Oliver Jahraus
Vom Handbuch zum Lesebuch. Über das Verhältnis von Philosophie und Literatur
Andrea Allerkamp, Sarah Schmidt (Hg.), Handbuch Literatur & Philosophie. Berlin/Boston: de Gruyter 2021. 614 S. [Preis: EUR 175,95 EUR]. ISBN: 9783110481174.
Literatur und Philosophie sind vielfach aufeinander bezogen. Literatur kann Philosophie zum Gegenstand haben, und Philosophie auch umgekehrt Literatur. Philosophie kann Formen der Literatur nutzen, und Literatur kann sich philosophisch geben. Bisweilen werden Literatur und Philosophie sogar ununterscheidbar. Aus dieser Verschmelzung heraus – Friedrich Schlegels philosophische Poetik als paradigmatisches Beispiel wird zum Einstieg genannt (vgl. 6) – entfaltet der vorliegende Band seine Verhältnisbestimmungen. Dabei geht es dann aber nicht um die Literatur oder die Philosophie an sich, sondern immer um Texte bzw. um den Umgang mit Texten. Insofern ist es durchaus gerechtfertigt, dass ein Band zum Verhältnis von Literatur und Philosophie in der Reihe der Handbücher zur philologischen Kulturwissenschaft erscheint. Die entscheidende Frage für eine kritische Bewertung dieses Handbuches lautet vor diesem Hintergrund, wie ein solcher Band mit dem »&«, die »Kopula ›und‹« (1), zwischen den beiden Titelbegriffen, mithin mit dem Formenreichtum unterscheidbarer Verhältnisbestimmungen von literarischen und philosophischen Texten umgeht und inwieweit er es schafft, das weite Feld, wie es ein Handbuch naturgemäß verspricht, zu systematisieren. Wie also löst der Band diese an sich, jedenfalls im Rahmen eines Handbuches, kaum lösbare Aufgabe?
Das Handbuch ist in vier Teile gegliedert. Der erste Teil besteht nur aus drei Beiträgen, die von den beiden Herausgeberinnen stammen (zwei in Einzelautorschaft, der erste, eine grundsätzliche Vorbemerkung, in gemeinsamer Autorschaft) und die zusammen zwei Aufgaben verfolgen, die unterschiedlich auf die Beiträge verteilt sind, aber durchaus auch ineinander übergehen, was noch einmal zeigt, dass ein Blick auf die Systematik des Bandes zugleich den Kern des verfolgten Verständnisses der Verhältnisbestimmung von Literatur und Philosophie betrifft. Denn es geht um die Vorstellung des Handbuchs und insbesondere seiner Gliederung, aber es geht auch um die grundsätzliche Frage, wie man Literatur und Philosophie ins Verhältnis setzen kann. Dass Andrea Allerkamp auf Urszenen, Konstellationen, Anekdoten und Bilder blickt, zeigt die Heterogenität des Feldes, aber gleichzeitig auch den Versuch zu systematisieren, und gibt die »Zusammengehörigkeit in der Differenz« (7) zu erkennen. Ein durchgängiges Moment liegt dabei darin, Literatur und Philosophie grundsätzlich abstrakter zu verstehen und das Literarische der Philosophie und das Philosophische der Literatur herauszuarbeiten, indem man insbesondere danach fragt, wie Literatur zu denken sei, wie Literatur ihrerseits denkt und woran sie »denken lässt« (5). Eine solche Herangehensweise schlägt sich in der Unterscheidung dreier Ebenen nieder: Philosophie in Literatur, Literatur als Philosophie und Literatur als andere oder neue Form von Philosophie – eine Gliederung, die prinzipiell für den gesamten Band, der »die verschiedenen Konstellationen des Verhältnisses (in, über, als) auf verschiedenen Ebenen aufnehmen« (1) will, gilt und zudem eine Strukturierung, die dann im letzten, vierten Abschnitt des Buches, der seinerseits mit »Konstellationen« überschrieben ist, wieder aufgegriffen und auf spezielle Konstellationen von Autoren und Texten bezogen wird.
