Irmtraud Hnilica
Kostbares Theoriearsenal von heute – für morgen und übermorgen: Patricia Waughs und Marc Bothas Handbuch der Zukunftstheorie
Marc Botha, Patricia Waugh (Hg.): Future Theory. A Handbook to Critical Concepts. London/New York/Dublin: Bloomsbury Academic 2021. 463 S. [Preis: EUR 199,04]. ISBN: 9781472567352.
Der Blick in die Zukunft scheint düster. Kriege und Klimakatastrophen, weiterhin auftretende Covidwellen, ökonomische Krisen, die in Deutschland wie vielen anderen Ländern beobachtbare Erosion der politischen Mitte mit massiven Zugewinnen der radikalen Rechten – all das sorgt für das berechtigte Grundgefühl, dass uns nichts Gutes erwartet. Der von Patricia Waugh und Marc Botha herausgegebene Band Future Theory. A Handbook to Critical Concepts kommt so gesehen genau zur richtigen Zeit. Wer nach Theoriekonzepten sucht, mit denen sich Pessimismus und Lähmungsgefühle überwinden lassen, ohne die Augen vor der Realität zu verschließen, sollte es unbedingt zur Hand nehmen.
Die Zukunft erfasst und betrifft zwangsläufig alle Bereiche des Lebens. Entsprechend breit aufgestellt ist der Band, der Überlegungen zum Klimawandel ebenso wie zur Zukunft der Universität, zu Migration wie zu Revolution anstellt. Was Waugh und Botha präsentieren, ist relevant und aufregend – mitunter aber auch wirklich hartes Brot. Ohne breites theoretisches Vorwissen werden Leser*innen hier verloren sein. Das ist natürlich einerseits zu erwarten bei einer explizit theoretisch ausgerichteten Publikation. Andererseits wäre ein verstärktes Bemühen um allgemeinere Verständlichkeit gerade bei der politischen, ja gesamtgesellschaftlichen Tragweite des Themas nicht abwegig. Das Handbuch, so erschließt es sich bei der Lektüre nach und nach, stellt einerseits Theorien vor, die explizit nach der Zukunft fragen. Andererseits aber befasst es sich mit Konzepten, die zur Bewältigung der Zukunft wichtig erscheinen, auch wenn sie sich selbst nicht explizit mit Zukunft befassen. Daher auch wird man in manchen Kapiteln vergeblich nach dem Begriff Zukunft suchen. Diese mehr implizite Doppelperspektive sorgt für eine gewisse Disparatheit, wird aber andererseits als thematische Fülle des knapp 450 Seiten starken Bandes produktiv.
Wie die Herausgeberin und der Herausgeber des Bandes, Patricia Waugh und Marc Botha, hat eine große Zahl der Beiträger*innen einen literatur- und kulturwissenschaftlichen Fachhintergrund. Das ist bei einem Thema, das zunächst einmal durchaus philosophisch klingt, nicht selbstverständlich (und natürlich haben auch Philosoph*innen Texte zum Band beigesteuert). Eindrücklich wird hier die Relevanz und Reichweite von Literaturwissenschaft und Literaturtheorie über das Kerngeschäft der Textanalyse hinaus aufgezeigt. Die literaturwissenschaftliche Zukunftsexpertise ergibt Sinn, denn Literatur, selbst wenn sie in einer fiktiven Vergangenheit spielt, ist immer ein Entwurf in ein Nichts hinein, stiftet immer etwas Neues und beinhaltet damit Zukunft. Literatur ist Utopie, so heißt ein von Gert Ueding bereits 1978 herausgegebener Band, an den sich dabei denken lässt. Wenn Literatur Utopie ist, dann ist Zukunftstheorie (auch) genuine Aufgabe von Literaturwissenschaftler*innen – und das hier vorgelegte Handbuch könnte das nicht besser belegen!
