Sophia Wege

Die Gegenwart ist metafaktisch

Antonius Weixler, Matei Chihaia, Matías Martínez, Katharina Rennhak, Michael Scheffel, Roy Sommer (Hg.), Postfaktisches Erzählen? Post-Truth – Fake News – Narration. Berlin/Boston: De Gruyter 2022. 331 S. [Preis: EUR 114,90 EUR]. ISBN: 978-3-11-069273-0.

Befinden wir uns in einer Dekade der Metafaktizität? Die aktuellen öffentlichen Kontroversen und politischen Debatten scheinen zur Metaisierung zu neigen: Diskursteilnehmer:innen sehen sich gezwungen, die Bedingungen und Kriterien ihrer Äußerungen, das Wie und Was ihres Erzählens, das Verhältnis zu Fakten und Fiktionen, den Stellenwert des Faktualen in fiktionalen Texten und den Anteil des Fiktionalen im faktualen Diskurs zu reflektieren und neu zu begründen. Zuerst durch die Präsidentschaft Donald Trumps, dann durch die Konjunktur von Verschwörungserzählungen während der Pandemie sehen sich Medien, Politik und Wissenschaft vermehrt genötigt, ihren Geltungsanspruch auf die Faktizität ihrer Aussagen neu zu erklären, sich zu Wahrheit und Wissenschaftlichkeit, zu Lügen, spins und Halbwahrheiten zu positionieren. Im Zuge dessen ist es kolloquial geworden, ›Narrative‹ zu ermitteln und zu hinterfragen, ja es wird sogar ein ›postfaktisches Zeitalter‹ postuliert. Auf dem Gebiet der Literatur haben metafiktionale Verwirrspiele mit fiktionalen und faktualen Elementen seit Jahren Hochkonjunktur; zugleich zeigte sich jüngst im Zuge der Karl-May-Kontroverse, welche Schwierigkeiten die Forderung nach Faktizität – das heißt in diesem Fall: nach einem historisch angemessenen Umgang mit Kolonialgeschichte – in der Fiktion aufwirft; denn auch aus Sicht der Literaturwissenschaft darf Dichtung offenbar nicht nur eigenen ästhetischen Gesetzen folgen.

Erst vor diesem Hintergrund, im Kontext aktueller politischer und kulturkritischer Diskurse und Debatten, erschließt sich die Relevanz des Sammelbandes Postfaktisches Erzählen? Post-Truth – Fake News – Narration (2021). Das Buch versammelt den Großteil der Vorträge, die im Februar 2018 auf einer Tagung des Wuppertaler Zentrums für Erzählforschung gehalten wurden.[1] Der Titel der Tagung versieht die in politischen und kulturkritischen Kontexten geläufige Bezeichnung Postfaktisches Erzählen mit einem vorsichtigen Fragezeichen. In seinem Eröffnungsvortrag, der im Tagungsband nicht abgedruckt wurde, nahm Albrecht Koschorke, Autor des narratologischen Standardwerks Wahrheit und Erfindung (2012), diese Distanzierung denn auch gleich auf und bekräftigte, dass die Diagnose eines postfaktischen Zeitalters in der Diskussion nicht vorausgesetzt werden könne: Fiktion sei noch nie dem Faktischen verpflichtet gewesen, das Lügen im Namen von politischen und religiösen Ideologien habe im Grunde nie aufgehört, und somit decke die verbreitete Fassungslosigkeit über eine vermeintliche Kultur des Postfaktischen eben auch die blinden Flecken eines triumphalen Liberalismus auf.

Von vielen Beiträger:innen des Bandes wird der Begriff des Postfaktischen verwendet, aber zugleich auch befragt und skeptisch hinterfragt, und zwar beides sowohl historisch als auch theoretisch und systematisch-narratologisch. Das Postfaktische ist unzweifelhaft ein Modebegriff, dem selbst in den Feuilletons nur ein kurzes Leben beschert war. Der Schock, der sich bei aufgeklärt wähnenden Europäern über Trumps Präsidentschaft und auch über den Brexit einstellte, und der im Jahr 2018 auch auf der Wuppertaler Tagung spürbar war, mag einerseits einem gewissen Kulturpessimismus gewichen sein, andererseits aber auch der Einsicht, dass Aufklärung immer wieder neu realisiert werden müsse, wie Iwan-Michelangelo D’Aprile mit Blick auf die politische Gegenwart jüngst bemerkte.[2] Das gilt erst recht für die Aufklärung über das Verhältnis von Fakten und Fiktionen in Literatur wie faktualen Diskursen. Mit Unwahrheiten wurde schon immer operiert, insofern ist der Begriff des Postfaktischen auf vielen Ebenen, historisch wie systematisch, tatsächlich irreführend. Das ändert aber nichts an der anhaltenden Aktualität jener Phänomene, mit denen sich die Beiträge des Bandes mit scharfsinniger Nüchternheit befassen, und die mit Etiketten wie ›postfaktisch‹, ›post truth‹, ›alternative Fakten‹, ›fake news‹, versehen wurden und werden. Dementsprechend formulieren die Herausgeber:innen als erste, bereits ins Narratologische schwenkende Beobachtung, dass der »strategische[n] Einsatz bewusster Falschaussagen«, die »Nivellierung der Grenze zwischen Information und Desinformation« und das »Leugnen empirisch nachweisbarer Phänomene« an der Tagesordnung seien – und zwar »solange das Grundgerüst einer attraktiven und eingängigen Erzählung die jeweiligen Aussagen stützt« (1). Dies gilt für Trumps Narrative, mit denen sich viele Beiträger:innen befassen, aber auch für eine ganze Reihe anderer mit dem Etikett des ›Postfaktischen‹ verknüpfter Medienereignisse. Wollte man das post nun aufgrund seiner historischen Komponente herauslassen, könnte man sagen, dass sich die ideologisch ausgebeutete und politisch instrumentalisierte Verwischung von Fakt und Fiktion in den Jahren der Pandemie im europäischen Raum verschärft hat. Sie tritt aktuell global auf ein »günstiges Umfeld«[3].

Die in diesem Band vorgestellten narratologischen, soziologischen, kulturhistorischen, medientheoretischen Begriffe, Beobachtungen und Befunde – untergliedert in die Felder Politik (II), Massenmedien (III) und Literatur (IV) – bieten keineswegs nur Analysen tagesaktueller Ereignisse von lokaler Reichweite (z.B. Raphael Zähringer zu Söders Kreuzerlass), sondern vor allem eine solide Ausgangsbasis für eine philologisch und generell geisteswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Erzählungen, die den öffentlichen Diskurs seit längerem prägen und auch zukünftig umtreiben werden, darunter die Erzählungen von Klimawandelleugnern, von Gegnern fakten- beziehungsweise evidenzbasierter Medizin, von Anhängern alternativer Medizin, von Multiplikatoren ideologisch-politischer (aktuell besonders russischer, chinesischer) Propaganda sowie von deutschen und europäischen Rechtspopulisten. Zahlreiche Aufsätze des Bandes – etwa jene von Nikola Gess und Antonius Weixler, die mit Beispielen aus diversen gesellschaftlichen Bereichen arbeiten – machen das kultur- und gesellschaftsdiagnostische Potenzial spezifisch narratologischer Analytik, Systematik und Begrifflichkeit evident.

