Natalie Moser
Erzähltheorie dritter Ordnung. Eine neue Perspektive auf Wilhelm Raabes Erzählen
Cornelia Pierstorff, Ontologische Narratologie. Welt erzählen bei Wilhelm Raabe. Berlin/Boston: De Gruyter 2022. 507 S. [Preis: EUR 99,95]. ISBN: 9783110778274.
Der Titel Ontologische Narratologie. Welt erzählen bei Wilhelm Raabe deutet an, dass in der Monografie von Cornelia Pierstorff große Themen wie Sein, Welt und Erzählen verhandelt werden. Durch die Einbeziehung der Lehre vom Sein/Seienden (Ontologie) soll die Wissenschaft vom Erzählen (Narratologie) spezifiziert und basierend auf diesem innovativen Entwurf einer (modifizierten) Narratologie Raabes Prosa untersucht werden. Das an der Schnittstelle von Ontologie und Narratologie situierte, Grundlagenforschung betreibende Buch geht auf eine Promotion zurück, die 2021 an der Universität Zürich angenommen und mit dem Johannes-Zilkens-Promotionspreis der Studienstiftung des deutschen Volkes und dem Zeno-Karl-Schindler-Preis für deutsche Literaturwissenschaft der Schweizerischen Akademischen Gesellschaft für Germanistik ausgezeichnet wurde. Erschienen ist es als Open-Access-Publikation in der prestigeträchtigen Reihe Studien zur deutschen Literatur des De Gruyter-Verlages.
Als Ausgangspunkt der Untersuchung fungiert die Beobachtung, dass Erzählen Welt(en) schafft und in diesem Sinn über eine »ontologische« Funktion verfügt. Der Weltbegriff soll für die Narratologie operationalisiert werden und die bisherige Perspektive narratologischer Untersuchungen insbesondere auf die Relation von Welt/Realität und erzählter Welt auf die ontologischen Implikationen des Weltbegriffs verschoben werden. Die literaturwissenschaftliche Publikation steht in der Tradition jüngerer geisteswissenschaftlicher Studien, die sich auf Praktiken und Verfahren und weniger auf Objekte konzentrieren und wie Doing Gender in Exile. Geschlechterverhältnisse, Konstruktionen und Netzwerke in Bewegung (2019) oder Geistesarbeit. Eine Praxeologie der Geisteswissenschaften (2022) das performative Moment von Gegenstandsbereich und Methode unterstreichen. Letzteres trifft auch auf Pierstorffs Monografie zu, die bereits im ersten Satz den Vollzugs- bzw. performativen Charakter des Theorie-Schreibens, das Doing Theory betont: »Dieses Buch schreibt Theorie.« (1) Es werden nicht nur Fiktionstheorie, Erzähltheorie, Realismustheorie oder Sprechakttheorie, sondern auch Raabes narrative Reflexionen über das Erzählen – eine Art narrativer Erzähltheorie – untersucht, um die beiden Bereiche im Rahmen einer ontologischen Narratologie zu verbinden.
