Alena Heinritz

»... denn sie wissen nicht, was sie tun«: Martusʼ und Spoerhases Praxeologie der Geisteswissenschaften

Steffen Martus, Carlos Spoerhase, Geistesarbeit. Eine Praxeologie der Geisteswissenschaften. Berlin: Suhrkamp 2022. 658 S. [Preis: EUR 30,00]. ISBN: 978-3-518-29979-1.

»… denn sie wissen nicht, was sie tun« – so überschreiben Steffen Martus und Carlos Spoerhase das Nachwort ihres 2022 erschienenen Buchs Geistesarbeit. Eine Praxeologie der Geisteswissenschaften und bringen damit ihren Befund einer mangelnden Reflexion der alltäglichen Praktiken geisteswissenschaftlicher Arbeit prägnant zum Ausdruck. Das regelmäßige Ausrufen einer Krise der Geisteswissenschaften basiert, so die Autoren, in den meisten Fällen auf einer unreflektierten und mythisch-verklärten Vorstellung davon, was Geisteswissenschaftler:innen in ihrem Arbeitsalltag tatsächlich tun (13). Ganz ähnlich wie Carolin Amlinger zuletzt mit praxeologischem Handwerkszeug allgemein verbreiteten Mythen des literarischen Schreibens auf den Grund gegangen ist,[1] nehmen Martus und Spoerhase, aufbauend auf ihre langjährige Forschung, geisteswissenschaftliches Arbeiten aus der Perspektive der Praxistheorie unter die Lupe. Ausgehend von der Beobachtung, dass viele wissenschaftliche Vollzüge sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch in der Selbstwahrnehmung der Akteur:innen unsichtbar bleiben, befassen sie sich in insgesamt 35 Kapiteln mit unterschiedlichen Praktiken und Praktikenkomplexen geisteswissenschaftlichen Arbeitens. Zu den behandelten Themen gehört das Lesen, Schreiben und Formulieren als jeweils dynamische und soziale Vollzüge, das Zusammenarbeiten, das Moderieren von Normen, das Theoretisieren, die epistemische Rolle von Objekten, Institutionen und Infrastrukturen, bis hin zu »verblassenden« Praktiken am Beispiel der Zirkulation von Sonderdrucken. In ihrem Nachwort unter der bereits genannten Überschrift »... denn sie wissen nicht, was sie tun« reflektieren Martus und Spoerhase über die Ziele ihrer Studie. In einer Art Ausblick formulieren sie, wie wichtig eine Reflexion der geisteswissenschaftlichen Praxis für Überlegungen zu Reformen des Hochschulsystems ist – auch vor dem Hintergrund der Debatte um prekäre Anstellungsverhältnisse im Wissenschaftsbetrieb rund um #IchbinHanna (486).

Ihre einzigartige Ausprägung erhält die Untersuchung durch das Material und den Umgang damit: Die Autoren legen in ihrer, wie sie es nennen, »quellennahe Rekonstruktion der alltäglichen Arbeitskonstellation« (28) den Fokus auf zwei Geisteswissenschaftler: Peter Szondi (1929–1971) und Friedrich Sengle (1909–1994). Szondi war ein Komparatist, der ab 1965 den Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin aufbaute. Als Antipode wird ihm der Germanist Friedrich Sengle, Lehrstuhlinhaber und Projektleiter an verschiedenen Universitäten, darunter in Heidelberg und München, gegenübergestellt. Die Autoren nennen als pragmatischen Grund für ihre Auswahl die günstige Überlieferungslage zu den beiden Philologen. Als »exemplarische Gegensätze« eigneten sie sich zudem gut für eine Gegenüberstellung (28). Und beide wirkten in einer Zeit – nämlich in den 1960er bis 1980er Jahren –, die für das Verständnis heutiger geisteswissenschaftlicher Praxis zentral sei (38).