Wie rasch die Zukunft uns einholt, machen bereits die dem Band vorangestellten Acknowledgments deutlich. Die Idee zum 2021 erschienenen Band und ein Teil der Arbeit daran datiert nämlich zurück in die Zeit vor Covid-19. Die Pandemie – und die seit dem Erscheinen des Bandes neu aufgeflammten kriegerischen Konflikte – verleihen dem Projekt eines Zukunftshandbuches mithin zusätzliche Dringlichkeit. Dass die Intention des Bandes eine politisch engagierte und konkret positionierte ist, wird deutlich, wenn von den Kontexten »climate change, economic precarity, decolonization and neoliberalism« (xiii) die Rede ist, die den Band motivieren. Als Handbuch ist der Band in diesem Sinne wohl nicht nur für die Zukunftstheorie, sondern auch eine entsprechende Praxis zu verstehen. Die Konzepte, die der Band untersucht, beschreiben den Wandel und nehmen zugleich daran teil, wie das Vorwort betont (8).
Die Dringlichkeitsgefühle angesichts einer sich rasch verändernden Welt und des Erreichens von Kippunkten – ein Konzept, mit dem sich die Herausgebenden im Vorfeld im Rahmen eines interdisziplinären Forschungsprojektes ausführlich befasst haben – fallen auf merkwürdige Weise zusammen mit Formen des denial, die in der Einleitung als »our cognitive and affective tendencies to avoid looking the coming storm in the eye« (5) beschrieben werden. Die Überlegungen zu Stichpunkten wie »Paradigm«, »Migration«, »Revolutions«, »Fragmentation« oder auch »Climate« wagen nun genau diesen Blick ins Auge des Sturms. Der Band ist in fünf Sektionen gegliedert: »Rethinking Change«, »Boundaries and Crossings«, »Ruptures and Disruptions«, »Assemblages and Realignments« und, am Ende, »Horizons and Trajectories« – Begriffe, die weniger ein Lexikon strukturieren, als eine Art infrastrukturelle Karte des Wandels ausbreiten (vgl. 8). Damit haben die Herausgebenden für einen starken konzeptionellen Zuschnitt des Bandes gesorgt, während sie zugleich den jeweiligen Zugriff auf die Begriffe ganz den jeweiligen Beiträger*innen überlassen haben.
Die ausführliche und orientierende Einleitung von Waugh und Botha sollte man nicht überspringen. Sie beginnt mit Verweisen auf einen aktuellen kulturellen und politischen Horizont, zu dem Schlagwörter wie »›wokeness‹« oder »hegemony of neoliberalism« (2) gehören. Die Gegenwart wird dabei als von »transition and significant change« (ebd.) geprägt beschrieben. Change ist einer der immer wiederkehrenden Begriffe im Band. Dass die Welt sich wandelt, steht außer Frage. Auch, dass der Wandel schnell geschieht, ist klar. Die Frage ist dennoch, wie er geschieht. Damit beschäftigt sich insbesondere die Sektion »Ruptures and Disruptions«. Hier kann zum Beispiel die Dramentheorie mit dem Begriff der peripeteia Modelle anbieten. Jean-Michel Rabaté diskutiert den Begriff der Katastrophe mit Beckett. Dabei wird deutlich – Rabaté arbeitet hier u.a. mit dem Entwicklungspsychologen Donald Winnicott –, dass das Moment der Katastrophe nicht nur nicht vorhersehbar ist, sondern auf individueller Ebene nur asynchron durchlebt werden kann (der Mechanismus der Psychose, wie Winnicott sie auffasst). Mieke Bal, um einen weiteren der insgesamt 25 Beiträge hervorzuheben, beschäftigt sich mit Migration, genauer: der Sichtbarkeit von Migration, die sie im Konzept der »migratory aesthetics« zu fassen sucht. Was der Gesellschaft nicht gelingt, Migration nämlich so zu verstehen wie Mieke Bal, als »a positive, enriching, enlivening and, indeed, emblematic part of any culture« (177), das schafft die Kunst, insbesondere Videokunst u.a. von Roos Theuws, William Kentridge und Mona Hatoum. Als Glutkern des Bandes erscheint Timothy Clarks Artikel »Climate«. Denn der Klimawandel, vielmehr die Klimakatastrophe bestimmt die Zukunft unseres Planeten mehr als alles andere. Im Abgleich mit der Existenzfrage des Klimas verblassen andere Zukunftsherausforderungen. Clark befasst sich mit Ecocriticism und der Frage, wie auch die Beschäftigung mit Literatur einen Beitrag leisten kann: »What does it mean, for example, that Shakespeare’s sonnets […] may now be read, newly estranged, as products of the late Holocene, with its lost assumptions regarding the regular periodicity of the seasons providing a sense of background order and unregarded reliability for human affairs?