Nursan Celik
Das Erkenntnispotenzial der Literatur: René van Woudenberg über das Verhältnis zwischen Lesen, Interpretation und Wissen
René van Woudenberg, The Epistemology of Reading and Interpretation. Cambridge: Cambridge University Press 2021. 254 S. [Preis: EUR 128,99] ISBN: 978-1316516799.
Für die Erkenntnistheorie bildet die Erforschung der Bedingungen und Möglichkeiten von Wissenserlangung seit alters her ein zentrales Anliegen. Zu ihren Aufgaben gehört sowohl die systematische Untersuchung von Wissensquellen (wie etwa Wahrnehmung, Erinnerung, Bewusstsein, Vernunft, Verfahren der Induktion und Wahrscheinlichkeit, das Zeugnis anderer, die moralische Intuition, der sensus divinitatis) als auch die Klassifizierung unterschiedlicher Wissensformen (wie etwa propositionales und nicht-propositionales Wissen). Die philosophische Tradition habe jedoch, so moniert René van Woudenberg, theoretischer Philosoph an der Vrije Universiteit Amsterdam, eine bedeutsame epistemische Quelle außer Acht gelassen: das Lesen als anthropologische Grundpraxis. Damit auch das Lesen als ernsthafter Kandidat in die Systematisierung der epistemischen Quellen aufgenommen wird, widmet sich van Woudenberg ganz dem Versuch, die zahlreichen Wissensmöglichkeiten darzulegen, die sich aus einer Lektüre ergeben (können). Mit seiner Studie The Epistemology of Reading and Interpretation will er entsprechend zeigen, in welchem Sinn das Lesen und, damit zusammenhängend, der durchaus distinktive Akt der interpretativen Erschließung von textuellen Sinn- und Bedeutungszusammenhängen eine epistemische Praxis ist. Wie schnell erkennbar wird, liegt der Fokus hierbei nicht auf der Lektüre und Interpretation literarischer Texte, wenngleich Literatur mit ihrer Tendenz zu Fiktionalität immer wieder als Prüfstein der entwickelten Thesen dient. Grundsätzlich aber hat nach van Woudenberg jede Lektüre einen epistemischen Mehrwert, und zwar unabhängig davon, ob es sich um ein faktuales oder fiktionales Lesen handelt. Es geht dem Autor somit nicht um eine gattungsspezifische Analyse von Lektüreprozessen. Ziel ist es stattdessen, eine Erkenntnistheorie zu entwickeln, bei der literarische Texte nur als ein möglicher Untersuchungs- und Erkenntnisgegenstand neben anderen betrachtet werden.
Seine Abhandlung sieht der Verfasser als wichtige Ergänzung der bisherigen Forschung, und zwar sowohl für die analytische Tradition als auch für die hermeneutische, die er stellvertretend für die kontinentalphilosophische Philosophie anführt: Während die analytische Philosophie dem Lesen als Wissensquelle bislang kaum Beachtung geschenkt habe, sei der hermeneutisch ausgerichteten Tradition das vernachlässigte Verhältnis zwischen Wissen und Meinen vorzuwerfen, d. h. die Frage danach, was von wahrem Glauben zu Wissen führt (vgl. 4f.). Die Faktoren, die einen Glauben epistemisch rechtfertigen und immerhin Gegenstand der analytischen Philosophie sind, seien im kontinentalphilosophischen Spektrum auffällig unerforscht:
[W]hat we seem to have is, on the one hand, analytic epistemologists paying no attention to reading and interpretation (even though, intuitively, both are sources of knowledge) and, on the other hand, continental philosophers dealing with interpretation in a way that is largely disconnected from the concerns addressed in analytic epistemology. (6)
Auch wenn die Diagnose van Woudenbergs zutrifft, so gilt es schon an dieser Stelle eine Korrektur vorzunehmen: Die schematische Unterscheidung zwischen analytische Philosophie auf der einen Seite und Kontinentalphilosophie – Gadamer, Ricœur, Derrida als „[h]ermeneutical philosophers“ (5) – auf der anderen Seite, wie sie der Verfasser wiederholt suggeriert, lässt sich für die Gegenwartsphilosophie kaum mehr aufrechterhalten. An dieser Stelle sei nur einmal an Hans-Johann Glocks Studie Was ist analytische Philosophie? erinnert, die sich kritisch und überzeugend mit der künstlichen Unterscheidung zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie auseinandersetzt.[1]