Szondi beschreiben die Autoren als kosmopolitischen Intellektuellen, der vor allem allein arbeitete und bereits in jungen Jahren sein ›Hauptwerk‹ vorlegte. Dem gegenüber charakterisieren sie Friedrich Sengle als patriarchal auftretenden Forschungsgruppenleiter, der bereits früh große Projekte leitete, in Kooperation mit ›Schüler:innen‹ umfangreiche Textmengen bearbeitete, sie systematisch in seine Projekte einband und der sein umfangreiches ›Lebenswerk‹ erst spät vorlegte. Als Typ entspreche Sengle dem Bild des Literaturprofessors als Beamten, weniger dem des kosmopolitischen Intellektuellen. Evident werden die unterschiedlichen Arbeitsweisen gleich zu Anfang durch ein Foto, auf dem die Hauptwerke Szondis und Sengles zu sehen sind (30) – Sengles Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815-1848 (Stuttgart: Metzler 1971-1980) und Szondis Theorie des modernen Dramas (Frankfurt am Main: Suhrkamp 1956) unterscheiden sich auf den ersten Blick durch Umfang (Biedermeierzeit ist ein monumentales dreibändiges Werk von insgesamt mehr als 3000 Seiten, Szondis Theorie in der Neuausgabe von 1963 ein schmaler Suhrkamp-Band) und Aufmachung (die leinengebundene Biedermeierzeit-Bände neben dem handlichen und preisgünstigen Taschenbuch). Auf der Grundlage des Archivmaterials zu Szondi und Sengle wollen die Autoren nun aus praxistheoretischer Perspektive einen »empirisch dichteren und gesättigteren Eindruck des wissenschaftlichen Alltags« gewinnen (27).

Den nicht unproblematischen Begriff »Geisteswissenschaft« fassen die Autoren pragmatisch und bündeln darunter lose alle Fächer, »die sich typischerweise zu Mitgliedern einer philosophischen Fakultät eignen« (12). Statt den Fokus – wie sonst so häufig – auf geisteswissenschaftliche Theorie zu legen, zielen die Autoren auf eine umfassende praxeologische Beobachtung und Beschreibung »werktägliche[r] Arbeitspraxis« (20). Dabei verstehen sie unter ›Praxeologie‹ eine »eingebettete Verstehenspraktik«, die es ihnen ermöglicht, konkrete Vollzüge zu beobachten (21). Geisteswissenschaft wird so als wiederholte Performanz verstanden (23); im Zentrum des Interesses stehen also nicht die Ergebnisse geisteswissenschaftlichen Arbeitens, sondern Prozesse und ihre Situativität, ihre Alltäglichkeit, ihre Materialität und ihre Infrastrukturen, ihre Körperlichkeit, ihre Orientierung und ihr implizites Wissen (23). Wichtig ist es Martus und Spoerhase, soziokulturelle Bedingungen und ihre je eigenen Affordanzen und Medien zu untersuchen. Im Fokus steht die soziale Mikroebene, auf der sich Einzelpraktiken schrittweise zu Praxisformationen ausbilden (26). Der Sinn einer einzelnen Praktik erschließt sich, so die These der Autoren, erst im Zusammenhang mit anderen Praktiken. Aus diesem Grund fragen sie nach den Vollzügen von Praktiken in Netzwerken und ihren Anschlussstellen (305f.). Natürlich ist auch das Verhältnis von Praktiken zu situationsübergreifenden Phänomenen (z.B. Institutionen) zu beachten (352). Interessant ist der Ansatz der Autoren, das Hineinfinden in die geisteswissenschaftliche Praxis zu beschreiben, um so ihrem Charakter auf die Spur zu kommen. Ausführlich schenken sie diesem Aspekt in ihren Ausführungen zur Institution Seminar und zum Schreiben von Seminararbeiten Beachtung (z.B. Kapitel 19 und 26). Indem sie fragen, wie neue Praktiker:innen in einen sozialen Zusammenhang integriert werden und wie es zur Inkorporierung nicht nur von Wissen, sondern auch von dem entsprechenden Wertgefüge kommt (25), zeigt sich, dass das bloße Erlernen von Regeln nach Anweisung in keinem Fall ausreicht; regelkonformes Agieren beruht vielmehr auf kontinuierlichem Einüben (26).