« (346) Die Literaturwissenschaft mag wenig bedeutsam erscheinen gegenüber den aufklärerischen Bemühungen der konkret mit den Ursachen und Folgen des Klimawandels befassten Wissenschaftler*innen. Sie wird aber dort relevant, wo sich abzeichnet, dass die reine Information, das bloße Kennen von Fakten alleine wenig bewirkt: »The issue is less one of knowledge than of a majority indifference to the implications of that knowledge.« (346) Auf dem Feld der Literatur kann solche Indifferenz überwunden werden, sie kann beitragen zu einer notwendigen neuen »meta-ethics that embraces the future beyond the individual lifetime« (347). Diese muss nicht automatisch im Bezug auf die symbolische Figur des Kindes und der kommenden Generationen entwickelt werden, auch wenn dieser allgegenwärtige Diskurs – Clark bezeichnet ihn treffend als »a kind of species narcissism« (351) – aktuell am ehesten in der Lage scheint, die zur Limitierung der Klimakatastrophe notwendigen individuellen wie vor allen Dingen auch politisch-strukturellen Verhaltensänderungen herbeizuführen. Doch die Ikone des zukünftigen Kindes bleibt limitiert auf die menschliche Spezies und verstärkt zudem, wie Clark mit Bezug auf Alvin K. Wong diskutiert, »current norms of the heteronormative family« (352). Die Zukunft jenseits der anthropozentrischen Limitierung zu denken ist dabei eine der zentralen Herausforderungen des Ecocriticism: »Are there alternative ethics and ways of seeing that do not immediately reinstall the humancentric optic of Anthropocentric futurism?« (351) Clark stellt die Zukunftsfrage konkret auch – transphilologisch – für die Literaturwissenschaft: »After all, if departments of literary study still exist in fifty or a hundred yearsʼ time, what sort of writing will seem ›canonical‹ in the probable context of a deeply damaged world of resource wars and mass extinctions?« (355) Und: »Outside ecocriticism itself, for a great many literary critics it is still business as usual: reconstructions of the cultural politics of a specific writer’s context, work on some ›important new edition‹ and so forth. At what point does working in a disconcertingly altered context shift activities that were once simply normal into being unwittingly complicit with modes of denial?« (356) Fragen, die wohl in naher Zukunft immer drängender und schließlich unumgehbar sein werden.
Der nicht ganz heimliche Star des Bandes ist der lange Zeit vernachlässigte Philosoph der Hoffnung Ernst Bloch. Schon der erste Beitrag zu »Memory« spricht nicht nur über Erinnerung, sondern auch – denn Erinnerung bereitet allen Zukunftsentwürfen den Boden – über Hoffnung und verweist auf Ernst Bloch (44). Bezüge auf Bloch rahmen den Band und machen deutlich, dass Bloch wohl einer der wichtigsten Zukunftsdenker ist. Und das, obwohl Blochs »noch-nicht« nach dem Scheitern sozialistischer Utopien gegenstandslos geworden scheint, wie der Aufsatz zu »Memory« hervorhebt (45): »New collective hopes have not yet risen above the horizon. Melancholy still floats in the air as the dominant feeling of a world burdened with its past, without a visible future.« (51) Die Zukunft ist nur als kapitalistische denkbar, mit Frederic Jameson erscheint eher das Ende der Welt denkbar als ein Ende des Kapitalismus (43). Programmatisch endet der Band mit dem Text von Caroline Edwards zu »Hope« und damit zum Kernbegriff von Blochs Philosophie. Klug arbeitet Edwards heraus, warum Blochs Begriff der Hoffnung zukunftsorientiert ist, zugleich aber eine wesentliche ontologische Grundstruktur der Erfahrung von Gegenwart sein kann. Edwards verbindet Blochs Prinzip Hoffnung mit Lynne Segals Radical Happiness zu einem Zukunftsentwurf, der die Rolle der Affekte und des Kollektiven ins Zentrum stellt: »a turn towards hope is perhaps one of the most radical undertakings« (435). Ein must-read für Literatur- und Kulturwissenschaftler*innen, die dem Sturm ins Auge schauen und dabei neue Hoffnung gewinnen wollen.
2024-08-07
JLTonline ISSN 1862-8990
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