Der Sammelband ist somit einerseits von einem Bemühen um Aktualität geprägt, das dem Relevanzbedürfnis der Literaturwissenschaft entgegenkommt. Andererseits stellt er im Rahmen von Einzelfallanalysen abstrahierende und insofern transhistorische narratologische Instrumentarien in Verbindung mit soziologischen und medientheoretischen Perspektiven vor, mit denen sich auch langfristig und sozusagen nachhaltig weiterarbeiten lässt, ja die zumindest potenziell die analytische Kompetenz im Umgang mit dem Verhältnis von Fakt und Fiktion in faktualen und fiktionalen Erzählungen steigern können. Die Leser:innen des Bandes lernen etwas über Fiktionen, die mit Fakten spielen oder sich als faktisch gerieren, und ebenso darüber, mit welchen Mitteln Erzählungen, die nur vorgeben, Fakten zu präsentierten, eine plausibel scheinende Argumentation vorgaukeln. Auch über die Analyse des Verhältnisses von Fakt und Fiktion in dezidiert literarischen Texten wird der Umgang mit Konzeptionen der Faktizität reflektiert und präzisiert – dies leistet besonders die Abteilung IV zu literarischen beziehungsweise fiktionalen Texten, die in der folgenden Besprechung der Einzelbeiträge aus Platzgründen nur kurz referiert werden kann. Ich erwähne hier nur den aufschlussreichen Beitrag von Katharina Rennhak zur Tradition des liberalen Narrativs in der europäischen Literaturgeschichte und Lars Bernaerts Analysen der Empathie-Erzeugung mittels Einflechtung biographischer Fakten als Trend der Gegenwartsliteratur. Bernaerts untersucht Verfahren, deren Ambivalenz Moritz Baßler in anderen Zusammenhängen, jedoch in der Sache vergleichbar, als Identifikationskultur unter dem Schlagwort mid-cult kritisch beschreibt. Auch diese Entwicklung erscheint als Symptom der Verunsicherung bezüglich der Grenzen, was Fiktion darf, und als Zeichen der reaktiven identifikationsgesteuerten Flucht ins Faktuale, die sich als Merkmal von Gegenwartsliteratur erweisen könnte, ohne dass hiermit notwendig eine Wertung verbunden wäre.

Nun zu den einzelnen Beiträgen des Bandes, wobei ich mich auf die Bereiche ›Theorien‹, ›Medien‹ und ›Politik‹, also auf den Geltungsbereich faktualen Erzählens beschränke, dem sich die überwiegende Mehrzahl der Beiträge widmet.

Die Herausgeber:innen positionieren sich im Vorwort mit aller notwendig gewordenen Eindeutigkeit gegen die Nivellierung der Grenze zwischen Information und Desinformation, etwa gegen die »Lügengeschichten der Populisten« auf dem Feld des faktualen Erzählens, weil sie diese Unterscheidung als Basis für das Vertrauen in Politik, Medien und Wissenschaft identifizieren. Hinter der Abgrenzung zwischen Fakt und Fiktion steht offenbar eine ethische Norm innerhalb sozialer Gemeinschaften, deren Gültigkeit konsensuell vereinbart oder sogar metaphysisch vorausgesetzt werden muss, wenn Kommunikation in sozialen Gemeinschaften überhaupt funktionieren soll. Rein logisch-analytisch betrachtet macht diese Unterscheidung eine Debatte über Wahrheit, Lügen, Fakten und Fiktion, und über Grauzonen überhaupt erst möglich. Ziel des Bandes ist eine narratologisch unterfütterte Bestimmung dessen, was Erzählen in der vermeintlich »postfaktischen Epoche« sowohl in faktualen wie auch in fiktionalen Texten ausmacht. Die Stärke der Narratologie liegt darin, dass sie immer schon disziplinübergreifend arbeitet, also sprach-, literatur-, kultur- und medienwissenschaftliche, geschichtswissenschaftliche, politologische, soziologische sowie auch evolutions- und kognitionswissenschaftliche Perspektiven im Hinblick auf den geteilten Gegenstand, die narrativ realisierten individuellen wie kollektiven Sinnstiftungsmechanismen, zusammenführen kann. Sie beleuchtet nicht nur die Konstitution des Erzählten, sondern stellt auch eine differenzierte Beschreibungssprache für das Wie des Erzählten bereit. Somit fragen die Beiträger:innen »in den unterschiedlichen medialen, generischen, sozialen, politischen etc. Kontexten stets nach dem Verhältnis des Postfaktischen zum Narrativen« (2), wobei die Gegenstände der Untersuchung vielfältiger Art sind; sie stammen aus unterschiedlichen Korpora und medialen Umgebungen: Literatur, Film, Alltagskommunikation (Gerüchte, Anekdoten, Kurznachrichten).

1. Theorien

Matías Martínez betrachtet ausschließlich faktuale Texte, also Texte in Kommunikationssituationen, in denen, anders als das bei Fiktion der Fall ist, zwischen Autor und Leser ein »Faktualitätspakt« (15) vorausgesetzt wird. Bei der in jüngeren journalistischen und akademischen Debattenbeiträgen zu beobachtenden Opposition von ›guten‹ Fakten und ›lügenhaften‹ Narrativen resultiert nach Ansicht des Autors aus einer narratologisch betrachtet unhaltbaren Ebenenverwechslung. Zunächst umreißt Martínez anhand zweier Beispiele die aktuelle Begriffsverwendung: Mit Hinweis auf Trumps Lügen werde von Analysten häufig der Vorwurf erhoben, die Welt der Fakten und der Tatsachen sei von suggestiven und manipulativen Narrativen bedroht, im Sinne eines die Fakten verfälschenden Geschichtenerzählens, das inhärent unsachlich, lügenhaft, postfaktisch sei. Der Begriff ›Narrativ‹ werde in diesem Kontext abwertend verwendet – und zwar in der Weise, dass eine Person oder eine Gruppe ihre Version der Wahrheit, ihr ›Narrativ‹ durchbringen wolle (etwa die auch von Nikola Gess als Beispiel angeführten Impfgegner mit ihrer Sicht von der großen bösen Pharmaindustrie, die nur Kasse machen wolle). Andererseits könne der Begriff ›Narrativ‹ oder ›story‹ auch positiv konnotiert sein, etwa dann, wenn einer story beispielsweise zugeschrieben werde, mit Lügen aufzuräumen oder sogar zur Wahrheitsfindung beizutragen. Dies sei insbesondere dann der Fall, wenn die Fakten überzeugend in ›Narrative‹ verpackt würden – auch Greenpeace verpackt ein Faktum, den Klimawandel und dessen Schäden, in mehr oder weniger überzeugende stories (mein Beispiel). Es werde, so Martínez, immer nur zwischen Narrativen unterschieden, die entweder das Faktische oder die Lüge gut verkaufen, wobei in solchen Analysen stets die Auffassung vorherrsche, dass Erzählungen grundsätzlich nicht wahrheitsfähig seien. Diese Ansicht basiere narratologisch betrachtet jedoch auf einem Irrtum, den man mit einem erzähltheoretisch geschärften Verständnis dessen, was Erzählung ausmacht, beheben könne: Erzählt wird grundsätzlich in unterschiedlichen sozialen Feldern, beispielsweise im Alltag, vor Gericht, beim Arzt, in der Kirche, in der Schule. Dabei werden jeweils werden faktuale Erzählungen produziert, also solche, die einen Wirklichkeits- und Wahrheitsanspruch erheben, die nach ihrem Wahrheitsgehalt befragt werden können, die demnach sehr wohl »wahrheitsfähig« seien, so Martínez. Zwei »Arten« des faktualen Erzählens seien zu unterscheiden, mittels derer »narrative Evidenz« erzeugt werden könne: Eine, die auf kausal-logische Erklärungen von referenzialisierbaren Ereignissen setzte, und eine, die lediglich durch eine Syntheseleistung, die auf konventionalisierte Erzählmuster zurückgreife, den Eindruck von Geschlossenheit und Prägnanz und damit Plausibilität hervorzubringen suche – diesen Erzähltypus bezeichnet Martínez als Erzählen mit konfigurativer Ereignisverknüpfung.