Ein kritischer Punkt in praxeologischen Konzeptionen ist das Moment der Transformation von Praktiken (so auch die Autoren, 38). Geht man davon aus, dass Praktiken regelgeleitete Vollzüge darstellen, die sich durch ihre Wiederholung auszeichnen, stellt sich nämlich die Frage, wie Transformation, Unberechenbarkeit und Innovation in den Blick genommen werden können. Die Autoren gehen auf diesen Punkt ausführlich ein. Sie wollen danach fragen, »an welchen Stellen Wandel und Abweichung gepflegt werden, welche Bereiche sich innovationsaffin verhalten und an welchen Stellen der Praxis eher Routine herrscht« (41). Praktiken können »verblassen«, so Martus und Spoerhase, wenn wichtige Bestandteile an Bedeutung verlieren. Eine spezifische Art der Transformation resultiert aus der strukturellen Überforderung durch die alle Praktiken überziehenden »normativen Signifikanzen«. Die »Moderation« wird zur zentralen methodischen Herausforderung: Sie erzwingt eine Auswahl, die stets neu getroffen werden muss und so auch Impulse zur Veränderung des Praktikengefüges gibt (139f.). Unklar bleibt am theoretischen Fundament von Geistesarbeit, welche Rolle das Explizieren impliziter Praktiken für die Veränderung von Praktiken tatsächlich spielt und wie diskursives Wissen über Praktiken ihre Moderation beeinflussen kann. Zugespitzt formuliert: Wird eine Reflexion über die impliziten Praktiken der Geisteswissenschaft, wie Martus und Spoerhase sie unternehmen, zu ihrer Veränderung beitragen können? Das Verhältnis von Norm und Handlung hingegen wird ausführlich thematisiert: Den Autoren zufolge muss es flexibel sein, damit Abweichung möglich bleibt (140). Dabei kommen Martus und Spoerhase – hier Lorraine Daston folgend – zu der interessanten Beobachtung, dass sich, auch wenn eine geisteswissenschaftliche Position in ihrer Theorie großen Wert auf die Betonung eines Bruchs zu vorherigen Vorgehensweisen legt, dieser Bruch nicht notwendigerweise in ihren Praktiken widerspiegelt. Das liegt daran, so die Autoren, dass sich Praktiken langsam verändern und für eine Veränderung des Praxisgefüge die Veränderung mehrerer Praktiken notwendig ist (41). Letztlich führe gerade die Heterogenität des »Praxiskomplexes Geisteswissenschaft«, der oft zum Anlass genommen wurde, von der Krisenhaftigkeit der Geisteswissenschaft zu sprechen, zu seiner Stabilität (z.B. 480ff.).

Die ubiquitären Krisendiskurse stellen, wie gesagt, einen wichtigen Ausgangspunkt der Autoren dar. Martus und Spoerhase machen sie mit dafür verantwortlich, dass die Geisteswissenschaften, anders als die Naturwissenschaften, noch nicht ins Zentrum der Wissenschaftsgeschichte gerückt sind. Das ständige Konstatieren von Krisen führe dazu, dass unzureichend informierte Reformbestrebungen Beobachtungsversuche überlagern. Zweitens habe die »Theoriebegeisterung« in den Geisteswissenschaften bewirkt, dass das eigene Tun gar nicht als Praxis wahrgenommen werde – als »Praxis« wird das bezeichnet, was außerhalb von Universität und Arbeitszimmer passiere (22f.) und im Sinne einer Empirie ist sie in den meisten geisteswissenschaftlichen Fächern weniger angesehen als die stark an Forscherpersönlichkeiten geknüpfte »Theorie« (174ff.). Wichtiges Argument der Autoren dagegen lautet, dass die Theorie-Praxis-Dichotomie nicht weit führe, denn sie vernachlässige, dass das Theoretisieren selbst eine sehr dynamische Praxis aus »tools und moves« sei (171), die ganz entscheidend auch aus körperlichen Vollzügen bestehe (186); stattdessen schlagen sie vor, besser von »Theoriepraktiken« oder der »Praxis des Theoretisierens« zu sprechen (169). Womöglich lässt sich der Aufstieg der »Theorie« als Reaktion auf die wachsende Menge an Informationen in den Geisteswissenschaften erklären: Theorie rechtfertigt Selektivität und es wird ihr die Möglichkeit zugeschrieben, etwas bereits gut Erforschtes neu zu deuten (185). Vor diesem Hintergrund ist es faszinierend, Martus und Spoerhase dabei zu folgen, wie sie Szondis Entwicklung zum ›Theoretiker‹ vor dem Hintergrund der wachsenden Bedeutung von Theorie in den 1960er Jahren rekonstruieren (192–209). Dabei spielten werkpolitische Entscheidungen, insbesondere zur Buchästhetik, eine nicht geringe Rolle als Faktoren für die »Werkwerdung« und transnationale Verbreitung eines Textes (199ff.).