Im zweiten Teil aber geht es zunächst um die Philosophie der Literatur, die in ihrem Zugriff stark an die Idee der Literaturtheorie erinnert oder teilweise mit ihr identisch ist, je nachdem, wie man die Begriffe Philosophie oder Theorie versteht. Dennoch gibt es spezifische Unterschiede, und die wechselseitige Abgrenzung von Philosophie und Literatur kann den spezifischen Charakter einer Philosophie der Literatur (gegenüber einer Literaturtheorie) verdeutlichen. Das wird schon an den Themen ersichtlich, die jeweils in Unterabschnitten abgehandelt werden; es geht um Affekte, Fiktion, Imagination, Rhetorik und Poetik, Vernunft, Wissen und schließlich um Ethik (in) der Literatur. Auch unter dem Begriff der Literaturtheorie lassen sich entsprechende Verhandlungen und Ansätze mit nicht unbedingt identischen Schwerpunktsetzungen wiederfinden. Leichter fällt die Abgrenzung bei solchen Perspektiven wie jener auf die Vernunftkritik der Literatur, bei Fragen zur Sprachphilosophie und Ontologie in der Literatur oder beim Verhältnis von Literatur und Ethik, wo spezifische philosophische Grundierungen durchaus relevant werden. Ein Abschnitt zur Hermeneutik ließe sich auch in einem Methodenüberblick finden, hier liegt der Schwerpunkt auf den ›klassischen‹ Positionen von Dilthey, Gadamer und Szondi. Andere entscheidende Positionen, die in literaturtheoretischen Diskussionszusammenhängen kanonisiert sind, finden sich auch in diesem Raster, wie zum Beispiel die Ansätze von Wolfgang Iser oder Roland Barthes (neben Sartre und Lacan). Im Blickpunkt steht die Schnittmenge von Imagination und Einbildungskraft, die das Verhältnis von Literatur und Philosophie spezifisch beleuchten.
Umgekehrt findet sich im Handbuch unter dem Begriff der Philosophie der Literatur aber beispielsweise kein Abschnitt zu Text- oder Zeichenbegriffen. Ein Artikel zur literarischen Kulturtheorie wäre als kulturphilosophischer Beitrag in dem Band, zumal unter dem genannten Reihentitel, hingegen durchaus von Interesse gewesen. Das ist kein Kritikpunkt, denn das wäre unfair, wenn man die Kontingenzen bei der Akquise von Beiträgen kennt, aber Wünsche darf man immer äußern. Insgesamt ist dieser Abschnitt durchaus eine genuine Philosophie der Literatur, weil doch überwiegend auf philosophische Problembestände abgehoben wird.
Der nächste, dritte Abschnitt ließe sich als eine Gattungstheorie literarischer Formen in der Philosophie verstehen. Es geht um literarische Gattungen, allgemeiner: um Formen, die die Philosophie als Ausdrucksmedium nutzt, mithin um eine philosophische Funktionalisierung literarischer Formen als ihre Ausdrucksmittel. Zu den behandelten Formen gehören Dialog, Brief, Autobiographie, Roman, Essay, Aphorismus, Denkbild und um Utopie und Tragödie, wobei die letzten beiden Punkte auf das Utopische und auf das Tragische als Beispiele grundsätzlich literarischer Momente der Philosophie erweitert werden.
Geht man nun zum vierten Abschnitt über, so kann man, im Sinne der hier vorgeschlagenen Bewertungskategorie einer möglichen oder versuchten Systematisierung des weiten Feldes von Literatur und Philosophie eine bemerkenswerte Erfahrung machen. Die beiden mittleren Abschnitte zur Philosophie der Literatur und zu den literarischen Formen der Philosophie haben durchaus einen Charakter, den man enzyklopädisch nennen könnte. Der Anspruch der Systematisierung wird sinnfällig. Auch der vierte Abschnitt teilt diesen Anspruch mit seiner Dreiteilung: Philosophie über Literatur – Philosophie als Literatur – Philosophie in der Literatur. In der Einleitung zum Handbuch heißt es jedoch überblickshaft, dass dieser Abschnitt, Konstellationen in Form von »29 kürzere[n] Essays, die aus verschiedenen Perspektiven Einblicke in die Werkstätten konkreter Textarbeit anbieten«, präsentiert (5). Das ist der entscheidende Punkt: Die Werkstätten konkreter Textarbeit machen diesen Abschnitt aus, die angestrebte Systematisierung rückt dabei in den Hintergrund. Und mehr noch: Gerade weil diese 29 Essays sich vom abstrakteren Zugriff der vorangehenden Abschnitte kategorisch unterscheiden, stellen sie so etwas wie ein Buch im Buch dar oder, wenn man so will, ein Lesebuch eigener Art, mit dem Leser und Leserinnen den Facettenreichtum des Verhältnisses und der Interaktion (oder auch, mit systemtheoretischem Zungenschlag: Interpenetration) von Literatur und Philosophie an konkreten Beispielen nachverfolgen können. Mehr noch als eine systematische Entfaltung ist dabei die historische Perspektive leitend. Dennoch gibt es eine schöne Querverbindung zwischen den beiden letzten großen Abschnitten. So besitzt (auch wenn der Band dies so nicht signalisiert) dieses Lesebuch im vorausgehenden Abschnitt eine Art Einleitung, nämlich im Artikel zum Essay von Sven Kramer (349–361), der an markanten historischen Positionen (Montaigne, Lukács, Adorno, Améry) aufzeigt, wie der Essay als literarische Form philosophisch genutzt werden kann. Überraschend und folgerichtig zugleich ist seine letzte Position in dieser Reihe: die Literatin Kathrin Röggla (359–361). Wo sich nun die Autorinnen und Autoren des vierten Abschnitts mit Konstellationen von Literatur und Philosophie (mit der besagten Binnengliederung) auseinandersetzen, schreiben sie selbst philosophische Essays, sofern man nur bereit ist anzuerkennen, dass ein Essay über Philosophie und Literatur selbst eine literarische Form ist, die philosophisch gelesen werden kann.
