Johann Gartlinger
Literatur-Philosophie als Vexierbild
Christian Benne, Christine Abbt: Mit Texten denken. Eine Literatur-Philosophie, Wien: Passagen Verlag 2021. 360 S. [Preis: EUR 39,50]. ISBN: 978-3-7092-0477-1.
Christian Benne, Professor für Europäische Literatur und Geistesgeschichte an der Universität Kopenhagen, und Christine Abbt, Professorin für Politische Philosophie an der Universität Graz, legen mit ihrem im Passagen Verlag publizierten Band Mit Texten Denken. Eine Literatur-Philosophie eine programmatische Antwort auf »aktuelle Krisen des Denkens und Handelns« vor, wie der Klappentext des Bandes ohne nähere Bestimmung dieser Krisen ankündigt. Verschiedene Forschungsschwerpunkte der Verfasser fließen in dieses gemeinschaftliche Projekt ein, Abbt beispielsweise mit ihrer Expertise zu Denis Diderot und Christine de Pizan, Benne mit seiner Forschung zu Friedrich Nietzsche und Friedrich Schlegel.
Zu Beginn der Besprechung muss man mit Schlegel fragen: »Wo soll also eine philosophische Rezension anfangen und endigen?«[1] Bereits die Menge der angeführten Autor:innen und Themen macht es schwer, dem komplexen Gefüge gerecht zu werden, denn Mit Texten Denken schlägt sowohl systematisch als auch historisch große Bögen und verfolgt im Dialog mit verschiedensten Autor:innen sehr ambitionierte wissenschaftlich-politische Ziele. Schlegel weist auf eine weitere, tiefer liegende Schwierigkeit beim Verfassen von Rezensionen hin: dass »kein sichres Maß und Gewicht« verfügbar sei, um eine philosophische Rezension zu verfassen, denn solange eine Wissenschaft vom Ganzen nicht bestehe könne auch das Verständnis des Einzelnen nur provisorisch sein.[2] Er selbst macht in seinen Rezensionen aus dieser Not eine Tugend und beginnt bei einzelnen Texten, aus denen er dann allgemeinere Aussagen als »Totalisazion von unten herauf«[3] entwickelt. In gewisser Hinsicht versuchen Benne und Abbt in vier Kapiteln eine ähnliche Antwort auf dieses grundlegendere Problem zu finden – wenn auch nicht im Hinblick auf das Verfassen einer Rezension, sondern in allgemeinerer Perspektive auf das Selbstverständnis von Philosophie und Literatur(wissenschaft). Auch bei ihnen ist die Literatur mehr als nur Gegenstand philosophischer Betrachtungen oder Beispielreservoir; sie nehmen einzelne Werke zum Ausgangspunkt, denken mit ihnen, setzten sie in Beziehung zueinander und machen sie zum Bestandteil allgemeinerer Perspektiven. Aktuelle anthropologische oder geschichtsphilosophische Fragen kommen so ebenso in den Blick wie Reflexionen zum Umgang mit als literarisch klassifizierten Texten und der zugehörigen Forschung.
1.
Das erste Kapitel beginnen die Autoren mit einem programmatischen Aufriss ihrer Vorstellung von »Literatur-Philosophie«, die »keiner Leittheorie verpflichtet ist, die von der Lektüre bloß bestätigt wird.« (17) Der Anspruch ist also nicht, eine Theorie oder ein philosophisches System zu entwickeln, das sich dann auf einzelne Texte anwenden ließe. Vielmehr sollen sich Literatur und Philosophie auf Augenhöhe verständigen. Die Notwendigkeit eines solchen »Mediums der Verständigung« (12) begründen sie daraus, dass Philosophie und Literatur nicht strikt voneinander getrennt werden, die eine Disziplin aber auch nicht durch die andere erklärt werden soll. Sie grenzen sich von einem »angelsächsischen« Verständnis von »literature and philosophy« (12) ab, das eine »holzschnittartige Aufteilung von Zuständigkeiten« (13) betreibe und dabei der Philosophie die Rolle der Universalität, der Literatur die Rolle der Partikularität und des Anschauungsmaterials zuweise. Aber auch von einer mit Martin Heidegger verbundenen Vorstellung von »Dichterphilosophen« (16), die die Dichtung als eigentliche Domäne des Denkens ansähen, distanzieren sie sich. Es fehle in dieser Spielart, so die Verfasser, der »Sinn für die gesellschaftliche Einbettung der Literatur« (17). Zuletzt nehmen sie auch Abstand von Gottfried Gabriels und Christiane Schildknechts Konzeption einer »Literaturphilosophie«, da sie ihren Ansatz »historischer« ausrichten und »in stärkerem Maße literaturwissenschaftliche und philologische Methoden« einbeziehen (20) wollen.
