Dennis Borghardt

Theoretische Reflexion und kompaktes Orientierungswissen: der Band Grundthemen der Literaturwissenschaft: Form

Robert Matthias Erdbeer, Florian Klaeger, Klaus Stierstorfer (Hg.), Grundthemen der Literaturwissenschaft: Form. Berlin/Boston: De Gruyter 2022. 905 S. [Preis: EUR 169,95]. ISBN: 9783110364330.

Form hat, um gleich einen formalen Gemeinplatz zu bemühen, viele Gesichter. Jeder beliebige Blick in die europäische Geistesgeschichte zeigt, dass die in den poetologischen und rhetorischen Traditionen der Antike und des Mittelalters wie auch in der modernen Literaturwissenschaft vielfach ausdifferenzierten Vorstellungen von Form einerseits den distinkten Gestaltcharakter von ›Dingen‹ – etwa von prágmata/res auf Grundlage eines hýle/materia-Begriffs – betonen, andererseits aber auch – etwa in aristotelischer eîdos/species-Tradition – als Gattungsbegriff eine Wirklichkeitsebene adressieren, in der Natur und Mensch ontologisch produktiv, d. h. zu schöpferischen Entitäten bzw. Akteuren werden. Antworten auf die Frage, inwiefern Instanzen wie Gott, Natur und Mensch als Werkschöpfer (demiourgós/opifex) von je eigener Qualität aufzufassen sind, problematisieren wiederum in philosophischer Hinsicht bis heute, wie etwas zu einer Gestalt gelangt, die auf Prinzipien kontingenter Formwerdung oder auf unveränderliche Muster abzielen kann – vom atomistischen Teilchenprall bis hin zu transzendentalen Ideenwelten. Somit bietet der Form-Begriff nicht nur erhebliche historische und systematische Anknüpfungspunkte, sondern prägt seit Beginn seiner Problematisierung eigene Forschungsfelder aus, die sich immer wieder aufs Neue als regelrechter Antrieb der Geisteswissenschaften erweisen. Während die Ästhetik (ars aesthetica) in ihrem aufklärerischen Zuschnitt Form als Vermittlerin zwischen unteren, mittleren und oberen Seelenvermögen begreift und die ›klassische‹ Ästhetik sie im Zuge des kantisch-schillerschen Kunst- bzw. Spielbegriffs als Antipode zu Natur- und Nötigungsprinzipien fasst, treten im 20. Jahrhundert mit dem Formalismus und Strukturalismus Strömungen hinzu, die nicht nur umfangreiche Forschungsbereiche für sie reservieren, sondern sie für literaturwissenschaftliche Fragen im modernen Sinn fruchtbar machen.

Insofern die Dichtung also selbst (generische) Formen seit der Antike hervorbringt, ist über die Relevanz des Konzepts ›Form‹ in Literatur und Literaturwissenschaft kaum zu reden, ohne auch auf ihre wissenschafts- und kulturgeschichtliche Genese einzugehen. Publikationen wie Dieter Burdorfs Poetik der Form (2001) haben diese Entwicklungswege in der Vergangenheit illustriert. Zugleich erscheint ihre Konjunktur in den letzten Jahren ungebrochen. Veröffentlichungen wie der vielbeachtete Aufsatz Form und Idee. Skizze eines Begriffsfeldes um 1800 (Wellbery 2014), die kleinere Monographie Aus dem Leben der Form. Goethes Morphologie und die Nager (Geulen 2016), die Sammelbände Dynamik der Form. Literarische Modellierungen zwischen Formgebung und Formverlust (Graduiertenkolleg ›Literarische Form‹ 2019), Formästhetiken und Formen der Literatur (Hahn/Pethes 2020), Aus dem Leben der Form. Studien zum Nachleben von Goethes Morphologie in der Theoriebildung des 20. Jahrhunderts (Axer/Geulen/Heimes 2021), Form- und Bewegungskräfte in Kunst, Literatur und Wissenschaft (Fehrenbach/Hengst/Middelhoff/Zumbusch 2021) oder auch Formen des Ganzen (Geulen/Haas 2022) weisen auf ein eher noch gestiegenes Interesse in jüngerer Zeit hin.

