Adrian Robanus
Erzählen und Erkenntnis
Ansätze zu einer Systematik der historischen Narratologie des 18. Jahrhunderts
Sebastian Meixner, Narratologie und Epistemologie. Studien zu Goethes frühen Erzählungen. Berlin/Boston: de Gruyter 2019. 410 S. [Preis: EUR 99,95]. ISBN: 978-3-11-058309-0.
In der Mittelalter- und Frühneuzeitforschung hat derzeit das vielversprechende Konzept der historischen Narratologie Konjunktur.[1] Sebastian Meixner schließt an diese Forschungsrichtung an und verbindet in seiner Dissertation historische Epistemologie und historische Narratologie.
Wie ist Meixners Konzept der historischen Narratologie zu verstehen? Ausgangspunkt ist Goethes nur rudimentär entwickelte Erzähltheorie. In Über epische und dramatische Dichtung (1797) verortet er den Paradigmenwechsel zur Unterscheidung von Autor und Erzählinstanz. Damit »begründe[] Goethe nichts weniger als die seit den 1960er Jahren in allen narratologischen Systematiken grundlegende fiktionstheoretische Arbeitsteilung, wonach der Autor erfindet und der Erzähler vermittelt.« (4) Meixner entnimmt Goethes Überlegungen die Aspekte von Ort, Folge und Modus, die den Ausgangspunkt seiner Modellbildung darstellen. Allerdings habe Goethes Modell von 1797 Grenzen, da im Gegensatz zum Rhapsoden aus Über epische und dramatische Dichtung die früheren literarischen und naturwissenschaftlichen Texte narrativ die Grenzen ihres Wissens markierten. Daher arbeitet Meixner einen »historisch-systematischen narratologischen Ansatz für das späte achtzehnte Jahrhundert aus, der Erkennen und Erzählen als zwei Seiten derselben Medaille beschreibt« (6).
Meixners Begriff des Erkennens umfasst in Anlehnung an das Historische Wörterbuch der Philosophie »sowohl die Darstellung der Erkenntnis als auch das Bewusstsein von Erkenntnis« (8). Sein Erkenntnisbegriff ist sehr breit: Es geht nicht um die spezifischen Ergebnisse der Erkenntnistheorie, sondern um »eine deutlich abstraktere Struktur, welche die Genese von Wissen über die Welt und dessen Möglichkeitsbedingungen beschreibt.« (ebd.). Dieser Erkenntnisbegriff bleibt etwas unbestimmt – ob es sich hier um den Erkenntnisprozess der Leser*innen, des Autors oder des fiktiven Erzählers im Verhältnis zur fiktiven Welt handelt, wird nicht eindeutig gesagt. Blickt man auf die konkreten Analysen der wissenschaftlichen und literarischen Texte Goethes in der Arbeit, so wird deutlich, dass es meistens um den Prozess der Herstellung von Erkenntnis durch literarische und nichtliterarische Texte geht, der vor allem über Darstellungsverfahren analysiert wird. Meixner betont den Vorteil des Erkenntnisbegriffes gegenüber dem des Wissens. Erkennen umfasse mehr als Wissen, da die Bedingungen und die Mittel der Erkenntnisherstellung mitberücksichtigt würden und auch nicht-propositionales Wissen in diesen Begriff der Erkenntnis mit eingeschlossen sei. Da dezidiert auch der »epistemische[] Wert« (9) literarischer Texte zu Meixners Erkenntnisbegriff gehört, ist das Epistemologieverständnis hier ähnlich global wie das Wissensverständnis der Wissenspoetik.[2] Die weite Definition des Erkennens nivelliert die Spezifika systematischer Epistemologie. Insofern könnte man der Arbeit hier eine gewisse Zirkelhaftigkeit vorwerfen: Die Gemeinsamkeiten zwischen Erkennen und Erzählen ergeben sich daraus, dass man deren gemeinsamen Nenner herstellt und die Unterschiede ignoriert. Dennoch erscheint dieser übergreifende Erkennensbegriff für eine historische Narratologie fruchtbar: offensichtlich lassen sich Verfahren des Erkennens in Literatur und Naturwissenschaft des 18. Jahrhunderts ausmachen, deren Gemeinsamkeiten über narratologische Analysen erschlossen werden können.