Durch eine kausallogische Erzählweise können faktuale Erzählungen »referenziell wahrheitsfähig sein und zu objektivem Wissen führen« (16). Eine solche Verfahrensweise stellt eine hohe Kohärenz her, indem sie die Ereignisse möglichst detailliert, lückenlos, kausal und zeitlich motiviert miteinander in Beziehung setzt, die Ursache- und Wirkungszusammenhänge einzeln ausweist. Als Beispiel zitiert Martínez aus dem – in diesem Sinne erzählenden – Abschlussbericht der indonesischen Luftsicherheitsbehörde, in dem referenzialisierbare, von Ermittlern zusammengetragene Umstände, Vorfälle, technische Pannen und andere Ereignisse als Ursachen genannt werden, die, so schlussfolgert der Bericht kausallogisch, zum Absturzes einer Passagiermaschine geführt oder beigetragen hätten. Man könnte hinzufügen, dass das Phänomen der Emergenz von Texteigenschaften auch auf narratologischer Ebene zu untersuchen wäre.

Auch der zweite Typus des Erzählens versucht sich in der kohärenzbildenden Erklärung von Ereignissen, wählt jedoch ein anderes Verfahren der Verknüpfung von Geschehenselementen. Martínez übernimmt hier Hayden Whites Begriff emplotment: Beim konfigurativen Erklären werde eine »komplexe Menge von Ereignissen insgesamt zu einer bedeutungsstiftenden Gesamtgestalt konfiguriert« (19). Die einzelnen Ereignisse werden als zu einem bestimmten übergeordneten Schema zugehörig ausgewiesen, sie bestätigen also eine bereits vorausgesetzte Hypothese oder Interpretation, die eine erklärende, übergeordnete Verbindung, eine globale Kohärenz der Einzelheiten, überhaupt erst bereitstelle. Im Zuge solcher Erzählungen müssten häufig Widersprüche übergangen und Komplexitäten reduziert werden, damit die zusammengetragenen Einzelfaktoren für das rahmende Ordnungsschema passend gemacht werden. Als Beispiel erörtert Martínez an dieser Stelle verschwörungstheoretische Erklärungen, die nach dem Absturz eines indonesischen Passagierflugzeugs im Oktober 2018 mediale Verbreitung fanden.

Allerdings ist die konfigurative Form des Erzählens eben keinesfalls ausschließlich eine genuine Eigenschaft lügenhafter, verschwörungstheoretischer Erzählungen; vielmehr bedienen wir uns, wie Martínez betont, gerade auch im Alltag beider Erzählstrategien. Auch lasse sich ein und derselbe Sachverhalt sowohl in der kausallogischen als auch in der konfigurativen Art darstellen, und zwar jeweils ohne Einbuße an Überzeugungskraft. Immerhin könne eine auf Kausalitäten abzielende Erklärung womöglich auf die logischen Schwachstellen, also die Unvollständigkeiten, Ungereimtheiten und Reduktionen, einer rein konfigurativen Erklärung aufmerksam machen und bestimmte erzählerisch hergestellte Verknüpfungen auf diese Weise unplausibel erscheinen lassen – im gewählten Fallbeispiel etwa die Hypothese, das Flugzeug sei durch einen Anschlag im geheimen Auftrag einer feindlichen Regierung zum Absturz gebracht worden.

Martínez’ recht kurzer Beitrag bildet eine solide Ausgangsbasis für die künftige narratologische Analyse faktualer Erzählungen und Verschwörungserzählungen; er betrachtet allerdings ausschließlich die Ebene der motivationalen Verknüpfungen von Erzähltexten, lässt also viele Fragen offen. Oder anders gesagt: Er lässt noch viel Spielraum für weiterführende Untersuchungen, darunter beispielsweise die Frage nach den Emotionalisierungspotenzialen der beiden Erzählweisen.

Der zweite und auch schon letzte Beitrag innerhalb der bedauerlich minimalistischen Abteilung »Theoretische Perspektiven« (Teil I) stammt von Nikola Gess, die mit Halbwahrheiten: Zur Manipulation von Wirklichkeit nahezu zeitgleich zum Erscheinen des Sammelbandes 2021 einen weiteren hochaktuellen Beitrag zur Faktizitätsdebatte beigesteuert hat. Ihr Aufsatz bietet einen Ausschnitt aus dem Theoriekapitel des Buches, angereichert mit Hinweisen auf Fallbeispiele – darunter Ken Jebsen, Claas Relotius und Uwe Tellkamp –, die in dem genannten Buch ausführlicher diskutiert werden. Gess’ Fokus liegt auf der Beschreibung des manipulativen Gebrauchs und der Funktion von Halbwahrheits-Geschichten in postfaktischen Diskursen, und sie liefert auf Basis ihrer begrifflichen Setzung eine präzise formulierte ideologiekritische Analyse, innerhalb derer eine Vielzahl narratologischer Konzepte angerissen werden. Unter Halbwahrheiten möchte die Autorin Äußerungen verstanden wissen, die sich durch die Merkmale Vagheit, hoher Verallgemeinerungsgrad, Übertreibung, Vereinfachung, Missdeutung, kreative Herstellung von Zusammenhängen, anekdotische Form, das Auslassen wesentlicher faktischer und zugleich die Anreicherung durch fiktive Inhalte auszeichnen, sowie durch Konnektivität und Multiversionalität – in der Summe reduzieren diese Eigenschaften die Faktizität der Äußerungen. Die Merkmale werden von Gess im Einzelnen diskutiert, ergänzt durch Hinweise auf die jeweils aktuelle Forschung und historische Kontinuitäten, etwa zur Textsorte der Anekdote. Da die von Gess berücksichtigten Merkmale aber unterschiedlichste Ebenen ins Auge fassen – stilistische, textlinguistische, rhetorische, narratologische, kommunikative – ergeben sich zahlreiche Möglichkeiten für interdisziplinäre Anknüpfungen, die sich im Rahmen eines so kurzen Aufsatzes allenfalls andeuten lassen. Über die reine Beschreibungsebene hinaus fragt Gess aber noch wesentlich weiter, nämlich nach den Wirkmechanismen, auf denen die Attraktivität populistischer, mit Halbwahrheiten gespickter Erzählungen fußt. Sie nimmt also dankenswerter Weise stärker die Rezeptionsseite, genauer die rezipientenseitigen Voraussetzungen für das Funktionieren von postfaktischen Erzählungen in den Blick.