In ihrer Untersuchung von Szondis Habilitationsvortrag »Kleists ›Lustspiel nach Molière‹« zeigt sich deutlich, wie gewinnbringend eine Analyse des überlieferten Materials ist. Martus und Spoerhase untersuchen im Detail die Formulierungs- und Überarbeitungspraxis Szondis und stellen unter anderem fest, dass seine Überarbeitungen keinesfalls immer epistemisch relevante Gründe haben, sondern etwa der sozialen Positionierung bzw. Abgrenzung dienen oder auf Stil- und Geschmacksentscheidungen basieren (56). Die Autoren zeigen auf diese Weise, wie viele verschiedene Faktoren – soziale, sachliche, rhetorische, ästhetische etc. – bei der Produktion geisteswissenschaftlicher Texte eine Rolle spielen. Geisteswissenschaftliches Arbeiten, so schließen sie, folgt »intuitiv einer vagen und globalen Auffassung davon, wie angemessen vorzugehen ist« (126). Praktiken sind in Körpern und Artefakten und nicht in Regeln verankert (127). Im Ausprobieren erst ergeben sich seine Formulierungsentscheidungen. Es ergibt sich die provozierende These, dass Regelwissen kaum eine Rolle spielt, sondern »situative Faktoren« (137) und das, was die Autoren im Anschluss an Stefan Hirschauer »Rummachen« in intersubjektiven und interobjektiven Beziehungen (235) nennen: Man experimentiert, bis ein bestimmter Zustand an Plausibilität und Angemessenheit erreicht ist. Gedanken stellen sich erst im Umgang mit Material ein und die Forschungsziele ergeben sich erst im Laufe der Arbeit (250). Auch in Bewertungsprozessen spielten diese »Verfahren des federnden Ausprobierens sowie des Vor- und Zurücklaufens von Argumenten für oder gegen normative Ordnungen« eine zentrale Rolle (135f.). Trotzdem könne so etwas wie Verbindlichkeit entstehen (138). Zusammenhalt, so argumentieren die Autoren, entstehe nicht aus dem Befolgen von Normen selbst, sondern aus dem Gefühl einer Gruppe heraus, zu einer Normgemeinschaft zu gehören, die diese Normen eigentlich befolgen sollte – ob es ein Einzelner dann tut, ist nicht das Entscheidende, er oder sie kann sich dann im zweiten Schritt sogar kritisch gegenüber den Normen äußern (140).

Am Beispiel Sengles untersuchen die Autoren dann Formen geisteswissenschaftlicher Kollaboration (72). Sengle war über 25 Jahre lang Leiter von großzügig unterstützten DFG-Projekten – in einer Zeit, versteht sich, in der das Antragschreiben und Projekteleiten noch nicht obligatorischer Bestandteil einer geisteswissenschaftlichen Karriere war (327, 334f.). Gefördert wurde allerdings, anders als in Großforschungsprojekten heute, direkt die Person Sengle, die auf diese Weise Arbeiten an seinem Projekt zur Biedermeierzeit an Studierende und Doktorand:innen delegieren konnte (335). Über Jahrzehnte hinweg arbeitete Sengle an seinem literaturhistorischen Projekt zur Biedermeierzeit und betreute in diesem Rahmen fast 50 Doktorand:innen, die er mit Teilaspekten des Großprojekts beauftragte. Sengles Delegieren aber betraf nicht nur das Verteilen von Themen – die abgeschlossenen und zum Teil unpublizierten Dissertationen wurden dann in Sengles Büchern genannt (310) – sondern auch das Delegieren von Exzerpten von Sekundärliteratur, die Sengle allein nicht hätte bewältigen können. Zum Dank werden die Namen der beteiligten Doktorand:innen am Ende eines der Bände in einer Liste genannt (319). Anhand von Textproben zeigen die Autoren, an welchen Stellen Sengle sich auf die Formulierungen in den Exzerpten verließ und diese ohne Nachweis in die Biedermeierzeit übernahm (74–81). Aber Sengle ging so weit, sogar die Vorarbeiten für Gutachten seinen Mitarbeiter:innen zu überlassen. Und hier schließt sich für einen Moment der Kreis: Sengle war Teil des Gutachtergremiums für Szondis Berufungsverfahren an der Universität Frankfurt 1964, bei dem Szondis Bewerbung abgelehnt wurde. Einen Großteil der Begutachtungsarbeit delegierte Sengle an eine Doktorandin, die Szondis Schriften exzerpieren und einschätzen sollte (34–37). Martus und Spoerhase können zeigen, wie Sengle sich so weit auf die Vorarbeiten der Doktorandin verließ, dass er sogar Formulierungen in sein Gutachten übernahm. Die Autoren verdeutlichen an diesem Beispiel, wie sich Normen, die bestimmen, welche Arbeiten delegiert werden dürfen (94), welcher Akteur in kollektiven Arbeitsprozessen die Autor:innenschaft für sich beanspruchen darf und wie Arbeiten zitiert werden, ändern.