Diese 29 Essays zu lesen – der Rezensent will dies freiheraus bekennen – bereitet ein ganz besonderes Vergnügen. Bei einer solchen Liste darf dann jeder Leser, jede Leserin anmerken, was in dieser Liste fehlt. Zur Beurteilung des Bandes allerdings trägt diese Negativliste nichts bei. Fairerweise muss man sich an das halten, was dargeboten wird, und kann daran auch durchaus seine Freude haben.
So mag es wenig überraschen, dass sich ein Artikel über Hegels Auseinandersetzung mit Goethe in dieser Reihe findet. Dass in diesem Abschnitt auch Hegels Ästhetik (von Hennig Tegtmeyer, 423–427), wenn auch leider, was der Form des kurzen Essays geschuldet ist, nur stichpunktartig, angesprochen wird, gehört zu den Charakteristika dieses Abschnitts des Bandes, will sagen: zur Lesebuch-Erfahrung. Dass sich (zudem exzellente und sehr kundige) Artikel zu Heidegger über Hölderlin (von Anja Lemke, 428–432) oder zu Szondi über Celan (von Alexandra Richter, 433–437) finden, ist in diesem Zusammenhang im hohem Maße erwartbar und dennoch beeindruckend. Das würde auch für Foucault gelten, weniger aber für Foucaults Auseinandersetzung mit Roussel, die gleichermaßen absolut kundig Achim Geisenhanslüke und Thomas Emmrich (438–442) vorstellen, da das frühe Buch von Foucault hinter seine großen und bekannten Monographien zurücktritt, obwohl »es sich um die einzige literaturwissenschaftliche Monographie Foucaults handelt« (438), die sich philosophisch klassifizieren lässt. Darüber hinaus repräsentiert dieses Buch Foucaults zugleich sein »grundsätzliche[s] Interesse an der Literatur der Moderne« (ebd.). Aber dass sich hier im Lesebuch – im dritten Unterabschnitt zur Philosophie in der Literatur – auch Sartre wiederfindet, nämlich in dem Beitrag von Thomas Ebke zu Sartres Roman La Naussée (Der Ekel) (550–554), ist schon nicht mehr so selbstverständlich, weil der existenzialistische Kontext, der hier aufgerufen und im Artikel überblickshaft beleuchtet wird, nicht mehr die allerhöchste Konjunktur hat. Umso schöner und wichtiger!
Und dennoch: Eine Lücke darf doch markiert werden: Thomas Bernhard. (Er wird nur im großartigen Artikel von Wilhelm Voßkamp zur Utopie und zum Utopischen zitiert, wo es um den Umschlag der »literarische[n] Zeitutopie des Bildungsromans in Regression und radikale Fortschrittskritik« geht (372). Dabei hat Bernhard immer wieder auf philosophische Intertexte in seinem Werk zurückgegriffen und dieses Spiel mit Wittgenstein – literarhistorisch einzigartig – auf die Spitze getrieben. Wittgensteins Sprachphilosophie (sowohl die frühe im Tractatus, als auch die späte in seinen Philosophischen Untersuchungen) ist nicht allein die textkonstitutive Grundlage der Figurenrede seiner Texte, zudem entwickelt er daraus immer auch poetologische Reflexionen und eine Poetik seiner Texte; und schließlich dient ihm die Biographie Wittgensteins außerdem noch als narrative oder dramaturgische Folie für die Zeichnung bestimmter Figuren (Geistesmenschen), was dann wiederum auf Figurenrede und Poetik zurückwirkt. Eine solche Verzahnung findet sich nicht so leicht. Immerhin, Gottfried Gabriel hat einen Artikel zum Tractatus geschrieben, der nicht nur dieses herausragende Werk der Philosophie des 20. Jahrhunderts vorstellt, sondern auch die Ergiebigkeit der Blickrichtung des gesamten Handbuches eindrucksvoll unter Beweis stellt. Denn die Vorstellung des Tractatus will gerade mit einem Missverständnis dieses Textes aufräumen, das gerade daraus resultiert, dass man seine literarische Darstellungsform übersehen hat. Selbst wenn man die lange Tradition der Tractatus-Exegese überblickt, ist dieses Argument nicht von der Hand zu weisen. Und nicht nur nebenbei bemerkt: Vielleicht hat gerade Bernhard die literarische Form des Tractatus, die die Grenzen der philosophischen Sagbarkeit selbst noch einmal vorführen wollte, so durchschaut, dass er daraus Literatur entstehen lassen konnte.