Welcher Begriff würde sich besser eignen als derjenige der Welt, um in historischer und systematischer Hinsicht eine Ausprägung realistischen Erzählens zu untersuchen und zu zeigen, dass Welthaftigkeit von Darstellungsverfahren abhängt? Der Begriff ›Welt‹ taucht auch im Titel von Jürgen Osterhammels umfassender Geschichte des 19. Jahrhunderts – »Die Verwandlung der Welt«[1] – auf. »Das 19. Jahrhundert reflektierte seine eigene werdende Globalität«,[2] so Osterhammels Beobachtung hinsichtlich der zeitgenössischen Verhandlungen von Welt. Pierstorff zeigt im Rahmen ihrer Untersuchung von Literatur aus dem 19. Jahrhundert bzw. von Raabes Werk auf, dass das realistische Erzählen nicht nur veränderte Wirklichkeiten und Globalisierung(serfahrungen) thematisiert und reflektiert, sondern dass Erzählen und (erzählte) Welt gleichursprünglich sind. So hält die Literaturwissenschaftlerin bereits in der Einleitung fest: »Raabe erzählt nicht von Welten, sondern er erzählt vom Machen dieser Welten.« (2) Der Fokus auf das narrative Worldmaking ermöglicht Pierstorff, Erzählen als Setzung und Zugriff gleichermaßen zu beschreiben. Die von Raabes (Schriftsteller-)Kollegen formulierte, um den Wirklichkeitsbegriff herum organisierte Realismus-Programmatik wird aufgegriffen, die Perspektive auf die Poesis des poetischen Realismus verschoben und vorgeführt, dass und wie Raabe die Probleme (der Programmatik) des Realismus anhand einer Inszenierung des narrativen Worldmaking reflektiert. Dabei schließt Pierstorff an die aktuelle Realismus-Forschung an, die sich insbesondere für Medien – Zeitschriften, aber auch Gespenster – und Praktiken des Schreibens interessiert. Raabes Erzählungen reflektieren laut Pierstorff »die Bedingungen der Möglichkeit narrativen worldmakings«,[3] weshalb sie als Ausprägungen einer ontologischen Narratologie in literarischer bzw. narrativer Form verstanden werden können. »Der Realismus im Sinne der ›Glaubwürdigkeit‹ ist […] nicht über eine spezifische Beschaffenheit der erzählten Welt zu erlangen, sondern indem er das worldmaking offenlegt.«[4] Damit schließen Pierstorffs Forschungsarbeiten an Untersuchungen zu Raabes selbstreferenziellen Erzählen an, wobei sie im Unterschied zu letzteren nach einer spezifischen Verbindung von Reflexion und ›selbst‹ – nämlich die Selbstreflexion hinsichtlich des narrativen Worldmaking – fragen. Damit wird das von Eva Geulen und Peter Geimer konstatierte Problem vermieden, durch Hinweise auf text- oder kunstwerkinterne Selbstreflexionen in erster Linie Komplexität zu diagnostizieren und das Kunstwerk aufzuwerten, ohne spezifische ästhetische Phänomene oder Verfahren zu behandeln.[5] Die Frage, welche Implikationen eine Erzähltheorie zweiter Ordnung[6] – wie man Raabes selbstreflexives Erzählen beschreiben könnte – für ein Vorhaben hat, das Erzähltheorie vor dem Hintergrund einer narrativ reflektierten Erzähltheorie neu denken will, steht im Zentrum der vorliegenden Rezension.
Pierstorffs Ontologische Narratologie besteht aus fünf Hauptkapiteln, von denen das erste Ontologie und Narratologie überkreuzt – »Ontologische Narratologie« (Kapitel I) – und die restlichen Kapitel je zwei literarische Texte von Raabe, insgesamt acht zwischen 1856 und 1911 erschienene Erzähltexte, thematisieren. Sie sind entsprechend ihrer jeweiligen Inszenierung des narrativen Worldmaking gruppiert: »Vor der Welt« (Kapitel II), »In der Welt« (Kapitel III), »Zwischen den Welten« (Kapitel IV) und »Über die Welt« (Kapitel V). Pierstorff folgt nicht dem für Dissertationen üblichen zweiteiligen Muster, das einen Theorieteil, der als Fundament dient, und einen insgesamt etwa ähnlich langen Analyseteil vorsieht, der (um die räumliche Metaphorik fortzusetzen) das Gebäude bildet. Die Länge des ersten Kapitels, die nur unwesentlich von derjenigen der anderen Kapitel abweicht, und dessen Fazit, das »Welt (erzählen)« (89) überschrieben ist und so an die Überschriften der anderen Kapitel anschließt, deuten an, dass das systematische Kapitel und die textanalytischen Kapitel auf einer Ebene stehen und Theorie und Literatur nicht kategorial unterschieden, sondern in ihrer reziproken Relationalität verstanden werden. Die Studie besticht nicht nur durch ihre stupende, bei der Lektüre allerdings ein hohes Maß an Konzentration verlangende Systematik und ihr eminent theoretisches Erkenntnisinteresse, sondern auch durch ihre lesefreundliche Gliederung. Die thematischen Hauptkapitel werden beispielsweise durch pointierte Zwischenfazite abgerundet. Die den virtutes elocutiones, insbesondere der perspicuitas/claritas verpflichtete Sprache und der luzide Stil tragen des Weiteren dazu bei, dass Pierstorffs Studie trotz der Komplexität des theoretischen Settings und der dem Close Reading verpflichteten Detailliertheit der Textanalysen nicht nur Wissen vermittelt, sondern auch Lust macht, auf Pierstorffs Spuren sowohl erzähltheoretische Klassiker:innen als auch weitere Texte von Raabe zu erkunden.