Kernfragen und Aufbau
Vor dem Hintergrund der genannten Forschungsdesiderate formuliert van Woudenberg die Kernfragen seiner Studie wie folgt:
What precisely is required for something to qualify as a source of knowledge? What exactly is reading? How does it relate to perception and to testimony? What is it to interpret a text (or an author)? How do reading and interpretation relate to each other? What is required for an interpretation to be justified? (6)
Kurzum: Wie funktionieren Lektüre und Interpretation, wie und wann können diese beiden Prozesse und Praktiken zu Wissen führen? Um diesen und benachbarten Fragen nachgehen zu können, teilt van Woudenberg die Abhandlung in neun Kapitel auf: Zunächst wird der Frage nachgegangen, welches Wissen sich durch Lesen erlangen lässt (erstes Kapitel). In den Blick kommen dabei 1. propositionales Wissen, dass, 2. Bekanntschaftswissen und 3. praktisch-technisches Wissen, wie (also dasjenige Wissen, das Gilbert Ryle einst als knowing how im Unterschied zum knowing that apostrophierte[2]). Die These des Autors, dass durchs Lesen Wissen in den drei genannten Formen vermittelt und generiert werden könne, bildet sodann den Grundstein der Folgekapitel, die im Wesentlichen textsorten- und gattungsübergreifend angelegt sind.
Im zweiten Kapitel wird das Verhältnis zwischen Lese- und Interpretationsprozessen näher beleuchtet und begleitend hierzu unterschiedliche Verstehensarten aufgezeigt. Dass man erst durch das Lesen zu verstehen beginne, dass Lesen also Verstehenskompetenzen stärke und Verstehen wiederum Wissen voraussetze, bildet hierbei die zentrale Behauptung. Das dritte Kapitel steht im Vorzeichen der Frage, was es heißt, dass etwas eine Wissensquelle ist. Wie schon im ersten Kapitel prononciert dargelegt, wird an dieser Stelle erneut erklärt, dass keinerlei Gründe dagegen sprechen, dass man durch Lesen Wissen erlangen könne. Während die Möglichkeit der Wissensgenerierung qua Lektüre als unstrittig gelten könne, sei der Begründungsaufwand in Bezug auf fiktionale Literatur höher, da es zahlreiche kritische Stimmen gebe, die einen Wissenserwerb qua Interpretation fiktionaler Rede abstreiten oder marginalisieren. In der Auseinandersetzung mit solchen Positionen, die das literarisch dargestellte oder vermittelte Wissen lediglich als Wissen auffassen, das die fiktiven Tatsachen und Wahrnehmungen unterstützt, geht van Woudenberg im vierten Kapitel dezidiert auf die Möglichkeit von Wissensgewinnung durch fiktionale Literatur ein.
Da die Untersuchung nicht nur das Ziel verfolgt, das Lesen als Wissensquelle zu etablieren und als Gegenstand für Anschlussforschung attraktiv zu machen, sondern es darüber hinaus als einzigartige Wissensquelle zu nobilitieren versucht, wird im sechsten Kapitel die Besonderheit des Lesens gegenüber dem Hören dargelegt. Das siebte Kapitel, das dem Verhältnis zwischen Lesen und Interpretieren gewidmet ist, unterscheidet mehrere Arten von Bedeutung, die auf je eigene Weise zu Gegenständen der Erkenntnis werden können. Dabei wird an der These festgehalten, dass die Interpretation eines Textes im Wesentlichen angebe, was seine Bedeutung sei. Mit den beiden abschließenden Kapiteln werden zunächst die gängigsten drei Interpretationsansätze diskutiert: Während der klassisch-allegorische Ansatz die Suche nach versteckter Bedeutung ins Zentrum stelle und der traditionelle Schwierigkeitsansatz behaupte, dass Leserinnen und Leser nur dann nach Bedeutung suchen, wenn ein Text unverständlich für sie sei, gehe der moderne Ansatz von einer Interpretationsbedürftigkeit sämtlicher Texte aus. Die Abhandlung endet mit der Behandlung weiterer, weniger verbreiteter Interpretationsansätze.
