklärungen für die Sachverhalts- bzw. Wertdarstellungen und setzt sie zum Textganzen ins Verhältnis. Ist kein Bezugsbereich ermittelbar, dann ist die erzählerische Unzuverlässigkeit nicht gehaltvoll und eine Interpretation mit dem Fokus auf Unzuverlässigkeit nicht sinnvoll.

Bei der Zuschreibung erzählerischer Unzuverlässigkeit im Interpretationsprozess unterscheidet Aumüller zwischen tendenziell unproblematischen, weitgehend textinternen Zuschreibungen und voraussetzungsreicheren Zuschreibungen, die auf textexterne Informationen rekurrieren müssen. Als textexterne Kontexte erscheinen Aumüller dabei vor allem autor:innenseitige Äußerungen sowie literaturgeschichtliche Phänomene und Moden (Gattungen) zulässig. Anhand von Alfred Anderschs Efraim (1967) kann die Relevanz externer Kontexte bei der Zuschreibung erzählerischer Unzuverlässigkeit demonstriert werden. Die Frage nach der Unzuverlässigkeit des Erzählers stellt sich in Anderschs Roman besonders mit Blick auf einen Bezugsbereich: die Rolle der Zufallstheorie. Der Erzähler Efraim liest die Judenvernichtung im Kontext der Zufallstheorie als Zufall statt Verbrechen. Dem Erzähler dient die Zufallstheorie als unvollkommenes und reduktives Mittel, die Grausamkeit der Shoah als nicht fassbar zu kennzeichnen. Der Roman selbst widerlegt jedoch die Zufallstheorie in Bezug auf die Beurteilung der Judenvernichtung. Efraims Unzuverlässigkeit bezieht sich lediglich auf den Geltungsbereich seiner Theorie, nicht aber auf die Theorie an sich. Über die Rekurrenz auf autorseitige Äußerungen kann ein Zusammenhang zwischen Anderschs Erzähltext und der Philosophie Søren Kierkegaards hergestellt werden: »Danach ist in der Figur Efraim der Widerstreit zwischen (zufälliger) ästhetischer Existenz und ethischer Existenz personifiziert.« (501) Die Einbeziehung zusätzlicher Äußerungen des Autors vertieft die textimmanent gewonnene diegetische Erklärung für Efraims Unzuverlässigkeit um bedeutende Einsichten und verschafft »[l]etzte Gewissheit« (504). Sie macht Efraims schrittweise Loslösung von der Zufallstheorie zum Ende des Erzähltextes sichtbar und gibt die zentral gesetzte Selbstermächtigung über das eigene Schicksal zu erkennen.

8.

Insgesamt bietet Aumüllers Studie eine theoretische Fundierung erzählerischer Unzuverlässigkeit, die mit ihren klaren Kriterien eine präzisierende Zurückführung des Phänomens auf seine wesentlichen Komponenten leistet. Durch seine Integration der ›diegetischen Erklärung‹ und deren Relationierung zu einem ›Bezugsbereich‹ kann Aumüller die Verschiebung des Interesses an erzählerischer Unzuverlässigkeit hin zu einer Konzentration auf die interpretative Auseinandersetzung mit Erzähltexten auch konzeptionell stützen. Die Knappheit, Klarheit und Neutralität der Zuschreibungsregeln und die interpretationsorientierte Anwendbarkeit heben Aumüllers Konzeption von vergleichbaren Unzuverlässigkeitstheorien ab. Ihre Anwendung in umfangreichen Interpretationen illustriert die Differenzierungsmöglichkeiten besonders an solchen Werken, die nicht, nicht eindeutig oder nur eingeschränkt unzuverlässig erzählt sind. Systematisch gesehen demonstriert Aumüllers Monografie, dass ein enges Verständnis erzählerischer Unzuverlässigkeit den Weg ebnen kann, den narratologischen Interesseschwerpunkt auf das ganze Spektrum der Formen unangemessener Rede, Spielarten unentscheidbaren Erzählens und des Auftretens instabiler erzählter Welten auszuweiten.

Durch die Eingrenzung der Unzuverlässigkeitskategorie kann die Studie einen Gewinn an Klarheit und Übersicht für sich beanspruchen: Die Detailgenauigkeit der Analysen zu Alfred Andersch und Max Frisch, aber auch die Präzisierung erzählerischer Unzuverlässigkeit in Günter Grassʼ Werk leisten wichtige Erkenntnisse für die jeweiligen Autorphilologien. Das trifft auch auf die in ihrer Gründlichkeit vorbildlichen Analysen zu Erzähltexten von Otto F. Walter und Gabriele Wohmann zu. Für das bislang kaum narratologisch untersuchte Werk von Arno Schmidt ergeben sich ganz neue Erklärungsperspektiven und Anschlussmöglichkeiten. Nicht zuletzt rückt durch Aumüllers umfangreiches Textkorpus auch die kaum beachtete DDR-Literatur ins Zentrum der Aufmerksamkeit, für die gerade die Kategorie erzählerischer Unzuverlässigkeit komplexitätsreduzierenden Analysen vorbeugen kann. Insgesamt profitieren alle Analysen in Aumüllers umfangreicher Studie dabei von der handwerklichen Genauigkeit ihres Autors und einer bewusst demonstrierten Revisionsbereitschaft gegenüber interpretatorischen Ergebnissen.