Was kann Theorie bzw. Erzähltheorie überhaupt leisten? Diese Frage wird in dem Band nicht explizit aufgeworfen, bildet jedoch die Folie, auf der Pierstorff Ontologie, Narratologie, Rhetorik, realistisches Erzählen und Raabes Werk zueinander in Beziehung setzt. Wie bereits angedeutet, soll nicht lediglich ein theoretisches Fundament errichtet werden, das zu einem besseren Verständnis von Raabes Texten führt, sondern Theorie und Literatur sollen als ein relationales, jeweils historisch verortbares Gefüge verstanden werden. Im Zentrum der literaturtheoretischen Überlegungen steht Gérard Genettes 1972 erstveröffentlichte Studie Discours du récit, die u.a. mit Rückgriff auf die Tradition der antiken Rhetorik und Poetik insbesondere von Aristoteles, Austins Sprechakttheorie und Jakobsons Sprachfunktionen, aber auch im Vergleich zu weiteren Studien Genettes diskutiert und auf (in ontologischer Hinsicht) blinde Flecken überprüft wird. Sein Essay Métalepse. De la figure à la fiction (2004) deutet allerdings an, so Pierstorff, dass Genette das ontologische Fundament seiner Erzähltheorie bewusst war. Den aufgrund ihres systematischen Ansatzes und ihrer operationalisierbaren Kategorien geschätzten erzähltheoretischen Überlegungen Genettes begegnet Pierstorff mit einer nicht weniger systematischen, erkennbar in der Tradition des Strukturalismus stehenden, jedoch mehr auf die künstlerische Erschaffung von Welten konzentrierte Theorie, die Genettes Erzähltheorie mit seinen verstreuten Überlegungen zur Fiktion bzw. zu einer Fiktionstheorie zu verbinden versucht.
Pierstorff kann in diesem Kontext aufzeigen, dass die Ausklammerung des Gegenstandsbereiches der Fiktionstheorie dazu führt, dass Genette mit zwei verschiedenen, unvereinbaren Modellen argumentiert, die je nach Bedarf zur Spezifikation des Erzählens dienen. Es handelt sich zum einen um das semiotische Modell einer tertiären Struktur des Erzählens (historie – discours – narration) und zum anderen um das pragmatische Modell bzw. das Kommunikationsmodell der Narrationsebenen, das die potenziell unendliche Differenzierung von narration (Erzählakt) und discours (narrativer Diskurs) veranschaulicht. Die bestehende Kritik an Genettes Verständnis des Erzählers[7] und der damit einhergehenden Naturalisierung des Erzählens – u.a. die Annahme eines Erzählers, der einen Erzählakt vornimmt, und einer Idealerzählung, bei der sich Erzählzeit und erzählte Zeit entsprechen (vgl. 75) – aufgreifend votiert Pierstorff nicht nur für eine Vermittlung von Genettes Konzept des Erzählaktes (narration) mit demjenigen der Erzählfunktion, wie sie Käte Hamburger in Die Logik der Dichtung (1957) skizziert hat, sondern schlägt zudem einen Verzicht auf den Begriff ›erzählte Welt‹ vor, da er aufgrund einer impliziten Entkoppelung vom Erzählen/Erzählakt keine erhellende, sondern eine verstellende Funktion innehabe. Als Gegenvorschlag führt sie in Anlehnung an Nelson Goodmans Buch Ways of Worldmaking (1978) den Begriff ›Worldmaking‹ ein, der im Modus des Erzählens erfolgt und nicht – so wie es der Begriff ›erzählte