Die zentrale These des Autors, dass sich durch das Lesen ein neues Wissen – zumeist in der Form Wissen, dass – erlangen lasse, ist wenig überraschend und ebenso wenig kontrovers. Dass wir Sachbücher konsultieren, um unser theoretisches Wissen zu erweitern und mitunter täglich Zeitungsartikel zum Zwecke der Aktualisierung unseres Tatsachenwissens lesen, ist Beleg genug, dass Lektüren zu einem Zuwachs an Wissen führen können. Weitaus interessanter wird es erst, wenn andere Wissensmöglichkeiten in Betracht gezogen werden, die das Lesen eröffnen kann: (a) eine Rückbesinnung auf und Erinnerung an Wissen, über das wir bereits verfügen, (b) zusätzliche Belege für die Überzeugungen, die wir bereits haben, sowie (c) der Einblick in und damit zusammenhängend das Verständnis für komplexere Zusammenhänge, etwa im Hinblick auf menschliche Verhaltens- und Umgangsweisen (vgl. 3). All diese verschiedenen Wissensformen zeigen nur allzu deutlich die vielseitige erkenntnisbezogene Bedeutung von Leseprozessen. Dass die Lektüre das epistemische Potenzial des Geschriebenen auf vielfältige Weise erschließen kann, ist aus philosophischer und literaturtheoretischer Perspektive unstrittig. – Die Thesen, die der Autor zum literarischen Lesen aufstellt, weisen demgegenüber Plausibilitätsdefizite auf.
Sonderfall: (Fiktionale) Literatur und Wissen
Nicht nur für die Literaturwissenschaft dürfte die Überzeugung des Verfassers von großem Interesse sein, wonach auch mittels Lektüre dezidiert literarischer Texte propositionales Wissen erlangt werden könne. Im Forschungsfeld ‚Literatur und Wissen‘ wird die Frage danach, ob fiktional-literarischer Rede ein propositionales Wissenspotenzial zukomme, überaus kontrovers diskutiert. Indem er diese Frage bejaht, erweist sich van Woudenberg als Vertreter des sogenannten literarischen Kognitivismus, der von der Grundannahme ausgeht, dass fiktionale Texte einen kognitiven Wert haben und Erkenntnisse vermitteln (moderater Kognitivismus) oder gar eigenes propositional-theoretisches Wissen generieren können (harter Kognitivismus). Der literarische Kognitivismus, der in der deutschsprachigen Forschung mit Maria E. Reicher und Gottfried Gabriel und in der anglophonen mit Jerome Stolnitz, Peter Lamarque und Stein Haugom Olsen (in deren Linie sich van Woudenberg selbst stellt) die wohl namhaftesten Vertreter hat, ist mit einigen gewichtigen Einwänden konfrontiert: Mit Verweis auf die Besonderheit des fiktionalen Redestatus, unter dessen Vorzeichen das Gros literarischer Texte steht, heben Antikognitivsten durchaus überzeugend hervor, dass notwendige Bedingungen für propositionales Wissen – also Wissen der Form Wissen, dass – hierbei nicht gegeben seien.