Ein weiteres interessantes Ergebnis der »praxissensiblen« Untersuchung von Sengles geisteswissenschaftlicher Arbeit ist eine genaue Beschreibung seiner impliziten Leistungskonzeption. Die eigentliche Leistung, das schließen Martus und Spoerhase aus den nachgelassenen Schriften, liegt für Sengle in Planung, Koordination und in der Synthese einer großen Menge an heterogenen Daten. Die Materialbeschaffung hingegen habe für ihn eine rein instrumentelle Funktion und könnte ohne Bedenken – und mit didaktischen Funktionen verknüpft – an ›Schüler:innen‹ oder an »literaturwissenschaftliche Dienstleister« delegiert werden (98–103). Insgesamt bewertete Sengle die literaturhistorische Synthese höher als philologische Spezialforschung, die sich Mitarbeiter:innen übertragen ließe – eine Beobachtung, die sich auch am Druckbild zeige, wenn der Haupttext für das Gesamtbild vorbehalten bleibt und die spezialphilologische »Zuarbeit« in die Fußnoten verdrängt werde (106). Diese Gewichtung hält Sengle für unabdingbar, denn in Teamarbeit ließe sich keine Literaturgeschichte schreiben, fehlte es ihr doch dann an Homogenität, für die nur eine Einzelperson sorgen könne (108). Kollaborative geisteswissenschaftliche Praxis steht hier also in keiner Weise singulärer Autorschaft entgegen. Ausgehend von diesen Beobachtungen zu Sengles Arbeitspraktik, die ganz entscheidend auf asymmetrischen Beziehungskonstellationen beruhte, schwenken die Autoren in die Gegenwart, in der es kaum noch vorkomme, dass ein Professor so viele Mitarbeiter:innen in Abhängigkeitsbeziehungen unter sich arbeiten lassen könne (asymmetrische Arbeitsbeziehungen aber freilich immer noch vorkommen) (112). In einem letzten, vielleicht etwas zu umfangreichen Teil, zeigen die Autoren anhand des mittlerweile kaum noch praktizierten Zirkulierens von Sonderdrucken, wie eng soziale Praxis, strategisches Netzwerken, aber auch freundschaftlich-kollegiale Kommunikation mit der Forschungspraxis in Verbindung stand (428–481). Hier geht es erneut um »Praxisformen«, das heißt »sozio-mediale Gefüge, die Einzelpraktiken miteinander im Praxisvollzug verketten und diese in ihrer je spezifischen Verkettung erst bestimmen« (477). Auch am Sonderdruck zeigen die Autoren, wie sich Praktiken der Soziabilität, der Publikation, der Evaluation, des Sammelns und der Selbstdarstellung verändern (478).