Welt‹ suggeriert – ein (logisch wie auch zeitlich nachgelagertes) Produkt oder Resultat des Erzählens ist. Der Begriff des Worldmaking wird im Rahmen einer Kritik von Genettes Erzählakt-Verständnis geschärft, indem aufgezeigt wird, dass die Erzählinstanz dem Erzählakt nicht vorausgeht, sondern dessen Effekt ist, was sie auch mit der sogenannten erzählten Welt bzw. dem narrativen Diskurs teilt: »Die Erzählung erzeugt zum einen die erzählte Welt, auf die sie qua Referenz zugreift, zum anderen erzeugt dieser sprachliche Zugriff gleichsam erst die Position des Zugriffs« (28). In einem kurzen Abschnitt verweist Pierstorff jedoch auch auf das dekonstruktive und für Überlegungen zu den ontologischen Implikationen der Narratologie besonders fruchtbare Moment von Genettes Erzähltheorie und kritisiert die Zurichtung letzterer zu einer Methode (vgl. 34), wie sie in der Form der Erzähltextanalyse in zahlreichen Einführungskursen der Germanistik eingeübt wird.
Nachdem Pierstorff im ersten Teil des Kapitels »Ontologische Narratologie« (I) Genettes Vorstellung kritisiert hat, dass der Erzählakt ein narrativer Sprechakt sei, und das Konzept mit Hilfe von Hamburgers fiktionstheoretisch fundierten Erzählfunktion entnaturalisiert bzw. ontologisiert hat,[8] widmet sie sich im zweiten Teil den sechs Operationen der (ontologischen) Erzählfunktion, die Jacobsons Modell der sechs Sprachfunktionen nachempfunden sind. Während die Kritik am Konzept des Erzählaktes vor allem narratologische Fragen betrifft und lediglich indirekt auf Brüche innerhalb erzähltheoretischer Konzeptionen verweist, die ontologische Probleme durchscheinen lassen, zeigt sich in der nachfolgenden Konzeptualisierung einer ontologischen Erzählfunktion wenig überraschend die durch eine Revision von Genettes Diskursnarratologie anvisierte ontologische Dimension des Erzählens. Die sogenannte erzählte Welt bestehe, so Pierstorff, »in einer komplexen ontologischen Struktur, die durch ihre rhetorisch formatierten Operationen immer an Anschauung in Raum und Zeit gebunden ist.« (94) Den sechs Operationen – Differenzieren, Singulieren, Detaillieren, Identifizieren, Vergleichen und Vervielfältigen –, die das Worldmaking bestimmen und denen rhetorische Formate zugrunde liegen, werden sechs ontologische Begriffe – Einheit, Singularität, Individualität, Identität, Ähnlichkeit und Modalität – zugeordnet. Neologismen wie Singulieren und Detaillieren führen während der Lektüre zu einer kurzzeitigen Irritation, die sich aufgrund der luziden Beschreibungen der entsprechenden Verfahren jedoch schnell wieder legt. Die Verbindung von implizierter Ontologie in Genettes Diskursnarratologie, rhetorischen Formaten – hier werden sowohl Tropen als auch Figuren aufgeführt – und Begriffen der (philosophischen) Ontologie, die in Aristoteles protonarratologischen Überlegungen noch eine Einheit gebildet haben, verdeutlicht eine tabellarische Darstellung (vgl. 91), die nicht nur die Schaltstellen von Pierstorffs Untersuchung offenlegt, sondern auch der Orientierung innerhalb des dichten Theoriegebildes dient.