Fiktionales Erzählen nämlich bedeutet (in der Analyse z. B. von John Searle) in erster Linie, dass etwas nur scheinbar behauptet wird und somit nicht als ernsthafte Aussage der jeweiligen Autorin oder des Autors aufzufassen ist. Zudem muss häufig zwischen Autorinstanz und Erzähl- beziehungsweise Sprechinstanz unterschieden werden – ein Aspekt, dessen sich van Woudenberg zwar bewusst ist, der jedoch bei seinen Ausführungen manchmal nicht klar genug formuliert wird. Die berechtigte Frage, die sich daraus ergibt und von Antikognitivisten immer wieder gestellt wird, lautet: Wie können Aussagesätze Grundlage für theoretisches Wissen sein, die ohne Behauptungskraft formuliert werden? Weil fiktionale Rede als nicht-behauptende Rede gilt, leuchtet somit nicht unmittelbar ein, inwiefern fiktionale Literatur als potenzielle Grundlage für den Erwerb neuen theoretischen Wissens betrachtet werden soll. In der Folge wird die Möglichkeit propositionaler Wissensgewinnung qua Fiktion von einigen bedeutenden Kritikern als unwahrscheinlich oder gar als mit dem fiktionalen Redestatus unvereinbar abgelehnt. So dürfte nicht nur für die Literaturtheorie insbesondere die folgende Aussage als präzisierungsbedürftig aufstoßen: »[P]ersons who are literary authors often do make declarations, and they do so by writing their works: Charles Dickens, Thomas Hardy, Fyodor Dostoyevsky, George Elliott, and Multatuli do make and intend to make declarations on many different topics, albeit in indirect ways.« (22) Der hierbei fehlende explizite Verweis auf die Dissoziation zwischen Autorinstanz auf der einen Seite und literarischer Erzähl- beziehungsweise Sprechinstanz auf der anderen Seite ist nicht marginal: Tatsächlich gilt es beide Instanzen trennscharf zu unterscheiden, handelt es sich nämlich vom Standpunkt der jeweiligen Autorin oder des jeweiligen Autors meist um grundlegend unterschiedliche Sprechakte (direkte Behauptungen einerseits, indirekte Behauptungen mittels der fiktionalen Erzählung andererseits).
Korrigiert werden muss der Eindruck, den van Woudenberg stellenweise erzeugt, dass der kognitivistische Ansatz darauf festgelegt ist, fiktionaler Rede die Fähigkeit zur Vermittlung propositionalen Wissens zuzuschreiben. Vielmehr vertritt der hier relevante Kognitivismus die Auffassung, dass der Literatur irgendein Erkenntnispotenzial zukommt – und dieses Potential würden ihr selbst die meisten Antikognitivisten wohl zubilligen. In dieser Hinsicht lässt sich in der Theoriedebatte zu Literatur und Wissen durchaus ein weitgehender Konsens ausmachen. Bei der Frage aber, welche Erkenntnis- und Wissensformen sich mit (fiktionaler) Literatur vermitteln lassen, ist sich die Forschung schon weitaus weniger einig. Wissensformen, die van Woudenberg für das Lesen ins Spiel bringt, entsprechen den gängigsten Beispielen der Kognitivisten: Der alten Vorstellung etwa, dass durch das Lesen äsopischer Fabeln allgemeine moralische Wahrheiten erlernt werden können (22), wird nichts wesentlich Neues hinzugefügt. In solchen Momenten scheint van Woudenbergs Abhandlung eine Debattenwiederholung zu betreiben, die zudem in der neusten literaturwissenschaftlichen Forschung weitaus differenzierter geführt wird.
Denn bei genauerer Betrachtung wird die Frage nach dem Erkenntnispotenzial nochmals komplexer: Es besteht nämlich kein Konsens darüber, welche Faktoren für ein solches Wissen überhaupt ausschlaggebend sind. Zwar wird propositionales Wissen seit Platon zumeist als gerechtfertigte, wahre Überzeugung bestimmt, doch ist diese Annahme nicht zuletzt seit dem sogenannten Gettier-Problem einer zunehmenden Zerreißprobe unterzogen worden. Anhand eines Gedankenexperiments stellte der amerikanische Philosoph Edmund Gettier in einem kurzen Beitrag, der 1963 in der Zeitschrift Analysis erschien, überzeugend dar, dass sich die Richtigkeit einer gerechtfertigten, wahren Meinung auch durch bloßen Zufall ergeben kann. Die seitdem anhaltende Diskussion um die Neubestimmung des Wissens erwähnt van Woudenberg zwar, lässt diese in der Folge aber unberücksichtigt.