Wichtig für die Verortung der angestrebten Denkart erscheint zunächst, »Philosophie und Literatur gemeinsam vom Wissen zu emanzipieren, ohne auf Wissen zu verzichten« (21) und dabei auf literarische wie philosophische Weise ein »Gegen-Wissen« (21) zu entwickeln. Es solle darum gehen, »Wissen wieder als Einheit zu denken, als Einheit vor allem auch mit dem Handeln« (35) und dadurch eine allzu schematische Unterscheidung von theoretischer und praktischer Philosophie zu unterlaufen. Der Bindestrich zwischen Literatur und Philosophie soll eine »antimetaphysische Geste« (48) zum Ausdruck bringen, die auf eine irreduzible Fülle von Bedeutungen in textlichen Erzeugnissen hinweist und wohl auch ihren eigenen Ansatz als einen interpretationsoffenen, unabgeschlossenen und durchaus revidierbaren präsentiert. Umwege, Randbemerkungen und Exkurse werden den Idealen von Reinheit und Klarheit an die Seite gestellt (vgl. 53). Es geht um eine »Anerkennung von Verstrebungen, Vermischungen, Überlappungen, Übergängen, Wechselwirkungen, Abhängigkeiten, Einflussnahme und Komplizenschaft in allen menschlichen Belangen« (48).
Ihre sprachliche Verfasstheit zeigen Literatur und Philosophie vor allem in »schriftsprachlichen Texten« (28), das titelgebende Denken mit Texten erfährt hier eine erste Bestimmung: »Mit Texten zu denken heißt dann, die Texte editorisch genauso ernst zu nehmen wie grammatisch-stilistisch oder im Rahmen relevanter Kon- und Paratexte.« (28f.) Eine von Clifford Geertz inspirierte Praxis der »dichten Beschreibung« soll die »Komplexität im Denkvorgang« (29) erhalten, wobei die gesellschaftliche Einbettung und die politische Rolle von Literatur und Philosophie immer wieder betont werden (vgl. 30). Aktuelle Fragen zur Geschlechterdebatte oder dem interkulturellen philosophischen Dialog sollen so literatur-philosophisch neu perspektiviert werden (vgl. 32). Die Literatur-Philosophie nimmt dabei weder die Rolle einer Teildisziplin der Literaturwissenschaft oder der Philosophie ein, noch soll sie eine beiden Disziplinen übergeordnete Meta-Wissenschaft sein. Neben einem Plädoyer für das Lesen ganzer Bücher machen die Verfasser drei Vorschläge, wie ein Denken mit Texten in der Praxis verwirklicht werden könne: (1) Das Denken solle sich neben der Auseinandersetzung mit einschlägigen Autoren wie Hölderlin oder Nietzsche eine Offenheit für nicht-kanonische Texte erhalten. (55) (2) Es soll »werkzentriert« sein, d. h. die Texte selbst und nicht ihre »diskursive Einbettung« (55) sollen den Ausgangspunkt von Analysen bilden. (3) Das Denken soll sich auf »Zusammenhänge« richten und so die Trennung von Literaturwissenschaft und Philosophie ebenso wie die innerdisziplinäre Trennung von theoretischer und praktischer Philosophie überwinden und die professionellen Standards der Literaturwissenschaft, die eine umfassende Kenntnis der Sekundärliteratur zur Voraussetzung der Analyse mache, unterlaufen (vgl. 56).