Die erste Operation der ontologischen Erzählfunktion, das Differenzieren, wird als die wichtigste beschrieben, da sie die Erzählinstanz und den narrativen Diskurs – die bei Pierstorff auch als narrative Struktur adressiert werden – konstituiert. Hamburgers fiktionstheoretisch grundiertes Verständnis des Erzählens bildet die Grundlage für die Beschreibung dieser basalen narrativen Realitätsverdoppelung. Die weiteren Operationen oder narrativen Verfahren scheinen jeweils aufeinander aufzubauen, d.h. hierarchisch geordnet zu sein. Während das Differenzieren die Einheit Welt erst erschafft, legt das Singulieren (quantitativ) Daten bzw. raumzeitliche Positionen fest, spezifiziert das Detaillieren einzelne Daten (qualitativ), setzt das Identifizieren Daten zueinander in Beziehung, ermöglicht das Vergleichen die Konstitution einer Gruppe von Daten bzw. eines Paradigmas und entsteht durch das Vervielfältigen eine Sequenz von Daten bzw. ein Syntagma, das die Grundlage für das Kriterium Wahrscheinlichkeit bildet. Wie diese Kurzbeschreibung der ontologischen Operationen oder Verfahren zeigt, bildet die (außertextuelle) Wirklichkeit oder Realität in keinem einzelnen Schritt der Argumentation eine Bezugsgröße, um die am (Welt-)Erzählen beteiligten narrativen Verfahren zu beschreiben.
Im Rahmen der Raabe-Forschung, die allmählich auf die neuen Paradigmen der Realismus-Forschung reagiert,[9] sticht die vorliegende Studie heraus, da es sich nicht nur (und vielleicht auch nicht in erster Linie) um eine Raabe-Monografie handelt, sondern um den Versuch, modellhaft Raabes implizite (ontologische) Narratologie herauszuarbeiten. Pierstorff zufolge haben die behandelten Texte von Raabe gemein, dass sie nicht nur eine Welt erzeugen, sondern dass sie das narrative Worldmaking auch inszenieren und auf diese Weise thematisieren und reflektieren. »Raabe entwirft Erzählanordnungen, die eine ontologische Basis des Erzählens ausstellen.« (95) Wie sie dies tun, zeichnet Pierstorff nicht nur hinsichtlich der beteiligten narrativen Verfahren oder Operationen nach, sondern auch mit Rekurs auf die historischen und medialen Kontexte – etwas weniger auf das soziopolitische oder ökonomische Umfeld – von Raabes Texten. Die behandelten Erzähltexte haben einen Umfang zwischen vierzig und zweihundert Seiten und stammen mehrheitlich aus den 1870er Jahren, Dirk Göttsches Einteilung von Raabes Werk in drei Phasen folgend also aus der Phase des Spätrealismus oder dem Spätwerk Raabes.[10] Aufgrund der Wahl ihres Gegenstandes folgt die Studie dem Gros der Raabe-Forschung, die sich auf die späteren Texte Raabes wie Zum wilden Mann und Altershausen konzentriert.
Die untersuchten literarischen Texte gruppiert Pierstorff mit Blick auf den Aspekt des Worldmaking, der in den jeweiligen Texten heraussticht: Vom alten Proteus und Zum wilden Mann verdoppeln gemäß Pierstorff ihre Textanfänge, um das basale Welt-Machen bzw. den Erzählakt in der Form des Differenzierens und damit den Status »Vor der Welt« (II) zu perpetuieren. Wer kann es wenden? und Meister Autor würden hingegen v.a. die Abhängigkeit des narrativen Diskurses von der (mit Genette gesprochen) Stimme inszenieren, wodurch die Prekarität des Status »In der Welt« (III) markiert und die Kontinuität einer erzählten Welt durch Brüche auf inhaltlicher und formaler Ebene problematisiert werde. Unruhige Gäste und Der Dräumling behandelt Pierstorff unter dem Label »Zwischen den Welten« (IV), da – so die These – beide Texte andere Welten, z.B. den Olymp, in ihr Worldmaking einbauen und auf