Angesichts einer solchen Fülle an Erklärungs- und Deutungsangeboten ist es zugleich ambitioniert und begrüßenswert, den theoretischen und wissenschaftsgeschichtlichen Werdegang von ›Form‹ möglichst kompakt und zugleich facettenreich zur Darstellung bringen zu wollen. Nach Vorarbeiten, wie sie im Sammelband Literarische Form. Theorien – Dynamiken – Kulturen (Erdbeer/Klaeger/Stierstorffer 2018) zum Ausdruck kommen, widmet sich das hier zu besprechende Buch, Grundthemen der Literaturwissenschaft: Form (Erdbeer/Klaeger/Stierstorffer 2022), genau diesem Vorhaben in einem nochmals größeren Rahmen. So wird in der seit 2017 bei de Gruyter erscheinenden Reihe ›Grundthemen der Literaturwissenschaft‹ (GLW) ein Publikationskonzept verfolgt, in dem Resultate neuerer Forschung mit handbuchartigen Ansprüchen verquickt werden. Im Band zur Form folgen auf die Einleitung vier Großkapitel, in denen das Thema anhand verschiedener Dispositionen, gemäß ihrer Skizzierung als »Begründungs-, Ordnungs- und Bewertungsschema« (6), nach Konzeptualisierungen, Modellierungen, Klassifizierungen und Pragmatisierungen in historisch und systematisch umfassender Weise behandelt wird. Dieser bemerkenswert weitgreifende Ansatz schlägt sich in einem ebenso umfassenden Konzept nieder, das dem Band zugrunde liegt. So werden zunächst in einem »[h]istorische[n] Abriss« (71–207) mit »Konzeptgeschichten der Form« (73–134) und »[f]ormalistische[n] Wege[n]« (135–207) sowohl begriffs- und gattungs- als auch wissenschaftsgeschichtliche Linien nachgezeichnet, die in einer konzisen Darstellung neoformalistischer Tendenzen in der anglo-amerikanischen Formtheorie münden. In der Sektion »Zentrale Fragstellungen« (209–482) werden demgegenüber kursorische Unterscheidungen nach Theorien (211–304), Verfahren (305–362) und Gattungen (363–410) unternommen, um mit »Kulturen der Form« (411–481) schließlich auf pragmatische sowie praxeologische Aspekte zu sprechen zu kommen. Die letztgenannte Rubrik ist offenbar wie ein Ankerpunkt des Bandes konzipiert. Gerade die dortigen Einlassungen zu den Handlungsmöglichkeiten, die Form als deren Bedingung und Realisation ausweisen, bereiten gleichsam den Boden für die folgende Sektion »Interdisziplinäre Implikationen und Konzepte« (483–758), worin der literaturwissenschaftliche Rahmen nochmals erweitert wird, indem philosophische (485–528), mediale (529–580), funktionale (581–632), erlebnisbezogene (633–694) sowie performative (695–758) Aspekte des Formbegriffs erörtert werden. Ein Anhang mit Gesamtbibliographie (761–846), Personen- (847–866) und Sachregister (867–905) beschließt das Buch.

Charakteristisch für den Band ist das Wechselspiel zwischen systematischer Erschließung und historischer Rekonstruktion. Terminologische und methodische Einlassungen zum Formalismus (137–171) stehen an der Seite weitreichender Ausführungen zu dessen wissenschaftsgeschichtlicher Genese (172–207); graphische Modellierungen ergänzen Erläuterungen zu Gestaltgesetzen und deren psychologischer Disposition (635–655); voluntaristische Darstellungen zu »Form als Wille und Vorstellung« (457–463) dienen als Grundlage für Erläuterungen zum »magische[n] Manifestismus« (463–469), aber auch für genderkritische Kapitel (471–481). Der Formbegriff wird hierdurch von der Mikroebene künstlerischer, insbesondere literarischer Verfahren über generische Beschreibungsdimensionen bis hin zu pragmatischen Frageebenen aufgespannt. Gerade das souveräne Changieren zwischen Theorie, Verfahren, Geschichte und Paradigmen der ›Kultur‹ im allgemeinen Sinn führt immer wieder zu Argumentationsformen, aus denen sich disziplinenübergreifende Erkenntnisse gewinnen lassen. Durchgängig ist dabei das Bemühen erkennbar, die Einlassungen – vielleicht in impliziter Würdigung formalistischer und strukturalistischer Traditionen? – stark an binären Oppositionen zu orientieren. Dieses Vorgehen lässt den Band – trotz immerhin 33 beteiligter Autor:innen – erstaunlich konsistent erscheinen, ohne dass der Individualstil der Verfasser:innen hierdurch nivelliert würde.