Der Begriff ›Halbwahrheit‹ funktioniert unter der Annahme, dass in faktualen Texten zwischen faktischen und fiktionalen Elementen, Fakten und Fiktionen tatsächlich unterschieden werden kann und muss, um sodann das überaus spannende Ineinander von Fakten und Fiktionen beschreiben zu können. Der Einstieg wirft einen Blick zurück: Zwar sieht Gess historische Vorläufer für postfaktisches Erzählen, doch habe man es mit einem zeitgeschichtlich durchaus neuen Phänomen zu tun, das deswegen problematischer sei, weil sich nun selbst die überregionalen Leitmedien in demokratischen Ländern ihrer Verpflichtung zur faktenorientierten Berichterstattung freiwillig und programmatisch entledigt hätten (man denke an Fox News). Die Wahrheit als eigenständiger Wert und als Kapital von Demokratie und Politik sei, zumindest partiell, aufgegeben worden, so dass das politische System von den Grundfesten her gefährdet sei. In rechtspopulistischen Kreisen sei man zur Installation gefühlter und kontrafaktischer ›Wahrheiten‹ übergegangen, die durch emotionalisierte nationalistische Narrative geschürt würden. Bei Gess kommen nun auch die höchst relevanten psychosozialen Komponenten zur Sprache, die postfaktische (konfigurative) Erzählungen seitens der Produzent:innen wie Rezipient:innen ausmachen. Es geht um die Mobilisierung von Emotionen, um die Erzeugung von Kollektivität, um Autoritätsbehauptungen und um Vagheit als Voraussetzung für Projektionsprozesse. Als Ursache für den Erfolg des Postfaktischen nennt Gess, wenig überraschend, Krisenzustände, eine beängstigende gesellschaftliche Kontingenz, die das Vertrauen in »das als zu komplex oder zu parteiisch abgelehnte Wissen von Experten und politischen Vertretern« (28) erodiere. Dem kann man im Hinblick auf die Impfgegner nur zustimmen: Selbst scheinbar schlichtes naturwissenschaftliches Basiswissen, etwa über die Immunreaktion des Körpers, werden in den entsprechenden Gruppen bereits als intellektuelle Zumutung zurückgewiesen, von aggressiven Reaktionen auf Expertendiskurse ganz zu schweigen.

Halbwahrheiten-Geschichten sind faktuale Erzählungen, die durchaus auch selektiven Wirklichkeitsbezug aufweisen, die aber zugleich mit fiktiven Inhalten angereichert sind. Sie zielten dabei nicht auf Wissen und Beweisführung, sondern auf Glaubwürdigkeit ab, die jedoch »allein durch ihre Rahmung, die in Form von politischen Narrativen oder ganzen Welterklärungsmodellen« und erzeugt werde (30). Was Gess unter Rahmung versteht, ist dem vergleichbar, was Martínez rein formal als ›Schema‹ bezeichnet, nur inhaltlich konkretisiert. Hier wäre wohl ein Seitenblick auf den frame-Begriff in der Linguistik lohnend gewesen. Im Wesentlichen sieht Gess Ideologien am Werk, denen die einzelnen Halbwahrheiten als Bausteine eines Gesamtnarrativs (hier wieder pejorativ) zuarbeiten, an das geglaubt werden müsse und zu dessen Glaubwürdigkeit jede einzelne Halbwahrheit ihren Teil beisteuere. Ein solches, auf den Glauben an eine Leitideologie oder Deutung hin arbeitendes, mit fiktiven Anteilen angereichertes Erzählen setze rein auf innere Kohärenz (das entspricht Martínez’ konfigurativem Erzählen) und nicht auf Evidenz und Korrespondenz mit den Tatsachen. Der Reiz von Gess’ Argumentation liegt darin, dass sie nun auch das Verhältnis von faktualer und fiktionaler (kausaler und konfigurativer) Erzählweise innerhalb ein und desselben Textes genauer in den Blick nehmen und den daraus resultierenden Glaubwürdigkeitseffekt erklären kann, und zwar indem sie ihn auf einen Fehlschluss zurückführt: »Weil ein Teil [der konstruierten Geschichte, S.W.] zu stimmen scheint, ist man bereit, auch das Ganze, d.h. die gesamte Aussage und die hinter ihr stehende Theorie [das Narrativ, das Schema, die Ideologie S.W.] zu glauben.« (31)

Zu ergänzen wäre hier ein Hinweis darauf, dass hinter diesem und anderen von den Beiträger:innen des Bandes beobachteten Wirkmechanismen häufig cognitive biases stehen. Dabei handelt es sich um unbewusste Denkfehler, Vorannahmen, Heuristiken, kognitive Verzerrungen, Filter, die im kognitiven Haushalt eigentlich sehr nützlich sind, weil sie Regeln bereitstellen, die das Lernen, Denken, Verhalten und ad hoc Entscheiden effektiver machen, die aber auch, gerade weil sie das wahrnehmungsmäßig Gegebene der jeweiligen Situation überschreiten, in konkreten Fällen zu falschen Schlüssen führen können (Beispiel: confirmation bias). Auch das konfigurative Erzählen basiert letztlich auf der Fähigkeit, top down motivierte Schlüsse zu ziehen, die von schematisierten Annahmen gelenkt sind; es besteht nicht darin, die Einzelheiten bottom up zu prüfen, um sie dann zu kausallogischen Evidenzketten zusammenzuschließen.