Ein möglicher Fluchtpunkt der Literatur-Philosophie ist das »literarisch-essayistische Genre« (57). In dessen Konturierung geben die Autoren zu bedenken, dass ihre Vorstellung von Literatur-Philosophie zu einer »weitreichenden Veränderung der Universitäten« führen würde (57). Hier werden die Kritik am institutionellen Status quo und das große und durchaus radikale Unterfangen deutlich, welches Benne und Abbt mit ihrem Vorhaben verfolgen. Vage gelassen wird zumindest im vorliegenden Band aber die positive Ausgestaltung einer solchen Veränderung: Geht es um die Etablierung einer neuen Disziplin, geht es darum, zum Beispiel Universitäten andere Orte zur Seite zu stellen oder sie gar durch einen Gegenort zu ersetzen?
2.
Steckt das erste Kapitel den konzeptionellen Rahmen für die weiteren Ausführungen ab, so eröffnet das zweite eine historische Tiefenperspektive auf das Verhältnis von Literatur und Philosophie. Es vereint eingehende Lektüren von Diderot, Kant und Schlegel und befragt die jeweiligen Werke nach ihren literatur-philosophischen Implikationen. Zwar wird die Auswahl der Autoren nicht begründet, im Fortgang der Lektüre leuchtet der Dreischritt aber ein. Zunächst rückt Diderots Dialog Salon de 1765 in den Fokus, in dem unter anderem das platonische Höhlengleichnis neu gedeutet und in Bezug auf »Macht und Machtverteilung« (62) innerhalb der Höhle befragt wird. Dem Salon an die Seite gestellt wird anschließend Diderots Text Paradoxe sur le comédien. Dieser behandelt den Schauspieler als »Verkörperung eines Vexierbildes« (67) und Paradoxes, wobei Relativismus und Partikularismus als »zwei wirksame Rahmenbedingungen von Mensch-Sein und Bewusstheit eingebracht« werden. (76) Diderots Schreiben sei literatur-philosophisch gedeutet »jenes Vexierbild von Kunst und Philosophie, das sich in der Sprache vermittelt« (70). Die Figur eines Vexierbildes wird immer wieder aufgerufen, allerdings nicht näher definiert. Sie weist aber auf ein Denken, das sich nicht im Sinne eines mathematisch-logischen oder auch dialektischen Denkens auflösen lässt, sondern vielmehr verlangt, im Vollzug in immer neuen Anläufen dechiffriert zu werden. Schließlich wird im Anschluss an Diderot auch die Figur eines »philosophe« herausgearbeitet, der als Akteur verstanden wird, in dem sich Reflexion und sozialpolitisches Handeln vereinen (vgl. 80).
Im Abschnitt zu Kant konzentrieren sich die Verfasser vorrangig auf seine Ausführungen zur ästhetischen Idee, die in Kants philosophischem Gebäude das Darstellungsproblem der Vernunftideen lösen und »die Vernunft mithilfe der Sinnlichkeit vor ihren eigenen Verirrungen schützen« (85) soll. Ästhetische Ideen nehmen eine vermittelnde Ebene zwischen Idee und Anschauung ein und bezeichnen »die Einsicht des vermittelten und vermittelnden Verhältnisses zwischen verschiedenen Arten von bestimmbaren und unbestimmbaren Vorstellungen einerseits sowie begrifflichen wie anschaulichen Bestimmungen andererseits« (92). Ohne im Detail auf die Argumentation eingehen zu können, wird die vermittelnde Funktion der ästhetischen Ideen für die Literatur-Philosophie deutlich: Zielpunkt ist der »kommunikative Charakter der Kunst«, wobei die ästhetische Idee »nicht nur zwischen Notwendigkeit und Freiheit, Wissen und Handeln, Natur und Gesellschaft, sondern auch zwischen Mensch und Mensch« vermittelt (104).