Besonders gelungene Beispiele für die genannte Art der Darstellung sind etwa die Rekonstruktion der Geschichte der anglo-amerikanischen Formtheorie durch Alfred Sproede (137–171) und Fredric C. Bogel (172–207), worin Formalismus und New Formalism nicht nur eine historische Begründung, sondern auch eine Einordnung und Bewertung erfahren, die Differenzierung von Form und System im Beitrag von Christina Gansel (213–225) oder die Überlegungen zum Verhältnis von modellierenden, formleitenden und formbildenden Funktionen, wie sie in »Form und Modell« (226–284) von Robert Matthias Erdbeer ausgeführt werden. Dass gelegentlich auch didaktische Töne anklingen, wie in Niko Strobachs »Logische Form« (487–504), oder auch plastische Beispiele aus kognitionspsychologischen Zusammenhängen eingebettet werden, wie in Silva Bonacchis »Gestalt und Form« (635–655), trägt in vielerlei Hinsicht zur Verlebendigung des Bandes bei. Die von Susanne Gruß in »Die formation féminine« (470–481) aufgeworfenen Fragen nach ›männlichem‹ und ›weiblichem Schreiben‹ wiederum werden in ihren semiotischen und symbolischen Zusammenhängen im Kontext der französischen Theorieschulen behandelt und münden gerade in der Suspendierung einer Trennung männlicher und weiblicher ›Formsprache‹. Die stets präsente Universalität des Begriffs ist dabei zugleich Faszinosum wie Herausforderung. Bei aller semantischen Offenheit, die ›Form‹ zu eigen ist und die – wie nicht nur in der genannten formation féminine zu sehen – theoretisch auch so etwas wie einen ›Formverdacht‹ – das Bedürfnis, etwas formal erklären zu wollen, was sich nicht formal reduzieren lässt – evozieren kann, gelingt es dem Band, sie auf einen nicht-logozentrischen Nenner zu bringen, ohne sie zugleich ins Indifferente ausufern zu lassen. Zudem bieten praktisch alle Beiträge Anlass für weiterführende Diskussionen. Die Themensetzung der einzelnen Kapitel eröffnet häufig Perspektiven für Fragen etwa nach der künftigen Fortschreibung des Format-Begriffs (322, 538), dem »Anwendungskalkül eines transzendenten Literaturbegriffs« (410) oder dem Erfordernis einer Aufnahme der linguistischen Stilistik in den »Mainstream literaturlinguistischer Forschung« (550).

Theologische Begründungsaspekte, insbesondere für die Frage nach dem Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktionswelten, bleiben insgesamt leicht unterrepräsentiert. Auch wenn der Band auf Grundthemen der Literaturwissenschaft fokussiert ist, so spielen gerade theologische Aspekte in vormodernen Fiktionstheorien – etwa in den Annahmen zur Konstruktion möglicher bzw. hypothetischer Welten bei Leibniz, Wolff, Gottsched und Baumgarten – eine große Rolle. Dort ist die Frage nach dem die forma und das genus bestimmenden Prinzip des zureichenden Grundes (ratio sufficiens) eng verbunden mit Fragen nach der Einrichtung der Welt (mundus) und des Dichters als regelrechten zweiten Schöpfers einer dann ›heterokosmischen‹ bzw. ›hypothetisch wahrscheinlichen‹ Welt. Möglicherweise hätte hier eine Gelegenheit bestanden, diese nicht nur für die Ästhetikgeschichte bedeutsamen Verbindungen von Theologie, Ontologie und Poetik in die aktuelle Forschung zu integrieren. Zwar greifen etwa die Beiträge von Christel Meier (365–381) und Wolfgang Braungart (413–439) theologische Fragen auf, sind dabei jedoch vor allem nachahmungs- (Meier) und ritualtheoretisch (Braungart) ausgerichtet.

Insgesamt gelingt es dem Band in hervorragender Weise, wesentliche Dimensionen des Formbegriffs in Philosophie und Literaturwissenschaft zu erfassen und theoretisch zu durchdringen. Hinsichtlich der Breite und Tiefe der Darstellungen bildet er im Gesamtbild geradezu eine Präzedenzleistung, jedenfalls was die deutschsprachigen Publikationen in diesem Bereich betrifft. Er bietet einen der momentan besten Überblicke über historische und systematische Formdebatten in den Literaturwissenschaften und eröffnet zudem zahlreiche interdisziplinäre Perspektiven. Der Handbuchcharakter des Bandes wird außerdem durch die genannte Einheitlichkeit und Klarheit auf der Ebene der Präsentation unterstrichen. Er ist daher sowohl für (fortgeschrittene) Studierende, Lehrende und Forschende als auch für ein interessiertes Publikum außerhalb der Universität geeignet.

2024-08-07

JLTonline ISSN 1862-8990

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