2. Politik

Bei dem Beitrag des Anglisten Roy Sommer handelt es sich eher um eine feuilletonistisch und essayistisch gehaltene historische Rückschau auf die Kommunikationsstrategie, die die Präsidentschaftsjahre Trumps prägte, als um eine systematische narratologische Analyse. Das schiere Ausmaß der von Sommer rekapitulierten und bis ins kleinste Detail aus- und nachgewiesenen »truth bending«-Ereignisse, die man sämtlich bereits aus den Nachrichten kennt, lässt die Leser:in auch heute noch fassungslos zurück – angefangen mit der auch aus heutiger, abgehärteter Sicht noch atemberaubenden Formulierung der Trump-Beraterin Kellyanne Conway, Trumps Pressesprecher Sean Spicer habe »alternative Fakten« präsentiert, als er fälschlicherweise behauptete, die Besucherzahlen bei Trumps Inaugurationsfeier in Washington seien höher gewesen, als bei Barack Obamas Amtseinführung. Diese Pressekonferenz wurde, ebenso wie der Kommentar dazu, als ein historisch signifikanter Moment gedeutet, weil er den Strukturwandel der Öffentlichkeit in a nutshell evident zu machen schien. Es gibt einige weitere Momente, die die Leser:innen von Sommers Aufsatz erneut in shock and awe versetzen dürften in Anbetracht der Erosion selbstverständlich geglaubter Prinzipien auf höchster medialer wie politischer Ebene. Solche Fassungslosigkeit mag aus historischer Blindheit erwachsen, wie Koschorke eingangs der Konferenz betonte, aber sie muss nicht notwendig in Vulgarität und radikalisierten Moralismus übergehen und kann auch ein Motor für nüchterne Analyse sein, wie sie von den Beiträger:innen des Bandes geleistet wird.

Was den narratologischen Anteil angeht, wirft Sommer eher anekdotisch und assoziativ narratologische Begriffe ein, die nicht näher erörtert werden, sondern der Anschaulichkeit dienen. Auch zieht er Parallelen zur Figur des Dolus in der griechischen Mythologie. Zentrale Konzepte wie willing suspension of disbelief und tellability werden allenfalls im Vorübergehen erwähnt und als bekannt vorausgesetzt – das ist bedauerlich, denn die Stärke dieser narratologischen Termini liegt darin, dass sie offenkundig übertragbar sind auf faktuales Erzählen; ihr Explikationspotenzial wird von Sommer leider nicht weiter diskutiert. Allerdings gilt es festzuhalten, dass es sich um einen Beitrag zu einem Tagungsband handelt, dessen Anspruch und Aufgabe naturgemäß nicht darin besteht, narratologische Grundbegriffe enzyklopädisch aufzubereiten oder ein systematisches Kompendium der Analyse des Postfaktischen zu erarbeiten. Die Stärke der Beiträge liegt gerade in der kritischen Zugewandtheit zur Politik und zur medialen Kultur der Gegenwart unter Verwendung narratologischen Handwerkszeugs.

Christian Baier setzt sich in seinem Aufsatz mit zwei verschiedenen, im weitesten Sinne kulturdiagnostischen Perspektiven auseinander, die mit Erklärungen für den Legitimationsmechanismus von Erzählungen aufwarten: Lyotards klassische Theorie vom Ende der großen ideologischen Erzählungen in The Postmodern Condition (1979) und Arlie Russell Hochschilds mittlerweile allgemein bekanntes Sachbuch Strangers in Their Own Land (2016). Ähnlich wie Martínez und Gess kommt Baier zu dem Schluss, dass die Verfänglichkeit so genannter alternativer Faktenerzählungen in der Beziehung der Einzelerzählungen zu einer mehr oder weniger dominanten Großerzählung begründet ist. In der Tat kommt die Narratologie nicht umhin, sich mit Lyotards wegweisender Analyse postmoderner Kultur, seiner mittlerweile zum Klischee gewordenen Auffassung vom Ende der ideologischen Metanarrative ins Verhältnis zu setzen.

Baier liefert einen kritischen wie auch konstruktiven Ansatz. Es zeigt sich dabei schnell, an welchem Punkt die Narratologie und Lyotard nicht mehr zusammenkommen, oder besser: wo die aktuelle Erzählforschung Lyotard überholt. Lyotard sieht Wissen in zwei konfligierenden Modi gespeichert – in narrativer Form (Geschichten und Mythen) und in begrifflich-systematischer Form (Wissenschaft). Im Hinblick auf den aktuellen narratologischen Standpunkt, dass auch die Wissenschaften Erzählungen (wenn auch dominant kausal-logisch verknüpfte) produzieren, kann Lyotards Trennung so nicht mehr aufrechterhalten werden. Laut Lyotard hat die Wissenschaft selbstreflexiv ein Metanarrativ hervorgebracht, in dessen Zentrum sie regulativ die Vernunft oder Rationalität stellt, die den Maßstab für die Gültigkeit von Wahrheitsbehauptungen liefern soll. Bekanntlich ist laut Lyotard dieses Metanarrativ im Zuge der postmodernen Absage an dominante Metanarrative zerfallen; zurückgeblieben sei ein Flickenteppich von Mikroerzählungen. Unter Hinzuziehung von neueren Forschungspositionen kritisiert Baier nun primär die nahezu teleologische Gerichtetheit von Lyotards Geschichtsmodell. Er weist dessen Narrativ von einem kulturgeschichtlich bereits vollzogenen Ende jeglicher Metanarrative zurück und ist sich darin mit sämtlichen Beiträgen des Bandes einig, die sich um das Verhältnis von Mikronarrativen als Bausteinen zu größeren Sinneinheiten – Schemata, Rahmen, Großnarrativen – drehen. Die Frage scheint also allenfalls zu sein, mit welchem Grad kollektiver Verbreitung und Akzeptanz eines Großnarrativs man es zu tun hat. Baier übernimmt von Lyotard die ›narratologische‹ Konzeption der Zusammengehörigkeit von Erzählung und Wissen, wendet sich aber gegen dessen allzu undifferenzierte Linearisierung von Geschichte und schlägt vor, sie durch ein Simultaneitätsmodell zu ersetzen. Lyotards Metanarrativ der Wissenschaft bestehe auch in der Postmoderne sehr wohl fort, parallel dazu aber bildeten sich zunehmend multiple, lokale, konkurrierende Mikroerzählungen mit eigenen Wissensbeständen heraus, die sich bewusst vom Leitnarrativ der Wissenschaften entkoppelten. Jene Mikroerzählungen im Sinne Lyotards identifiziert Baier als ›Formate‹, durch welche sich ›alternative Fakten‹ generierten und innerhalb derer ›postfaktische Elemente‹ einen Nährboden fänden.

Als Mikrostory im Sinne Lyotards ließe sich dann auch Hochschilds Begriff deep story lesen: Im Kern des vorbewussten, sinnstiftenden und höchst bildhaft-symbolischen Narrativs, von dem her politische und biographische Ereignisse top down gedeutet werden, steht ein weißer Amerikaner in einer Warteschlange und träumt vom sozialen Aufstieg, während er (vermeintlich) durch Migranten betrogen wird, die an ihm vorbeiziehen. Hochschilds deep story erweise sich als hilfreich, denn sie berücksichtige mit dieser Konzeption die anschauliche psychologische Dimension, die sinnstiftende Erzählmuster und Schemata bereitstellen. Welche kollektive Reichweite Mikroerzählungen in Diskursen langfristig erreichen können, wann und wie sich also Mikrostorys in ein diskurslenkendes Metarécit oder eine Makrostory auswachsen, etwa das von Hochschild wie Baier kontrovers diskutierte Narrativ vom Amerikanischen Traum, wäre von Fall zu Fall neu zu entscheiden und somit das Thema zukünftiger narratologischer Studien.