Der letzte Abschnitt des zweiten Kapitels widmet sich erneut der Zeit um 1800, die Benne und Abbt in historischer und systematischer Hinsicht als besonders wichtig für eine Verbindung von Philosophie und Literatur ansehen. Hier stehen die Schriften Friedrich Schlegels im Zentrum, die von den Autoren als »emblematische Fallstudien für das Denken mit Texten« (106) präsentiert werden. Vor allem Schlegels Überlegungen zu Geschlechterverhältnissen, die als Allegorie für die »Vereinigung von Poesie und Philosophie« (109) gelesen werden, rücken ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Literatur und Philosophie können in der skizzierten Konzeption auf Augenhöhe miteinander und voneinander lernen: Literatur bezeichnet »den Imperativ, sich eine andere Art der Philosophie vorzustellen« und wird nicht länger nur als »pädagogisches Hilfsmittel« (117) aufgefasst. Es geht den Autoren um einen »ewigen Prozess aus Nachdenken und Verständigung«, den sie im Anschluss an Schlegel als »Mitteilung« fassen (120). Über diesen infiniten Verständigungsprozess wird die Situations- und Kontextabhängigkeit sowohl von Literatur als auch Philosophie unterstrichen, die immer an konkrete, gemeinschaftlich vermittelte Aushandlungsprozesse geknüpft sei und damit auch ein anderes Bildungsverständnis propagiere, das nicht auf die Übermittlung von vorab festgestelltem Wissen abziele: Nicht die schematische Anwendung von Instrumenten und Werkzeugen, sondern »die Arbeit des eigenen Verstehens und damit des eigenen Hervorbringens – poiein – von Bedeutung« (129) soll im Zentrum stehen. Diese Überlegungen könnten durch weitere Schriften Schlegels vertieft werden. Gerade Schlegels Auseinandersetzung mit der Philologie, so zum Beispiel in den Notizen »Zur Philologie« könnten das Verhältnis von Philosophie und Philologie mitsamt ihrem Bezug zur Historie und zur Kritik fruchtbar erweitern. Die Autoren verzichten darauf, ihre Expertise – gerade von Christian Benne liegen hierzu Publikationen vor, die nur in Fußnoten genannt werden – in vertiefender Weise in die Diskussion um Schlegel einzubringen. Politisch entwickeln die Verfasser aus Schlegels Schriften einen »repräsentativen Republikanismus«, der gegen »populistische Vereinfachungen« schützen soll (130). Die philosophisch-literarische Auseinandersetzung mit Schlegel und anderen ist für Benne und Abbt mehr als nur eine zeitlich begrenzte Untersuchung. Aus der geschichtlichen Betrachtung der Autoren werden Entwicklungen deutlich, die in unsere Zeit hineinwirken und systematisch von aktueller Bedeutung sind.
3.
Nach den programmatischen Darlegungen im ersten und der historischen Verortung der Literatur-Philosophie im zweiten Kapitel rückt das dritte Kapitel theoretische Tendenzen des 20. Jahrhunderts in den Fokus und gelangt über den Strukturalismus und Poststrukturalismus auch zu aktuellen theoretischen Spielarten des Realismus wie dem New Materialism, dem Spekulativen Realismus oder der Objektorientierten Ontologie. Der Wunsch dieser realistischen Theorieströmungen, ein »Jenseits der Sprache« (133) zu finden, wird von den Verfassern kritisch beleuchtet, wobei vor allem das jeweilige Materialitäts- und Zeichenverständnis im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht. In Bezug auf den Realismus lautet einer der Haupteinwände: »Im ›realistischen‹ Zugriff auf die Phänomene gehen jene Aspekte verloren, auf die das Prädikat ›real‹ überhaupt erst Bezug nehmen könnte oder müsste: das Begehren nach den Gegenständen, ihre Beziehungen zu uns, die offenen Möglichkeiten eines je neuen Umgangs mit ihnen.« (142) Als Alternative nur eine zeichenzentrierte Theorie zu entwickeln ist für die Verfasser kein Ausweg: Zeichen seien nie kontextlos gegeben, sondern eingebettet in eine Wirklichkeit (vgl. 132).