Während also van Woudenbergs Überlegungen zum Verhältnis von knowing-that und Literatur blinde Flecken beinhalten, erweisen sich auch die Ausführungen zum knowing-how nicht durchgehend als überzeugend. Im Besonderen ist es die folgende Aussage, die ein Fragezeichen hinterlässt: »However, the claim that knowing-how cannot easily be transmitted through telling or, more relevant in the current context, through reading is unconvincing« (34). Das knowing-how, das van Woudenberg als durch bloße Lektüre erwerbbar verstanden wissen will, bedarf einer näheren Erläuterung. Zwar stellt der Autor richtigerweise fest, dass das Lesen manchmal überhaupt erst die Grundlage für technisch-praktisches Wissen bildet (andernfalls erübrigt sich die Existenz von Kochbüchern, Bedienungsanleitungen usw.), doch wird hierbei außer Acht gelassen, dass nicht das Lesen das entsprechende Wissen – beziehungsweise für diesen Zusammenhang konkreter: die Kompetenz – schafft, sondern erst die Lektüre in Kombination mit der praktischen Übung. So kann man beim ersten Versuch, ein Rezept nachzukochen, scheitern, obwohl vorher ausgiebig das jeweilige Rezept gelesen wurde. Dasselbe gilt für praktische Fähigkeiten, die man durch Lesen von Romanen Kenntnis kennenlernt. Es erweist sich daher als voreilig, die bloße Lektüre für den Erwerb eines knowing-how für ausreichend zu erklären.
Bestreitbar ist auch van Woudenbergs Annahme, dass fiktionale Literatur Erfahrungswissen vermittle: »Through reading works of literature one may, to use Dorothy Walsh’s phrase, ›vicariously live through‹ an experience or a way of living or a position in life that one has no acquaintance with by one’s own experiences.« (31) Zwar wird immerhin ergänzt, dass die Erlebnisse, die etwa Romanfiguren durchmachen, in ihrer emotiven Tragweite nicht deckungsgleich seien mit denen der jeweiligen Leserinnen und Lesern, doch hält der Autor nichtsdestotrotz an daran fest, dass »[t]here is some sort of first-person what-it-is-like experience that one is undergoing« (31f.). Allerdings wurde in der Vergangenheit und hierbei oftmals mit Verweis auf Frank Jacksons bekanntes Mary-Gedankenexperiment überzeugend dargelegt, dass ein textuell aufbereitetes Erlebnis ein selbsterfahrenes Erlebniswissen nicht ersetzen könne.[3]
Literaturtheoretisches Desiderat: Ethisch-praktisches Wissen qua Literatur
Während van Woudenberg, wie zuvor dargelegt, mit Bezug auf das Verhältnis von (fiktionaler) Literatur und Wissen einige Thesen bereithält, die aus literaturwissenschaftlicher Sicht diskussionswürdig sind, fällt bei ihrer Prüfung großes Desiderat auf, das sich insbesondere bei der Behandlung von den Wissensformen literarisch-fiktionaler Texte geradezu aufdrängt: das ethische-praktische Wissen. Obwohl van Woudenberg propositionales, phänomenales sowie technisches Wissen trennscharf unterscheidet und jeweils auch vor dem Hintergrund literarischer Lektüren diskutiert, bleibt das ethische Wissen, wie zu handeln ist,[4] gänzlich unberücksichtigt. Lediglich schlaglichtartig und beiläufig wird auf diese Wissensform angespielt, wenn es etwa heißt: »The particular knowledge of human psychology that can be acquired by reading John Steinbeck’s Of Mice and Men may, perhaps, not be yielded by any other source.« (134)
Dabei ist es gerade diese Wissensform, die von literarischen Kognitivisten immer wieder als Beleg dafür angeführt wird, dass sich auch durch die Lektüre fiktionaler Darstellungen ein Wissen generieren lasse und dass es die Besonderheit der Literatur sei, solches Wissen vermitteln zu können. Denn durch die Erprobung unterschiedlicher Handlungssituationen und -verläufe im fiktional-literarischen Raum können Leserinnen und Leser Einblicke in Handlungshintergründe von Figuren erhalten, die Motivation und Struktur einzelner Verhaltensformen nachvollziehen oder gar für das eigene Handeln ethisch-praktisch geschult werden. Diese Form des Wissens ist alles andere als nebensächlich und wird nicht selten als eigentlicher Grund dafür genannt, weshalb Literatur einen enormen Stellenwert in der Menschheitsgeschichte hat und Leserinnen und Leser selbst an hochgradig fiktiver Literatur großes Interesse zeigen. Weil van Woudenberg diese besondere Wissensform keiner Analyse würdigt, wird das eigentliche Wissenspotenzial literarischer Werke insgesamt nicht gebührend Rechnung getragen.