Gerade im Hinblick auf die schwierige Diskussion darum, inwiefern die Pluralität der Postmoderne für den Verlust der Autorität des Wissenschaftsdiskurses verantwortlich zu machen sei, bieten Baiers Überlegungen erste wichtige Ansatzpunkte. Beginnend bei einem solchen Modell der Simultaneität könnte man nun beispielweise argumentieren, dass Diskursteilnehmer:innen in liberalen oder libertären Gesellschaften im Dickicht komplexer pluraler Mikroerzählungen eben doch weiterhin und jetzt erst recht die Freiheit wie auch die Verantwortung zufällt, sich an bestimmten, ethisch normierenden Kriterien zu orientieren, und dabei den Anspruch der Wissenschaft zum kausal-rationalen Metanarrativ, in dessen Kern die Produktion referenzialisierbaren Aussagen steht, zu stärken. Dies geschieht, indem etwa über die Kriterien der Legitimation von Mikronarrativen und Metanarrativen aufgeklärt wird, indem über die Belohnungen und Schäden, Risiken und Nebenwirkungen debattieren wird, die der Konsum der jeweiligen Story für das Selbst und die Anderen mit sich bringt. In eine ähnliche Richtung weist auch Antonius Weixlers Anmerkung, der dem postmodernen Diskurs eine anstrengende Komplexitätssteigerung attestiert, welche postfaktische Narrative durch einsträngige, wahrheitsbeugende Kernnarrative zu reduzieren suchten (151).

Der Politikwissenschaftler Hans Lietzmann setzt bei der eingangs formulierten Beobachtung an, dass faktische und fiktive Elemente auch innerhalb faktualer politischer Äußerungen kaum zu trennen sind, und zwar unabhängig von der jeweiligen politischen Tendenz. Er zerlegt zunächst eindrücklich das »postfaktizistische« (91) Narrativ der AfD und untersucht es auf seine imaginäre, politisch ›visionäre‹ und zugleich sich als wahr gebärdende Semantik: Das rechtspopulistische Kernnarrativ bestehe aus einem homogenisierenden beziehungsweise entdifferenzierenden, von Abgrenzung besessenen Konzept besonderer völkischer Identität, die sich von Pluralität, von Fremden und von Eliten bedroht und betrogen fühle (87f.). Lietzman deutet dessen Entstehen als einen aus Überforderung und gefühlter wie realer ökonomischer Benachteiligung resultierenden hoch emotionalisierten Protest »gegen den modernen und postmodernen Lebensstil« (90). Allerdings, fügt Lietzmann hinzu, und darin liegt der Neuigkeitswert der aktuellen politischen Entwicklungen, bedienten sich durchaus auch die bürgerlichen Kritiker des Rechtspopulismus nicht selten rhetorischer, emotionalisierender, ironisierender, auf Stilebene Distinktion schaffender sowie auch performativer Strategien der Abwertung ihrer Gegner.

Nach Lietzmanns Darstellung stehen sich somit ein postfaktisches und ein »faktizistische[s] Narrativ«, definiert als »rational, faktenbasiert, Evidenz-orientiert und emotionsfrei« (92), feindlich gegenüber. An diesem Punkt einer allzu vereinseitigen Entgegensetzung setzt die Kritik an: Auch die Vertreter des faktischen, »von Illusionen befreite[n]« und rein auf »pragmatisch[e]« ausgerichteten Narrativ (ebd.), sei vorzuhalten, dass sie sich mitunter unbewusst in einem othering übten. Ähnlich formuliert es Koschorke, wenn er auf die Überheblichkeit der liberalen, durchaus partikularen Interessengemeinschaft der Privilegierten hinweist. Darüber hinaus sieht Lietzmann die Gefahr, dass ein rein technokratisches Faktisches verabsolutiert werde, um die unabdingbaren und eben nicht per se verwerflichen imaginären Anteile von Narrativen zu tabuisierten, wodurch sich die Gräben noch weiter vertieften. Mehr oder weniger implizit fordert Lietzmann, dass man langfristig, jenseits der unabdingbaren Kritik am lügenhaften Rechtspopulismus, über imaginäre und visionäre Anteile in politischen Narrativen und über Wertungsfragen nachdenken müsse – die Welt dürfe sich nicht in populistische Träumer und faktenversessene Realisten spalten, vielmehr bedürfe es faktenorientierter Antipopulisten, die zugleich eigene wertorientierende imaginäre Anteile in das eigene Erzählen integrierten. Verkürzt gesagt: Ein rein faktisch-realistisches Narrativ bar jeglichen wertorientierten Idealismus taugt langfristig nicht zur globalen Krisenbewältigung. Welche Werte ihm vorschweben, deutet Lietzmann lediglich an, indem er auf nicht eingelöste Emanzipationsversprechen und Marktgerechtigkeit hinweist und indem er Schopenhauer zitiert, der dem Juste milieu Ignoranz und Verantwortungslosigkeit vorwarf.

Worin diese neuen emanzipatorischen Narrative bestehen, die Gegenerzählungen zum Populismus, ist die Gretchen-Frage, die kein Narratologe oder Soziologe in diesem Band beantwortet, und auch nicht beantworten will, weil man damit die Ebene der philologischen Analyse verlassen würde und kaum umhinkäme, das Reich der narrativen Fiktion zu betreten. Unter den Geisteswissenschaftlern wäre dies Philosophen vorbehalten. Schopenhauer gründete seine Ethik auf das Mitleid. Empathie – definiert als Anerkennung des Ichs im Anderen – ist eine auch in der Narratologie viel diskutierte Disposition, die das faktizistische Narrativ grundieren und somit dem von Lietzman und anderen Beiträger:innen beschriebenen spalterischen othering entgegenwirken könnte. Die Einsicht, dass Ratio allein nicht den Menschen ausmacht, läutete, so erzählt die traditionelle deutsche Literaturgeschichte, den Übergang von der Frühaufklärung zu Empfindsamkeit und Sturm und Drang ein. Man muss heute nicht im Rückgriff auf die Goethezeit in einen neuen Gefühlskult verfallen, aber man kann, mit Lietzmann, über die Ethik des Erzählens und über einen Idealrealismus im Erzählen neu nachdenken. Im Postscript von Klaus Birnstiels Geschichte des Poststrukturalismus lässt sich nachlesen, welche Optionen emanzipatorischer politischer agency und Mikronarrativik im postpostmodernen Zeitalter denkbar sein könnten: »Viel eher ist hier an einen politischen Poststrukturalismus nach seiner eigenen selbstreflexiven Läuterung zu denken: ein mikropolitisches, entschlossen in die Kämpfe der Gegenwart intervenierendes Denken und Handeln also, das sich seiner eigene rhizomatischen Bestimmtheit bewusst wird« und zwar mit einer »Sprache des Politischen, die spontan ist und imaginativ, die Utopisches träumt und Reales fordert«[4].