In mehreren textnahen Lektüren – betrachtet werden unter anderem Herta Müller, Peter Huchel und Samuel Beckett – wird das Verhältnis von Zeichen und Realität näher exemplifiziert. Vor allem Becketts Endspiel erfährt eine eingehende Auseinandersetzung, die auch philosophisch-essayistische Interpretationen von Theodor W. Adorno, Stanley Cavell und Dieter Henrich ausführlich einbezieht. Benne und Abbt richten sich in ihren Lektüren gegen die von Beckett ausgehende »Versuchung«, »sich dem Existentialismus emphatisch wieder zuzuwenden« (164), wobei unabhängig von der Frage nach dem Status existentialistischer Zugriffe die doppelte Herangehensweise deutlich wird: Klassischerweise als »literarisch« bezeichnete Autor:innen werden mit philosophischen Fragen konfrontiert, ebenso wie klassische »philosophische« Positionen auf ihr literarisches Potential hin untersucht werden. Der Literatur-Philosophie müsse es darum gehen, »den literarischen wie den philosophischen Beckett als unteilbares Vexierbild zu rekonstruieren« (168). Trotz positiver Bezugnahmen auf Adorno, Cavell und Henrich kritisieren die Verfasser deren Zentralität der Subjektorientierung und wollen demgegenüber den Menschen in seiner sozialen Dimension mit Beckett darstellen: »Es geht nicht um Hamm, es geht nicht um Clov. Es geht um das Spiel, das sie aufführen.« (189) Benne und Abbt versuchen dabei die Befunde des Absurden und postdramatischen Theaters für einen Umgang mit Becketts Text fruchtbar zu machen, der auf den Kontext Rücksicht nimmt (vgl. 197). Der angestrebte Modus der Auseinandersetzung wird auch als »fünfte Wand« bezeichnet, »die den Raum umschreibt, den Schauspieler und Publikum gemeinsam bevölkern«, wobei »Welt der Bühne« und »wahre Welt« analogisiert werden (200). Zusammenfassend konstatieren die Verfasser, dass der Mensch mehr als nur ein körperloses Wesen ist, das sprachlich mit anderen Wesen kommuniziert. Sein soziales Wesen ist nicht nur Mittel, sondern auch Zweck einer unendlichen Kooperation, in der möglicherweise auch die grundsätzliche Trennung zwischen den Menschen überwunden werden könne (vgl. 206). An dieser Stelle wird auch das Gemeinschaftsprojekt des Bandes theoretisch fassbar und als praktische Umsetzung einer sozialen und dabei spielerischen Kooperation verständlich.
Das Kapitel wird auch als Kommentar zur Frage nach modernen Bedingungen von Subjektivität verstanden, der »Problemkreis Subjektivität« (207) gilt als exemplarisch für die Relevanz eines literatur-philosophischen Ansatzes. Vorschläge eines narrativen oder »Minimalselbst« (218) werden kritisch beleuchtet, da sie einerseits ein autonomes Subjekt durch die Hintertür wiedereinführen, das »strikt dualistisch getrennt vom leiblichen beziehungsweise instinktgeleiteten Selbst« sei, und andererseits den Begriff der Narration an ein »unterkomplexes und offen teleologisches Modell« (219) knüpfen.
Positiv beziehen sich die Verfasser auf eine Konzeption des »erzählbaren Selbst« (225) der italienischen Philosophin Adriana Cavarero, das »sowohl transzendentales Subjekt als auch Objekt der autobiographischen Praktiken des Gedächtnisses« sei (225). Allerdings versuchen sie Cavareros Folgerung, sich von der Philosophie ab- und dem Geschichtenerzählen zuzuwenden, durch ihre Literatur-Philosophie zu relativieren. Die Literatur helfe, »als maximalisierte und pluralisierte Fülle dichter Beschreibungen« (236) über Subjektivität anders nachzudenken. Die Philosophie könne durch einen anspruchsvolleren Begriff der Erzählung und ihre Reflexionskompetenz das Selbst ebenfalls neu denken. Der letzte Teil des dritten Kapitels reflektiert mit Gertrud Kolmars Susanna nochmals die Grenzen von Sprache und kommt unter anderem zu dem Ergebnis, dass der »Satz des Widerspruchs, wonach etwas entweder eine Eigenschaft aufweist oder diese nicht aufweist durch die Anerkennung weiterer Dimensionen relativiert« (253) werden müsse. Das Unbestimmte und Vielgestaltige könne durch die Literatur-Philosophie artikuliert werden, da sie selbst disziplinäre Trennungen und damit einhergehende Sprachverwendungen problematisiere (vgl. 254). Es findet sich auch hier der im gesamten Band in verschiedenen Variationen vorgenommene Versuch, ein Denken der Mehrdimensionalität zur Darstellung zu bringen.