Entsprechend geht der Autor davon aus, dass sich die ›Erzähltheorie‹ Lessings, Blanckenburgs und Engels mit epistemologischen Fragen auseinandersetzen müsse, während die Epistemologie Baumgartens (Ästhetik), Herders (Geschichtsphilosophie) und Kants (Transzendentalphilosophie) auf narrative Verfahren zur Plausibilisierung ihrer Argumente zurückgreife. Sein Anspruch ist es, nachzuweisen, inwiefern Goethes Erzählen in den naturwissenschaftlichen Schriften »ein dem Experiment analoges« (7) Erkenntnisverfahren darstelle. Umgekehrt sei über die »Modellierung erkennender Instanzen« (ebd.) das Erkennen wesentliches Erzählmittel.
Meixners Begriff des Erzählens ist entsprechend seiner weiten Erkenntnisdefinition sehr breit gefasst: Der Autor rekurriert auf die Minimaldefinition des Erzählens von Peter Lamarque, die die Kriterien von Vermittlung und Reihung von Ereignissen ins Zentrum stellt. Die »in der Narratologie bis heute weit verbreitete Konzentration auf literarisches bzw. fiktionales Erzählen und ihre Vorurteile« (10) bleibt damit ausgeklammert und damit auch die Problematik der Wirklichkeitsreferenz. ›Goethe‹ sei dabei das »Ordnungsprinzip« (13), das die naturwissenschaftlichen und literarischen Texte verklammere, ohne damit ein holistisches Goethe-Bild reaktivieren zu wollen, oder die Erzählinstanzen mit dem Autor kurzzuschließen. Der Anspruch lässt sich also so formulieren: Nicht der Autorname rechtfertigt es, die Erzählungen und naturwissenschaftlichen Schriften parallel zu lesen, sondern die in seinen Texten zu beobachtenden narrativen Verfahren. Die Kombination von systematischen und historischen Aspekten erfolgt dabei über die Untersuchung erzähltheoretischer Ansätze von Lessing, Blanckenburg und Engel.
In seiner Darstellung der Funktionen des Erzählens bei Genette und Hamburger im ersten Abschnitt der Systematik plädiert Meixner, anschließend an ein Kapitel aus Genettes Diskurs der Erzählung, für eine funktionsorientierte Analyse der Aussageinstanz. Ausgangspunkt ist der Befund, dass in der Genette’schen Narratologie und ihren Weiterentwicklungen erkenntnistheoretische Fragen an wesentlichen Systemstellen auftauchen, ohne dass dies expliziert wird. Dies wird deutlich gemacht über die extranarrativen Funktionen, die Genette im Diskurs der Erzählung bestimmt. Da diese extranarrativen Funktionen nicht von der narrativen Funktion zu trennen seien, müsse hier der Übertrag zur jeweils zeitgenössischen Erkenntnistheorie hergestellt werden: »Indem jedes Erzählen den Zugriff auf die erzählte Welt mit abbildet, ist sie immer von einer epistemologischen Funktion abhängig.« (23)
Ausgehend hiervon schlägt Meixner eine genauere Profilierung der narrativen Funktion mit Rückgriff auf Käte Hamburgers Logik der Dichtung vor. Der Vorteil der Hamburger’schen Sichtweise sei, dass diese poetische Sprache nicht ausgehend von einer Relationierung von Subjekt und Objekt fasse. Daher sei die »epische Fiktion […] der einzige erkenntnistheoretische Ort, wo die Ich-Originität (oder Subjektivität) einer dritten Person als einer dritten dargestellt werden kann.«[3] Meixner betont also den nicht-personalen, sondern funktionalen Charakter der Erzählfunktion, um deren erkenntnistheoretischen Status hervorzuheben. Dadurch werde deutlich, dass die Erzählfunktion immer einen »Ort des Erkennens« (26) mit entwerfe. Die Erzählfunktion sei also »eine Zuordnungsvorschrift, die epistemologisch grundiert ist.« (27). Etwa anhand von Genettes Kategorie der Stimme konkretisiert sich damit, wovon hier die Rede ist: Am Beispiel des Briefromans als narratologischem Problemfall wird herausgearbeitet, dass die extradiegetische Organisationsinstanz durch die Anordnung, Adressierung und Beglaubigung der Briefe »eine grundsätzliche epistemologische Funktion« (31) habe. Es geht bei diesem Erkennen also um grundlegende Ordnungsmechanismen textueller Anordnungen. Auch die Kategorie der Folge hat eine solche Funktion: Martínez/Scheffel sprechen von der »doppelte[n] Zeitperspektive des Erzählens«[4]. Genette, so zeigt Meixner, muss bei seiner Zeitanalyse wiederholt auf den Modus der Erzählung verweisen, worin sich erneut die »epistemologische Grundierung der Stimme« (36) erweise. Am deutlichsten erscheint der Konnex von Narratologie und Epistemologie in der Kategorie des Modus, operiert diese doch offen mit einem Wissenskonzept der »Regulierung der narrativen Information«[5]. Indem in der Fokalisierung Wissen und Wahrnehmung kombiniert werden, werden die verschiedenen Stufen zu Graden des epistemologischen Zugriffs auf die erzählte Welt.