Anmerkungen

[1] Vgl. Janina Jacke, Systematik unzuverlässigen Erzählens, Analytische Aufarbeitung und Explikation einer problematischen Kategorie, Berlin/Boston 2020. [zurück]

[2] Matthias Aumüller/Tom Kindt (Hg.), Der deutschsprachige Nachkriegsroman und die Tradition des unzuverlässigen Erzählens, Berlin 2021, 5. Dieser Sammelband ist zusammen mit Matthias Aumüllers Monografie Teil eines Publikationsprojekts im Rahmen des zwischen 2017 und 2020 vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geförderten Forschungsprojekts »Literaturgeschichte, Interpretationstheorie und Narratologie. Über ihr Zusammenwirken am Beispiel des unzuverlässigen Erzählens im deutschsprachigen Nachkriegsroman«. [zurück]

[3] Der zum Publikationsprojekt gehörige Sammelband von Matthias Aumüller und Tom Kindt formuliert dies noch präziser, Aumüller/Kindt (Hg.), Der deutschsprachige Nachkriegsroman, 11–12: »In allen Fällen aber beweist die Anwendung der Kategorie, dass sie geeignet ist, Texte mit unklarer narrativer Vermittlungsstruktur gewissermaßen aufzuschließen und Erklärungspotenzial zu entfalten, und zwar nicht nur dann, wenn sich ein Text am Schluss als eindeutig unzuverlässig erzählt erweist, sondern eben auch dann, wenn er nicht oder nur ansatzweise unzuverlässig erzählt ist.« [zurück]

[4] Aumüller bevorzugt diesen Begriff formulierungsstrategisch gegenüber ›Tatsache‹ oder ›Information‹; interpretationstheoretisch ist der Begriff neutraler, da er eindeutig der erzählten Welt zugeordnet ist und nur deren mögliche Einheiten erfasst (bei ›Tatsache‹ ist das Bestehen bereits mitformuliert) (vgl. 8). [zurück]

[5] Bisweilen wurden auch eine Dreigliedrigkeit des Begriffs oder verschiedene Ausmaße von Unzuverlässigkeit angenommen, vgl. beispielsweise James Phelan/Mary P. Martin, The Lessons of ›Weymouth‹, Homodiegesis, Unreliability, Ethics, and ›The Remains of the Day‹, in: David Herman (Hg.), Narratologies, New Perspectives on Narrative Analysis, Columbus 1999, 88–109. [zurück]

[6] Vgl. Jacke, Systematik unzuverlässigen Erzählens, 219ff. Jacke schärft den Anwendungsbereich erzählerischer Unzuverlässigkeit zusätzlich nach den Parametern homodiegetisch vs. heterodiegetisch, personal vs. nicht-personal, beschränkt vs. allwissend. Aumüllers Zuschreibungseinschränkung fasst sie unter repräsentierend vs. festlegend. [zurück]

[7] Ganz eindeutig sei dagegen Oskars axiologische Unzuverlässigkeit diagnostizierbar (mit Bezug auf sein Problembewusstsein) (vgl. 381ff). [zurück]

[8] Zum einen führt die prinzipielle Unterdeterminiertheit erzählter Welten – und damit einhergehend die grundsätzliche Unvollständigkeit der Erzählerrede – zu einer zu großen Reichweite der ›Unvollständigkeit‹ als Kriterium erzählerischer Unzuverlässigkeit. Zum anderen bleibt unklar, wie mit Erzähltexten zu verfahren ist, die Sachverhalte zunächst auslassen, später aber nachreichen. Eine Einschränkung über das zusätzliche Subkriterium der Relevanz (Auslassung relevanter Sachverhalte) reproduziere das Problem auf der nächstunteren Ebene, denn auch ›Relevanz‹ ist als Kriterium noch zu distinktionsschwach und schlösse beispielsweise Krimis mit ein. (Vgl. 17–18) [zurück]

[9] Vgl. Matías Martínez/Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 3. Aufl., München 2002 [1999], 103f. Vgl. auch Jean-Pierre Palmiers Untersuchung unentscheidbaren Erzählens, Jean-Pierre Palmier, Gefühlte Geschichten, Unentscheidbares Erzählen und emotionales Erleben, Paderborn 2014. [zurück]

[10] Ähnliches gilt auch für Ungenauigkeit. Sofern nicht etwas Falsches zu verstehen gegeben wird, sind auch ungenaue Darstellungen nicht Teil der Unzuverlässigkeitskonzeption Aumüllers (23 und 27). [zurück]

[11] Vgl. Aumüller/ Kindt (Hg.), Der deutschsprachige Nachkriegsroman, 5. [zurück]

[12] Letztlich könne aber – so Aumüllers überraschendes Fazit – die Instabilität der erzählten Welten mittels der Annahme erzählerischer Unzuverlässigkeit textimmanent tendenziell weginterpretiert werden (zumindest sei dies als Option immer gegeben). Das kontrastiere damit, dass axiologisch gesehen mit Blick auf die Autorposition eher von einer (axiologischen) Zuverlässigkeit auszugehen ist. Das Spiel mit der erzählerischen Unzuverlässigkeit sei somit mindestens konzeptionell als Option angelegt. [zurück]

[13] Vgl. Aumüller/Kindt (Hg.), Der deutschsprachige Nachkriegsroman, 5. [zurück]

[14] Ähnliche Überlegungen mit Bezug auf eine ›semantische Motivation‹ stellt Löwe an; Matthias Löwe, Unzuverlässigkeit bei heterodiegetischen Erzählern, Konturierung eines Konzepts an Beispielen von Thomas Mann und Goethe, Journal of Literary Theory 12:1 (2018), 77–92, hier 89. [zurück]

[15] Es gibt jedoch auch Textstellen, anhand derer eine Diskrepanz zwischen Protagonist und Autor (und Romanmaßstab) erkennbar wird: Diese betreffen u.a. das chauvinistische Frauenbild, den Umgang mit dem Nationalsozialismus, der Schuldfrage und antisemitische Tendenzen des Erzählers. [zurück]

2024-08-07

JLTonline ISSN 1862-8990

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