aufwendige Weise intertextuelle Referenzen als Verbindungen von Welten kenntlich machen. Dabei wird die Grundfrage aufgegriffen, wie eine fiktive Welt als dieselbe Welt oder eine fiktive Figur aus einem früheren Text in einem späteren Text als dieselbe identifiziert werden kann. Als letztes Analysepaar fungiert Raabes erster Text – Die Chronik der Sperlingsgasse – und sein letzter, postum erschienener fragmentarischer Text – Altershausen –, das mit »Über die Welt« (V) rubriziert ist, weil die beiden Texte Pierstorffs Überlegungen entsprechend mit Rekurs auf unterschiedliche Medien kenntlich machen, dass die narrative Welt nicht von einem Ich abhängig ist, sondern Ich und Welt Effekte eines medialen Dispositivs sind. Während insbesondere bei den ersten beiden Analysen die textinternen Operationen der Erzählfunktion explizit ausgewiesen werden, werden die narrativen Textverfahren im Laufe der Untersuchung impliziter behandelt. Letzteres hängt damit zusammen, dass gemäß Pierstorffs These die literarischen Texte die Operationen bzw. Verfahren nicht nur ostensiv ausstellen, sondern wiederum Modelle enthalten, die dieses Ausstellen metareflexiv kenntlich machen. Diese Modelle des Worldmaking (etwa die Baustelle, der Fluß oder der Traum) dienen in den literarischen Texten wiederum – auf einer weiteren Metaebene – der Befragung von Gattungsformaten, einem Vergleich von sogenannten Weltformeln (vgl. 471). Auf diesen drei Ebenen – Operationen, Modelle und den über den Text hinausweisenden Dimensionen – bewegt sich Raabes narrativ konstituierte ontologische Narratologie, die mit Blick auf das Verhältnis von Literatur und Theorie als eine Erzähltheorie dritter Ordnung beschrieben werden kann.
Da Pierstorff ihre theoriebasierten, dem Close Reading verpflichteten Textanalysen mit Überlegungen u.a. zur Editionsgeschichte von Raabes Texten, zur Gattungszugehörigkeit und Intertextualität derselben – um lediglich drei Bereiche zu nennen – flankiert, haben die Textanalysen trotz der (methodisch bedingten) begrenzten Perspektive – v.a. auf die Textanfänge – keinen exklusiven Charakter, sondern bauen gezielt literaturgeschichtliche, literatursoziologische und medienwissenschaftliche Beobachtungen in die Argumentation ein. Das zur Veranschaulichung der Verfahren des Worldmaking dienende Modell Bühne in der Erzählung Vom alten Proteus wird beispielsweise nicht nur auf seine Funktion hinsichtlich der textinternen Sichtbarmachung der ontologischen Funktion des Erzählaktes diskutiert. Ausgehend von der konkreten intertextuellen Referenz auf A Midsummer Night’s Dream und mit einem Hinweis auf eine konkrete Aufführung von Shakespeares Komödie (vgl. 121) wird vielmehr gezeigt, wie die mehrfachen Erzählanfänge metareferenziell miteinander verbunden sind. Die Innovativität von Pierstorffs Ansatz zeigt sich u.a. im Rahmen ihrer Untersuchung der Erzählung Zum wilden Mann, die zu den meistinterpretierten Texten Raabes gehört. An die bisherigen Forschungsarbeiten insbesondere zum selbstreferenziellen Anfang des Prosatextes anschließend wird in Rückgriff auf rhetorische Verfahren wie die Evidentia und auf die nicht lokalisierbare(n) Erzählstimme(n) gezeigt, dass die textimmanente Problematisierung des Anfangs zur Folge hat, dass die Unerzählbarkeit des Erzählanfangs paradoxerweise erzählt werden kann. Die Erzählung handelt folglich nicht nur von einem ökonomischen Bankrott der titelgebenden Apotheke, sondern in der Form eines performativen Selbstwiderspruches auch von einer narrativen ›Bankrotterklärung‹ und ihrer Überwindung.