Meixners Rekonstruktion von Käte Hamburgers und Gérard Genettes Erzähltheorien fällt im Einzelnen sehr detailliert aus. Die Kritik von Genettes Erzähltheorie hat systematischen Anspruch. Hier könne eine Epistemologie der Narratologie erschlossen werden, indem Genettes Ansatz auf seine erkenntnistheoretischen blinden Flecken hin untersucht werde. Wenn Meixner hervorhebt, dass Genette die Erzählstimme in ihren Spuren im Diskurs suche (vgl. 28),[6] betont er, dass die Narratologie hier ihre eigene Fiktionalität entwirft, indem sie den Erzähltext wie ein narratives Dokument der Realwelt behandelt. So wird die Asymmetrie der Begriffe von discours und histoire sowie der Begriffe von récit und narration betont. Eine weitergehende epistemologisch orientierte Analyse der Narratologie verortet diese »im Sinne einer Beobachtung zweiter Ordnung« (41). Zum Teil scheint aber die Verhandlung von Genettes Theorie eher der strategischen Abgrenzung zu dienen, deren Kern beinhaltet, dass Genette den epistemologischen Gehalt der Narratologie vielfach übersehen habe, den Meixner nun mit Hamburger zu erkennen beansprucht: »Was Genette in seinem System nicht bewältigt, wird bei Hamburger zur positiven Bestimmung der Erzählfunktion, die nun im Kern epistemologisch ist, weil sie nicht nur die erzählte Welt vermittelt, sondern den Zugriff auf die erzählte Welt reflektiert.« (43)
Meixner verortet den Ursprung der Theoretisierung des Erzählens im Hinblick auf seine Leitkategorien Ort, Folge und Modus im 18. Jahrhundert. In der Ästhetik des 18. Jahrhunderts situiert er die epistemologische Basis der aufklärerischen Erzähltheorie. Anhand eines Eintrags zum Roman in Zedlers Universal-Lexicon, Lessings Fabeltheorie, Blanckenburgs Versuch über den Roman und Engels Ueber Handlung, Gespräch und Erzehlung wird die Funktion des Erkennens für das Erzählen bestimmt. Da die Kriterien für einen guten Roman von erzählerischen Verfahren abhingen, handele es sich hier um eine Gattungstheorie, der eine Erzähltheorie zugrunde liegt.