4.
Nach dem Schwerpunkt auf anthropologischen Fragen im dritten Kapitel wendet sich das abschließende vierte Kapitel der Geschichte bzw. geschichtsphilosophischen Fragen zu, wieder mit dem Ziel, eine literatur-philosophische Perspektive zu erarbeiten. Gesucht werden Antworten auf eine behauptete »Krise der Literatur- wie auch Philosophiegeschichtsschreibung« (256). Die Verfasser plädieren für eine »zur Literatur- und Philosophiegeschichtsschreibung komplementäre Literaturgeschichte der Philosophie« (255), die sich als genitivus subiectivus wie obiectivus verstehen lässt. Durch eine Aufhebung von Text und Kontext werde es möglich, literarische und historische Kontexte philosophischen Schreibens in den Blick zu nehmen und Literatur auf ihre philosophische Relevanz hin zu untersuchen (vgl. 260). Ziel seien keine »abschließbare[n] Wissensstände« (260), sondern Entdeckungen, die neue systematische Überlegungen ermöglichten und Historizität und Aktualität von Text und Kontext reflektierten.
Exemplifiziert werden diese allgemeinen Überlegungen wiederum an konkreten Texten, so an Cavells Lektüre von Shakespeares King Lear. Sie führe den Zusammenhang von Erkenntnis und Handeln, von theoretischer und praktischer Philosophie vor Augen. Für die Verfasser wird hier ein Modell für die Einbeziehung historischer Literatur in aktuelles Denken sichtbar, das den literarischen Text weder rein historisch betrachtet, noch zu einem Beispiel einer philosophischen Argumentation macht (vgl. 267).
Über den Begriff der Kontingenz führen die Verfasser zum Ende nochmals auf die ethische Rolle ihrer Literatur-Philosophie hin. Weder die »Ideale einer absoluten Kontingenzbewältigung wie auch einer absoluten Kalkulabilitätsbewältigung« (287) erscheinen ihnen attraktiv, vielmehr soll eine »feine Balance« zwischen ihnen gefunden werden. Die ethische Folgerung daraus lautet schließlich:
Dieser Denkstil trägt aber, und das ist eine entscheidende Pointe der Literatur-Philosophie, keine ausschließlich epistemologische Signatur, sondern enthält zugleich eine (cum grano salis: intuitionistische) Form der Ethik: mit Texten zu denken heißt auch mit Texten zu handeln. Die Literatur geht nicht von abgesicherten Sätzen aus, sondern von Stimmen. Die Literatur-Philosophie bringt die Sätze, die Stimmen, die Texte zusammen. (288)
Dass mit Texten denken auch heiße, die »blinden Winkel auszuleuchten, die in der Praxis dieses Denkens selbst entstehen« (289), wird mit einer letzten Lektüre von Judith Butler und Christine de Pizans Buch von der Stadt der Frauen reflektiert. Das von der Literatur-Philosophie angestrebte »Zusammenspiel von Ideengeschichte und persönlicher Rezeption, von Sich-Äußern und Aussage, von Beispielhaftigkeit, Konkretisierung und Neuem« (296) sehen die Verfasser in dem Werk realisiert, ohne dass es darin auf den Begriff gebracht oder verabsolutiert wird.
Insgesamt kann man sagen, dass die Literatur-Philosophie zu gewissen akademischen Strömungen wie den neuen Realismen oder sprachanalytischen Ansätzen durchaus quer steht. Vielleicht ist die Konzeption von Benne und Abbt aber gerade durch ihr Insistieren auf einem zusammenhängenden und dialogischen Denken für gegenwärtige Debatten fruchtbar. Der Versuch, in immer neuen Lektüren literarischer und philosophischer Texte Modelle des Nachdenkens über aktuelle Fragen zu finden, führt in vielen Fällen zu anregenden Ergebnissen. Auch wenn viele der untersuchten Autor:innen durchaus im Hinblick auf eine literatur-philosophische Kanonbildung gelesen werden, geht es den Verfassern nicht um eine Sakralisierung der Positionen. Immer wieder ist es die kritische Auseinandersetzung mit den bereits vorhandenen Antwortversuchen, die die Aktualität und Lebendigkeit des gewählten Zugangs deutlich macht.