Der systematische Ansatz und der Projektcharakter von Raabes Texten[11] ermöglichen, die anhand von Einzelwerken entwickelten Analysefragen und -schwerpunkte mühelos auf andere Texte Raabes zu übertragen, was sich insbesondere an den textinternen Modellen für das Worldmaking wie dem Fluss oder der Ruine zeigen ließe, die auch in den Erzählungen Die Innerste, Pfisters Mühle oder Das Odfeld eine wichtige selbstreferenzielle und mit Pierstorff das ontologische Moment des Erzählens ausstellende Funktion haben. Mit Blick auf Raabes Œuvre ließe sich an Pierstorffs Überlegungen anschließend auch eine Verbindung zu den textinternen Referenzen auf philosophische Probleme und Fragen rund um die Vorstellung von Welt(haftigkeit) – etwa mit Rekurs auf Schopenhauer oder Feuerbach – herstellen. Die Vorstellung des Nichts, ein Gegenstück zum Sein und Seienden, auf das die Ontologie abzielt, die mit dem von Pierstorff ebenfalls thematisierten, jedoch nicht in die Theoriebildung einbezogenen Tod korreliert, ist nur dem ersten Eindruck nach unvereinbar mit dem Konzept des Worldmaking.
Genettes Erzähltheorie ist anzumerken, so Pierstorff, dass sie entlang von Marcel Prousts A la recherche du temps perdu entwickelt wurde. Das erkläre Genettes impliziten Fokus auf das Erzählen im Sinne des Erzählaktes, den Exeget:innen von Genettes Erzähltheorie tendenziell vernachlässigen. Lässt sich Ähnliches von Pierstorffs ontologischer Narratologie behaupten und der Anspruch auf systematische Gültigkeit über den historischen Gegenstand hinaus in Zweifel ziehen? Mit Blick auf die Wahl des Gegenstandes, selbstreflexive Texte aus Wilhelm Raabes Spätwerk, kann vermutet werden, dass insbesondere romantische Texte mit ihrer ausgeprägten Selbstreferenzialität und Vorliebe für Metalepsen – man denke etwa an E.T.A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla – mit Raabes selbstreflexiven Texten vergleichbar dankbare Gegenstände abgeben würden. Auch Jean Pauls selbstreferenzielles Erzählen wäre ein naheliegender weiterer Untersuchungsgegenstand, da Raabes Erzählen aufgrund seiner humoristischen Tendenzen – Humor könnte auch ein Medium des narrativen Auslotens des Worldmaking sein – wiederholt damit verglichen wurde. Der Ansatz, literarische Texte als Medien oder Träger ontologischer Narratologien zu verstehen, ist bei selbstreferenziellen und – so deutet es die Raabes historische Erzählungen ausklammernde Textauswahl an – zeitkritischen Texten besonders ertragreich. Da Pierstorffs Untersuchung zum einen Genettes Narratologie weiterentwickelt und zum anderen einen neuen Zugang zur Programmatik und Literatur des Realismus schafft, zeichnet sich bereits innerhalb des Buches eine über den historischen Gegenstand hinausreichende Gültigkeit des Ansatzes ab. Die Kritik am Begriff der erzählten Welt und das Verständnis des Erzählens als Setzen einer und Zugreifen auf eine Welt können zudem in Untersuchungen des (historisch) jüngeren Erzählens im Film, in Serien oder in digitalen Spielen aufgegriffen werden, indem die narrative Inszenierung des Worldmaking mit Rückgriff auf die Operationen Singulieren, Detaillieren etc. etwa im filmischen Erzählen untersucht werden.
Fragt man aus einer kritischen Warte nach den Metaphern, die Pierstorffs Theorie anleiten, findet man sowohl raumbasierte Konzepte wie ›vor der Welt‹, ›in der Welt‹ und ›zwischen den Welten‹ als auch weder raum- noch zeitbasierte Konzepte wie ›über die Welt‹, die auf eine Metaebene hinsichtlich der narrativen Leitkategorien Raum und Zeit aufmerksam machen. Die am Schluss des Buches eingeführten drei Konzepte oder Ebenen – Performieren, Modellieren und Ausloten – und die Rede von drei Formen der Inszenierung machen hingegen deutlich, dass eines der in Raabes Texten omnipräsenten Modelle, die Bühne, auch die Terminologie von Pierstorffs Studie nachhaltig geprägt hat. Meta- und Objektsprache treten in ein metaleptisches Verhältnis zueinander, gerade so, wie es gemäß Pierstorff auch bei Erzähltheorie und Erzählen der Fall ist.