Geistesarbeit, so ein Ergebnis der Autoren, basiert auf verschränkten Praktiken wie Lesen und Schreiben in nichtlinearen Prozessen, die Routine und Momente der Unbestimmtheit gleichermaßen umfassen. Interobjektive Dimensionen (z.B. der Umgang mit Büchern und Notizzetteln) spielen eine wichtige Rolle (56f.). Dazu gehören auch die Beziehungen der Forschenden mit sogenannten »epistemischen Dingen« (die Autoren beziehen sich hier auf Hans-Jörg Rheinbergers Begriff), also Dingen, die die Forschenden affizieren und Forschungsprozesse stimulieren (237–245). Wichtig sind vor allem aber auch intersubjektive Praktiken, die sich nicht allein im direkten persönlichen Austausch mit Kolleg:innen zeigen: Die »community of practice« ist mittels »virtuelle[r] Kommunikationspartnerschaften« im Text vorhanden und wird dann offensichtlich, wenn durch bestimmte Formulierungen auf die Forschungsgemeinschaft Bezug genommen wird, wenn Abgrenzungen oder Kontinuitäten angedeutet werden und potenzielle Adressat:innen berücksichtigt werden (64ff.; 69), denn was als interessante Fragestellung erachtet wird, ergibt sich erst in Auseinandersetzung mit der Community (268). Geistesarbeit, so ein wichtiges Ergebnis, ist niemals eine allein vollzogene Tätigkeit. Anhand der Arbeitspraktiken Szondis widerlegen die Autoren auch schnell das Bild des ruhig am Schreibtisch arbeitenden Geisteswissenschaftlers. Im Gegenteil, Textarbeit sei geprägt von Unruhe, einem ständigen Wechsel zwischen den Rollen als Lesender und Schreibender, ein kontinuierliches Ausprobieren, Verwerfen, Verschieben und allmähliches Stabilisieren (68). Geisteswissenschaftliche Forschung beschreiben Martus und Spoerhase dementsprechend als eine »kontingente[] Suchbewegung« und als einen Versuch, »unterschiedliche Bezüge und Perspektiven passend zu arrangieren« (248).

So sehr die pragmatischen Gründe für die Auswahl der beiden exemplarischen Geisteswissenschaftler, Szondi und Sengle, überzeugen und so beeindruckend das untersuchte Material ist, bleibt doch die Frage, ob in der Beschreibung zweier unweigerlich typisierten Forscherpersönlichkeiten wie Szondi und Sengle nicht die Gefahr liegt, geisteswissenschaftliche Praxis, die von den angeführten Beispielen abweicht, als genau das zu sehen – nämlich als Abweichung von einer Norm. Dass die detaillierte Beobachtung der Praktiken zweier männlicher Literaturwissenschaftler in der Bundesrepublik Deutschlands der 1960er bis -80er Jahre kein erschöpfendes Bild geisteswissenschaftlicher Praxis bieten kann, reflektieren die Autoren zu Beginn ihrer Überlegungen (37; 42). Sie beanspruchen nicht, dass die gewählten Beispiele Szondi und Sengle uneingeschränkt verallgemeinerbar wären (37) und thematisieren selbst, freilich in anderem Zusammenhang, das Problem der Übertragbarkeit anhand von Modellsystemen, die durch ihre behauptete Universalität eurozentristisch und metrozentristisch (also Metropolen privilegierend) vorgehen (226f.). Reformen der durchaus reformbedürftigen Geisteswissenschaften, so die Autoren, könnten nur von einer profunden Kenntnis der alltäglichen Arbeitspraxis ausgehen (43). So bleibt zu hoffen, dass nach diesem Auftakt drängende Fragen in Angriff genommen werden können, wie zum Beispiel, welche Affordanzen in Praktiken und Infrastrukturen der Geisteswissenschaft liegen, sodass ein bestimmter Typ Wissenschaftler bevorzugt darin reüssiert und andere strukturell ausgeschlossen oder zumindest stark benachteiligt werden; welche Beschäftigungsverhältnisse Geistesarbeit ermöglichen und welche sie behindern (Stichwort #IchbinHanna) und welches soziale und ökonomische Kapital Voraussetzung für Geistesarbeit ist. In Vorwort und Nachwort nennen die Autoren selbst Themen, die sie ausgespart haben, ihnen aber ein Anliegen sind, darunter: »Effekte des akademischen Kapitalismus« (nach Richard Münch, der die Tendenz beobachtet, dass Unternehmensstrukturen immer mehr auf Universitäten übergreifen), die »›Metrifizierung‹ der Wissenschaft« (also der Rückgriff auf digitale Daten zur Messung von individueller Forschungsleistung oder der Qualität von Universitäten), der »massive[] Wandel der Publikationsregime in den Geisteswissenschaften« (42) und die »Transformationen in den Karrierestrukturen in den Geisteswissenschaften« (486). Das sind Fragestellungen, die jetzt behandelt werden müssen – und deren Untersuchung dank der Vorarbeit von Martus und Spoerhase in Geistesarbeit auf ein solides Fundament aufbauen kann.

Anmerkungen

[1] Carolin Amlinger, Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit, Berlin 2021. [zurück]

2024-08-07

JLTonline ISSN 1862-8990

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