So begrüßenswert, wichtig und einleuchtend diese Verhältnisbestimmungen sind, so wird nicht vollständig klar, auf welcher Ebene die grenzüberschreitende Geste des Ansatzes zu verorten ist. Geht es vorrangig um eine innerdisziplinäre Neuausrichtung von Philosophie und Literaturwissenschaft? Oder zielt das Vorhaben auf ein neues Verständnis von Geistes-Wissenschaft ab, das durch die Konzentration der Verfasser auf den Wissensbegriff und den institutionellen Status von Wissenschaft in der Gesellschaft durchaus angelegt ist? In beiden Lesarten lässt sich ein gewisser Widerspruch zwischen grenzüberschreitender Geste und grenzziehender Praxis konstatieren. Sofern es – der ersten Lesart folgend – um eine Neuausrichtung der Disziplinen Literatur und Philosophie als Literatur-Philosophie geht (auch wenn diese nicht in einer Meta-Disziplin aufgehen sollen), So ist die eingehende Auseinandersetzung mit Texten der analytischen Philosophie oder auch mit nicht-westlichen Texten literarischer oder philosophischer Traditionen im vorliegenden Band verhältnismäßig gering. Durch ausgiebigere Lektüren solcher Texte könnte die Grenzüberschreitung auch praktisch noch stärker unterstrichen und umgesetzt werden.
Geht es – der zweiten Lesart folgend – um die größere Frage nach einem alternativen Wissenschaftsverständnis, um ein »selbstbewusstes Plädoyer für die Geisteswissenschaften unserer Zeit« (11), so stellt sich die Frage, weshalb nicht weitere, künstlich disziplinierte Erkenntnisbereiche in ein ganzheitliches Denken einbezogen werden. Zum Beispiel werden Soziologie oder Theaterwissenschaften zwar implizit und über Texte vermittelt verhandelt, Erwartungen werden jedoch vor allem an die Schlagworte der Literatur und der Philosophie gerichtet und anhand deren Verhältnis erörtert. Bildende Künste oder kunstwissenschaftliche Zugänge werden wie das Verhältnis zu den empirischen Wissenschaften eher indirekt kartiert, beide könnten aber – kritisch reflektiert – durchaus Teil des propagierten »Gegen-Wissens« werden.
Insgesamt versammelt der vorliegende Band wichtige Einsichten sowohl in historischer wie in systematischer Hinsicht und kann als Grundlage für vielfältige weitergehende Untersuchungen dienen – zu denken wäre an eine literatur-philosophische Auseinandersetzung mit dem Werk Montaignes oder Nietzsches. Die historische und systematische Breite lädt dazu ein, einige Positionen in näheren Bestimmungen noch differenzierter auszuarbeiten. Interessant wäre auch eine weitere Präzisierung des verkörperten Aspektes von Subjektivität, auf den die Verfasser immer wieder abzielen. Doch dieser Aspekt führt zugegebenermaßen in Bereiche, die den hier gesteckten Rahmen weit überschreiten würden. Dies wäre Aufgabe anschließender Untersuchungen und ist kein Mangel des vorliegenden Bandes. Dieser kann aus verschiedenen Perspektiven mit Gewinn gelesen werden, auch über die Fachgrenzen von Literatur und Philosophie hinaus.
[1] Friedrich Schlegel, »Rezension der vier ersten Bände von F. J. Niethammers Philosophischem Journal [1797]«, in: Ders., Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. v. Ernst Behler und Ursula Struc-Oppenberg, Band 8, Paderborn u.a. 1975, 31. [zurück]
[2] Ebd., S. 30. [zurück]
[3] Friedrich Schlegel, »Zur Philologie«, in: Ders., Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. v. Hans Eichner, Band 16, Paderborn u.a., 68. [zurück]
2024-08-07
JLTonline ISSN 1862-8990
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