3. Massenmedien

Der Literaturwissenschaftler Antonius Weixler legt eine Untersuchung der narrativen Grundausstattung von Verschwörungserzählungen vor, wobei er Was und Wie, histoire und discours, Semantiken wie plot-Strukturen in den Blick nimmt. Was Lietzman für die Narrative von Rechtspopulisten feststellt, beobachtet auch Weixler: Erzähler:innen von Verschwörungsgeschichten setzen auf herabwürdigendes othering, um ihre eigene Wahrheit von jener der ›mainstream-Medien‹ abzusetzen. Verschwörungsnarrative behaupteten, über geheimes, tieferes, privilegiertes, authentisches Wissen zu verfügen, das sich hinter einer scheinhaften Oberfläche verbirgt, versteckt von einer bösen, im Hintergrund die Fäden spinnenden Macht oder Elite. Die Architektur solcher Erzählungen funktioniere nach dem triadischen Geschichtsmodell, operiere mit dem vormodernen metaphysischen Prinzip der Vorsehung und weise zudem starke Ähnlichkeiten mit höchst attraktiven Hollywood-Plotmustern auf.

Geradezu mustergültig führt Weixler vor, wie weit man mit narratologischen Systematisierungen und Begrifflichkeiten der Erzähltextanalyse auch bei der Untersuchung nichtfiktionaler Texte kommen kann, sein Vorgehen macht die Vorteile philologisch informierter Diskursanalyse und Kulturdiagnostik evident. Vielfach verweist Weixler auf die einschlägigen Arbeiten von Michael Butter, dessen Analysen er narratologisch unterfüttern, bestätigen oder ergänzen kann. Als Erzähltheoretiker kann Weixler überzeugend erklären, warum es Verschwörungserzählung und nicht Verschwörungstheorie heißen müsste. Der Ausgangspunkt jeglicher narratologischer Betrachtungsweise ist immer die Konstruiertheit der Erzählungen und ihrer Effekte, das heißt das Auseinandernehmen von plot-Architekturen und zentralen Semantiken, die Erkundung ihrer intendierten Wirkungen. Der Begriff Authentizität wird, basierend auf eigenen Forschungsarbeiten Weixlers, narratologisch analysiert, erhellend mit Authentifizierungsstrategien in Dokumentarfilmen verglichen, als Rezeptionseffekt ausgewiesen und schließlich auch historisch eingeordnet. Weixler zeigt, dass die Delegitimierungsstrategie von Rechtspoplisten, die sich die geläufige Behauptung zunutze macht, Massenmedien würden lügen, über einen falschen Umkehrschluss funktioniert, der darin besteht, von der behaupteten (und geglaubten) Falschheit von Aussagen, die in öffentlich-rechtlichen Medien verbreitet werden, auf den privilegierten, von der Mehrheitsgesellschaft nur unterdrückten Wahrheitsgehalt der Aussagen der Rechtpopulisten zu schließen. Rechtspopulisten machen sich cognitive biases auf diese Weise zu nutze. Weixler arbeitet die Durchbrechung einer Oberfläche hin zu einer tieferen Wahrheit als semantischen und topographisch-metaphorisch strukturieren Kern von Verschwörungsnarrativen heraus. Dieser sei eingebettet in ein triadisches Modell von Geschichte. Triadisch funktionieren nun allerdings die meisten Erzählungen; die Eigenheit liegt eher darin, dass Verschwörungserzählungen die Gegenwart besonders duster malen (im Hinblick auf ein feindliches Anderes), um ihr eigenes, an einer besseren Vergangenheit orientiertes Narrativ (Ideal der Nation, Identität etc.) in ein helleres Licht zu rücken.

Weixler greift Koschorkes Vorschlag auf, zwei Typen des Plot-Arrangements zu unterscheiden: die liberalen, temporal wie semantisch öffnende und die populistische schließende Erzählweise. Ein noch genauerer Blick auf diese Modelle wäre meines Erachtens ergiebig und auch erforderlich, denn es kommt hier auf feine Unterschiede an. So setzen auch linkspopulistische triadische Erzählungen, die im Band generell zu kurz kommen, auf die Konstruktion einer apokalyptischen Gegenwart und mitunter auf das othering der Gegner. Weixler wendet zudem berechtigterweise ein, dass auch Verschwörungsnarrative durchaus öffnende Geschichtsmodellierungen vornähmen; dem wäre genauer nachzugehen. Auch der Einsatz räumlicher Metaphern (backstage-Verschwörung) wird von Weixler nur im Vorübergehen angemerkt – in Orientierung an der international höchst aktiven Metaphernforschung (George Lakoff und andere) wäre die Metaphorizität postfaktischen Erzählens in Deutschland sicherlich ein ergiebiges Thema auch im Rahmen hiesiger narratologischer Studien; dies gilt auch für narratologische Strategien der Mythologisierung, die im Sammelband keine Rolle spielen. Das Ergebnis von Weixlers Aufsatz ist jedenfalls eine konzise skizzierte »Blaupause des Narrativs« von Verschwörungserzählungen, die als Modell für weitere narratologische Untersuchungen dienen kann.

Wie Lietzmann sieht auch der Soziologe Andreas Langenohl die Zeit und Notwendigkeit kommen, in Anbetracht der akuten gesellschaftlichen und politischen Krisen (gemeint ist die damals noch andauernde Trump-Krise) über die Werte und Normen öffentlicher Kommunikation neu nachzudenken, um deren Erosion auf Basis fundierter Analysen entgegenzuwirken. Langenohl stellt fest, dass eine rein funktionalistische, rationale Argumentationskultur in den Massenmedien, die von Jürgen Habermas noch als Standardmodell vorausgesetzt wurde, von der gegenwärtigen digitalen, pluralen, eher bildhaften denn logozentristischen Kommunikationskultur überholt worden sei. Habermas’ am normativen Primat konsensbildender Rationalität orientierte Theorie kommunikativen Handelns könne, eingedenk zahlreicher, von Langenohl aufgeführter Kritikpunkte für eine solche Debatte um normative Potenziale und Defizite öffentlicher Kommunikation dennoch fruchtbar gemacht werden: Nicht rational-argumentative Kommunikation, wie sie auf digitalen Plattformen ausgelebt werde, könne, so meint Langenohl, durchaus eine der von Habermas avisierten Kernfunktionen kommunikativen Handelns erfüllen, nämlich jene, Subjektivierungsprozesse zu initiieren. Der Vorteil bestünde somit gerade darin, dass der Informationsausstauch auf social-media-Plattformen dem reinen Rationalismus abhold ist. Indem social media Irritations-Effekte hervorrufe, trage es zu einem »ergebnisoffenen Reorientierungsprozesse«, zu einer »Dezentrierung von Sichtweisen« und endlich auch zu einer »Verständigungsorientierung« bei (188).