Durch die Lektüre von Pierstorffs Ontologischer Narratologie (erzähl)theoretisch geschult und dank der kürzlich von Moritz Baßler herausgegebenen Erzählung Fabian und Sebastian, die eine Neuauflage einzelner Texte Raabes beim Wallstein-Verlag eröffnet, kann man nun Raabes narratives Worldmaking wieder- oder neu entdecken. Dies ist auch im Hinblick auf die universitäre Lehre von Interesse, da mit Pierstorffs Buch nicht nur ein neuer, sowohl theoretisch als auch analytisch fruchtbarer Zugang zu Raabes Welt-Erzählen eröffnet wird, sondern auch die Prämissen der Realismus-Programmatik und die Zurichtung von Genettes Theorie zu einer Methode reflektiert und diskutiert werden können. Aufgrund der wegweisenden Analyse und Interpretation von Raabes Erzählen, dem Anspruch, ein nicht an spezifische Autor:innen oder Epochen gebundenen theoretischen Ansatz zu entwickeln und der Verbindung aus Theoriereflexion und intensiver Textanalyse wäre es Pierstorffs verdienstvoller Studie zu wünschen, dass sie nicht ausschließlich im Kontext der Narratologie und der Raabe-Forschung, sondern auch in der Realismusforschung und darüber hinaus als Grundlagenforschung im Bereich der Literaturwissenschaft rezipiert wird.
[1] Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009. [zurück]
[2] Ebd., 14. [zurück]
[3] Cornelia Pierstorff, »Wie machen wir’s nun«. Worldmaking in Wilhelm Raabes Vom alten Proteus, in: Stephan Kammer/Karin Krauthausen (Hg.), Make it real. Für einen strukturalen Realismus, Zürich 2020, 115–138, hier: 138. [zurück]
[4] Ebd., 135. [zurück]
[5] Vgl. Eva Geulen/Peter Geimer, Was leistet Selbstreflexivität in Kunst, Literatur und ihren Wissenschaften?, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 4 (2015), 521–533. [zurück]
[6] Zu den methodischen Herausforderungen durch theorieaffine literarische Texte vgl. Erik Schilling, Literatur als Theorie – Theorie als Literatur. Chancen und Grenzen der Deutung literaturtheoretischer Komponenten in literarischen Werken, in: Andrea Albrecht/Lutz Danneberg/Olav Krämer/Carlos Spoerhase (Hg.), Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens, Berlin/Boston, 609–633. [zurück]
[7] Als Grundlage von Pierstorffs Argumentation fungiert v.a. das Kapitel zur Stimme und darin das Unterkapitel zu den Funktionen des Erzählers, vgl. Gérard Genette, Die Erzählung, 3., durchgesehene und korrigierte Auflage, übers. v. Andreas Knop, Paderborn 2010, 137–174 und 166–169. [zurück]
[8] Zur Verbindung von Genettes Erzählakt und Hamburgers Erzählfunktion und den entsprechenden Implikationen vgl. auch Sebastian Meixner, Narratologie und Epistemologie. Studien zu Goethes frühen Erzählungen, Berlin/Boston 2019, 18–27. [zurück]
[9] Vgl. die im Oktober 2023 in der Form einer Sonderausgabe veröffentlichte, Publikationen bis zum Jahr 2020 berücksichtigende Bibliographie der Forschungsliteratur zu Wilhelm Raabes Werk: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 62/63 (2023). [zurück]
[10] Dirk Göttsche, Wilhelm Raabes Erzählungen und Romane, in: Christian Begemann (Hg.): Realismus. Epoche – Autoren – Werke, Darmstadt 2007, 121–138. [zurück]
[11] Vgl. Dirk Göttsche: Poetologie, in: Dirk Göttsche/Florian Krobb/Rolf Parr (Hg.), Raabe Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2016, 16–21, hier: 20. [zurück]
2024-08-07
JLTonline ISSN 1862-8990
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