Mehrwert für die Literaturtheorie
Abgesehen von den strittigen Punkten verdient van Woudenbergs Monografie, als bedeutsame theoretische Arbeit zum Verhältnis zwischen Lesen, Interpretation und Wissen hervorgehoben zu werden. Das Ziel, die Praxis des Lesens und Interpretierens systematisch als epistemische Quelle zu erweisen, verfolgt der Autor sehr konsequent. Sein Beitrag bietet vielfältige Anregungen für Forscherinnen und Forscher, die sich mit diesem Themenkomplex befassen. Trotz der Ausrichtung an ein primär fachwissenschaftliches Publikum empfiehlt sich die Beschäftigung mit dem Buch auch für fachfremde Leserinnen und Leser. Verfasst in einer klaren und präzisen Sprache stellt ihre nachvollziehbare Strukturierung sicher, dass sich auch Nichtphilosophen trotz der Fülle der behandelten Aspekte schnell über die Grundprobleme der Diskussion orientieren können. Die knappen, gerade für Anfänger äußerst hilfreichen, Resümees, mit denen van Woudenberg jedes Kapitel beendet, führen die kohärente Gestaltung seiner Studie vor Augen.
Für die Literaturwissenschaft von besonderem Interesse sind die Abschnitte, die Anschlussfragen im Forschungsfeld ›Literatur und Wissen‹ provozieren und die Notwendigkeit aktualisierter Lösungsvorschläge für altbekannte Probleme verdeutlichen. Allerdings erweist sich van Woudenbergs Untersuchung angesichts der Menge an weitaus überzeugenderen Publikationen zum Bereich Literatur und Wissen aus den letzten Jahren (siehe einschlägig etwa die Arbeiten von Tilmann Köppe und Íngrid Vendrell Ferran) als ausbaufähig. Als systematischer Überblick zum Zusammenhang von Lesen, Interpretation und Wissen lohnt sich die Lektüre aber allemal.
[1] Vgl. Hans Johann Glock, Was ist analytische Philosophie? Darmstadt 2014. [zurück]
[2] Vgl. Gilbert Ryle, The Concept of Mind [1949]. 60th Anniversary Edition. Hg. Julia Tanney, London/New York 2009, 14–48. [zurück]
[3] Vgl. hierzu u. a. Nursan Celik, Fiktionale Rede. Prolegomena zu einem grundlegenden Konzept, in: Eric Achermann, Daniel Arjomand, Nursan Celik (Hg.), Lizensur. Was darf fiktionale Literatur? Berlin/Heidelberg 2023. [zurück]
[4] Siehe hierzu die Einteilung von Oliver R. Scholz, der neben propositionalem und phänomenalem Wissen auch praktisches Wissen, einmal in der Variante des technisch-praktischen Wissens sowie außerdem in der Variante des ethisch-praktischen Wissens unterscheidet: Oliver R. Scholz, Fiktionen, Wissen und andere kognitive Güter, in: Tobias Kindt, Tilmann Köppe (Hg.), Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin/Boston 2014, 209–234, 213. [zurück]
2022-12-06
JLTonline ISSN 1862-8990
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