Das ist, um es vorsichtig auszudrücken, optimistisch gedacht. In einem pluralen, liberalen und demokratischen Verständnis von Öffentlichkeit gehört die private Unterhaltung im Netz selbstverständlich neben den Unterricht; im Idealfall nutzt die Zuschauer:in beide Angebote. Aber Tatsache ist, dass social-media-Algorithmen dazu neigen, dem AfD-Wähler AfD-nahe Häppchen zu servieren und dem Katzenvideo-Liebhaber Katzenfutter zu verkaufen. Selbst die Expert:innen, die sich als aufgeklärt und offen definieren, neigen dazu, sich selten aus ihrer eigenen Verstärkerblase heraus zu bewegen – auch Wissenschaftler:innen in Zitationskartellen tun sich gelegentlich schwer mit Multiperspektivität. Langenohl setzt auf das Prinzip Hoffnung, die Mediennutzer:innen im subjektiven Meinungsdickicht erlangten gewissermaßen per deus ex machina Selbstpluralisierungskräfte. Diese Hoffnung darf man nicht verlieren, aber liberale demokratische Gesellschaften werden sich immer dem Problem stellen müssen, wie sie die Produktion und Rezeption von Mikro- und Makronarrativen auch institutionalisiert gestalten, lenken, bewerben.

Langenohl sieht Habermas Modell einer rein rationalistisch, im narratologischen Sinn kausal-logisch argumentierenden, Öffentlichkeit als überholt an und verweist überzeugend auf die Bedeutung subjektiver, polemischer, emotionalisierender, nicht-propositionaler (bildhafter), unterhaltender und fiktionaler Anteile in der öffentlichen Kommunikation. Allerdings spricht Langenohl an dieser Stelle nur über »fiktionale Formate« und Unterhaltsformate (191), die sich explizit als solche ausweisen, und trennt im Zuge seiner Darstellung nicht durchgehend klar von social-media-Plattformen, in denen Äußerungen mit faktualem Geltungsanspruch erhoben und mit fiktiven Elementen gewürzt werden, die aber von Nutzer:innen immer noch als Nachrichtenportale genutzt und rezipiert werden. Genau genommen muss es doch um die genauere Beschreibung einer emanzipatorische Verstehensleistung von Nutzer:innen gehen: Bestimmte Medien und Plattformen bieten Raum für populistisches, postfaktisches Erzählen; dies kann und will man in pluralen Gesellschaften nicht verbieten. Das zwingt liberale Demokratien vermutlich dazu, die Metaisierung des Faktischen diskursiv voranzutreiben, egal ob man es mit digitalen Privatmedien oder Leitmedien mit faktualem gate keeping-Selbstverständnis zu tun hat.

Von der Gegenwart eingeholt wurde Langenohls Aufsatz mittlerweile insofern, als sich Habermas selbst jüngst in einem neuen Buch zu der »Deformation der Wahrnehmung der politischen Öffentlichkeit«[5] geäußert und seine eigene, Jahrzehnte alte Definition im Hinblick auf die digital veränderte Medienstruktur revidiert hat. Ohne an dieser Stelle ins Detail gehen zu können, lässt sich zumindest festhalten, dass der Philosoph am Ideal eines rationalistisch-argumentativen Diskurses festhält, ohne konkrete Vorschläge zu unterbreiten, wie es konkret zu stärken wäre.

Albrecht Koschorkes fulminanter Eröffnungsvortrag ist im vorliegenden Band nicht abgedruckt; die von ihm vorgenommenen grundlegenden narratologisch-soziologischen und kulturhistorischen Einordnungen vermisst man besonders in dem Teil des Bandes, der die theoretischen Grundlagen erläutern soll. Koschorke verweist in seinen Arbeiten stets auf die eminente anthropologische, und es wäre zu ergänzen evolutionäre, Funktion von Sinn- und Gemeinschaftsstiftung durch individuelle wie kollektive Narrative. Aber wie sehen die »schließenden« oder die »öffnenden« Narrative aus, von denen Weixler im Rückgriff auf Koschorke spricht, wie die Hoffnung erzeugenden Mikro- und Makro-Erzählungen von Gegenwart und Zukunft, und welchen Anteil werden ethische Normen und Werte daran haben? Diese Fragen beantwortet der Sammelband nicht, aber er stellt die Weichen für zukünftige narratologische Forschungsprojekte, die sich diesen Problemen zuwenden. Vermutlich auch aus berechtigter Vorsicht, nicht selbst ins Moralisieren zu verfallen, üben die Beiträger:innen des Sammelbandes hinsichtlich dieser und anderer weiterführender Fragen verständlicherweise Zurückhaltung. Da viele Autor:innen des Bandes im semantischen Zentrum des populistischen Geschichtsmodells ein othering und ein auf Verängstigung abzielendes Wir/sie-Schema ausmachen, das sie kritisieren, werden in der analytischen Auseinandersetzung implizit dann allerdings doch auch implizite Wertvorstellungen sichtbar. Sicher lohnt es sich, den sozialpsychologischen und auch evolutionsbedingten kognitiven Funktion- und Wirkungsweisen von Erzählungen zukünftig noch weiter nachzugehen. Zu den wichtigen, über den Band hinausführenden Forschungsaufgaben gehört die von Baier angerissene Frage nach den Eigenschaften und dem Stellenwert von Metaerzählungen im Übergang von der Postmoderne zur Gegenwart. Ist ein Nebeneinander von Großerzählung und Mikroerzählungspluralität das Kennzeichen der Gegenwart? Braucht es neue Meta-Erzählungen und braucht es die aktuell viel diskutierte neue aufklärerische Selbstverständigung? Wie wäre ein Rückgriff auf die Aufklärung abzüglich ihres paternalistischen und einseitig rationalistischen Gesichts zu haben? Die einzelnen Beiträge, die erfreulicherweise nicht nur deskriptive und explikative Analysen und Deutungen liefern, sondern auch aus guten Gründen den gescheuten Bereich des Imaginären zumindest streifen, regen in hohem Maße an, diesen hochaktuellen politischen wie auch narratologischen Fragen weiter zu vertiefen. Insgesamt bietet der Band zahlreiche relevante Überlegungen, teils auch Terminologien und narratologische Werkzeuge, mittels derer sich aktuelle und auch universale Fragen zur Funktion und Wirkung von Narrativen, einschließlich ihrer krisenhaften faktualen und fiktionalen Dimensionen literaturtheoretisch, soziologisch und auch historisch verorten und untersuchen lassen.

Anmerkungen

[1] Hinweis: Die Autorin des Beitrags war auf der Tagung anwesend. Ihr Beitrag zum Thema »Potenzierte Fakten – das Narrativ der Homöopathie« erschien 2018 in der Zeitschrift Diegesis. [zurück]

[2] Iwan-Michelangelo D’Aprile, Seine Feder kannte keinen Sonntag. Sudhir Hazareesingh: »Black Spartacus«, Süddeutsche Zeitung, 20.07.2022, 11. [zurück]

[3] Albrecht Koschorke, Identität, Vulnerabilität und Ressentiment. Positionskämpfe in den Mittelschichten, Leviathan 49, Jg. 2/2021, 1–13. [zurück]

[4] Klaus Birnstiel, Wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand. Eine kurze Geschichte des Poststrukturalismus, München 2016, 436–437. [zurück]

[5] Jürgen Habermas, Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik, Berlin 2022, 64. [zurück]

2022-12-02

JLTonline ISSN 1862-8990

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