Es zeigt sich im Handbuch mehrfach, dass mit dem Blick in die Werkstätten, mit der konkreten Auseinandersetzung mit Texten oder mit den literarisch-philosophischen Intertextualitäten (wenn man dies so verkürzt ausdrücken darf) die damit auch angesprochenen Kontexte (Hegels Ästhetik, Heideggers Seinsdenken, Sartres Existenzialismus, Foucaults Diskursanalyse, Derridas Dekonstruktion usw., um nur Schlagworte zu nennen) eben nur gestreift und punktuell erhellt werden können. Das ist dem Handbuchcharakter geschuldet, trägt aber andererseits zum Lesebuchcharakter bei. Vor diesem Hintergrund kann man bemerken, dass verschiedene Namen in mehrfachen Kontexten im Handbuch auftreten, sofern sie sowohl größere Philosopheme als auch konkrete Texte anzeigen: So finden sich beispielsweise auch Beiträge zur Sprachphilosophie und Ontologie Heideggers (Anja Lemke, 160–165), zu Literatur als Gegendiskurs bei Foucault (Achim Geisenhanslüke, 171–179) oder zur Idee des Imaginären und zur imaginären Bewusstseinskraft bei Sartre (Dominik Finkelde, 93–95).
Zum Teil wird dieser Umstand durch das Handbuch in den entsprechenden Artikeln selbst aufgefangen, wo es gerade um jene Konstellationen geht, an denen das Verhältnis von Literatur und Philosophie prekär, unterunterscheidbar und schlichtweg programmatisch und selbst als Medium der philosophischen Erkenntnis funktionalisiert wird. Das Handbuch beginnt mit einem Hinweis auf Schlegel, und Sarah Schmidt greift seine Idee von »Universalpoesie als Kritik« im frühromantischen Kontext (149–159) nochmals auf und arbeitet den Kerngedanken einer Kritik der Philosophie im Medium der Literatur (das bezeichnet sie als literarische Performanz) klar heraus. Sie setzt die grundlegende Perspektive mit einem Blick auf Nietzsche fort, dessen Aphorismen auch von Dirk Quadflieg im Abschnitt zu den Konstellationen (479–485) behandelt werden. Zu diesen zwei Stationen (F. Schlegel, Nietzsche) ließen sich noch zwei weitere zuordnen, die allerdings unter anderer Perspektivierung im Band aufscheinen und sich daher nicht in eine Systematik der Konstellation einfügen lassen: zum einen Walter Benjamin, der unter der Kategorie des Denkbildes (von Marion Picker) behandelt wird (404–413), zum anderen Jacques Derrida, dessen Auseinandersetzung mit Kafka von Oliver Precht vorgestellt wird, wobei Precht auch Agambens kritische bis ablehnende Lektüre von Derridas Kafka-Lektüre eingeht. Es zeichnet den Artikel aus, dass er dabei auf grundlegende Denkfiguren und Argumente von Derrida eingeht, die man zum Problemkern der Dekonstruktion zählen kann, insbesondere die Undarstellbarkeit eines Gesetzes der Gesetze, was Derrida (als Philosoph) mit der Lektüre von Literatur (Kafka) autoperformativ vorführt.
Damit ist ein besonders prekärer Punkt des Verhältnisses von Literatur und Philosophie angesprochen, auf den insbesondere Jürgen Habermas in seinem Buch zum Philosophischen Diskurs der Moderne (1985) aufmerksam macht, indem er Derrida die Einebnung des Gattungsunterschiedes von Philosophie und Literatur vorwirft. Gerade diese heiße Berührungs- und Kampfzone hätte eine intensivere Auseinandersetzung verdient als die Erwähnung im Kontext eines (ansonsten gleichermaßen sehr lesenswerten) Artikels zu Literatur und Lüste von Steffi Hobuß (68–69). Dass eine solche konzentrierte Auseinandersetzung fehlt, ist nicht wirklich ein Verlust für das Handbuch, denn es zeigt ja vielfältig, wie dynamisch und produktiv das Verhältnis von Literatur und Philosophie sein kann, wenn die eine – reden wir mit Habermas – Gattung durch die andere Gattung, eine neue, eine andere Form gewinnt.
2022-11-28
JLTonline ISSN 1862-8990
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