Lessings Fabeltheorie wird durch die »Ambivalenz der Stimme« (51) charakterisiert. Die Fabel wird bei Lessing zum Ort der anschauenden Erkenntnis. Die damit verbundene »Umstellung der Erzählerstimme« (53) sei allerdings von ihm nur implizit reflektiert und zeige sich vor allem in den Fabeln. In Blanckenburgs Versuch über den Roman erweist sich die Entwicklung von der Gattungstheorie zur Darstellungstheorie, da sich der Fokus von Gattungszuordnungen zu narrativen Techniken verschiebe. Der Zusammenhang von epistemologischer und narrativer Funktion sei durch die Verortung eines finalen Erzählpunktes hergestellt, wie Meixner betont. Die daraus resultierende Erzählfunktion ergebe sich durch ihren Fokus auf die innere Geschichte der Figuren, die Einebnung des Widerspruchs zwischen Kausalität und Finalität und ihre Unanschaulichkeit. Auch Johann Jakob Engels Ueber Handlung, Gespräch und Erzehlung (1774) sei an der Schwelle von der Gattungs- zur Erzähltheorie situiert. Die Verbindung von Gespräch und Erzählung entspreche der Modusanalyse der gegenwärtigen Narratologie. Der Vorzug der Erzählung gegenüber dem Gespräch ist bei Engel die »Freyheit, bald größere, bald kleinere Sprünge zu thun, mehrere Momente, und oft ganze Reihen […] zu überhüpfen.«[7] Im Begriff des ›Gesichtspunkts‹ werden zudem Perspektive und Finalität zusammengeführt. Der entscheidende Punkt liegt aber darin, dass sich gemäß Engel das Erzählen als Darstellungsform unsicheren Wissens eignet. Narrative Formen des Zweifels an der Gewissheit des Dargestellten sind etwa »Räsonnements und Bemerkungen«[8] des Erzählers. Insgesamt führen diese Beispiele zu dem Zwischenfazit, dass »in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts unter der Oberfläche einer Gattungsdiskussion das Leistungsprofil des Erzählens durch spezifische Darstellungsmittel erstmals vermessen wird« (65). Während die Analysen überzeugend darlegen, dass in den Beispieltexten Epistemologie und Narratologie besonders eng gekoppelt werden, stellt sich die Frage, ob man den weiten Geltungsradius dieser These nicht etwas einschränken müsste. Zu vermuten wäre, dass sich auch in antiker und frühneuzeitlicher Rhetorik schon Ansätze zur Vermessung der Leistungen des Erzählens finden lassen.
Der dritte Abschnitt des systematischen Teils beschreibt das Erkennen um 1770. Meixner verortet hier einen Paradigmenwechsel. Der Ausgangspunkt sind die Einträge zu Wahrheit und Wahrscheinlichkeit aus Sulzers Allgemeiner Theorie der Schönen Künste (1771–1774). Wahrheit wird hier einerseits auf die Richtigkeit der Inhalte bezogen. Andererseits kann dort Wahrheit aber auch die Perfektion der Darstellung bedeuten. Ausgehend von dieser Doppelbedeutung geht es in diesem Teil darum, die narrativen Techniken der historischen Erkenntnistheorie herauszuarbeiten. Meixner postuliert, dass »die zeitgenössischen Erkenntnistheorien nicht umhinkommen, Darstellungstheorie – ja Erzähltheorie – in ihr Argument zu integrieren « (68). Dies wird exemplarisch ausgeführt anhand des Eintrags zur Erkenntnis in Zedlers Universal-Lexicon, Baumgartens Aesthetica (1750/58), Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit und Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784). Auch dort seien die Schwierigkeiten von Ort, Folge und Modus zu verorten. In seinen Aesthetica gibt Baumgarten den Fiktionen ihre epistemische Legitimation. Meixner betont, dass es sich hier dezidiert um narrative Fiktionen handelt. Das zeige sich einerseits daran, dass die Beispiele sich an Erzählformaten orientierten, andererseits wird das Erzählen selbst zum Darstellungsmodus Baumgartens. Die Fabel wird hier erkenntnistheoretisch nobilitiert und als erzähltheoretischer Begriff verwendet: Sie wird zum »Prototyp der literarischen Epistemologie« (78) und zum »erzähltheoretischen Begriff, der andere Textformate beschreibbar macht« (97). Die knappe Analyse von Herders Ideen verschiebt sich dann zur Analyse der Erzählstrukturen, die der Evidenzerzeugung. Auch Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht wird im Hinblick auf ihre narrative Perspektivierung untersucht. Mit Albrecht Koschorke liest Meixner Kants erkenntnistheoretische Problematik als narratologische Herausforderung und legt eine rhetorische Analyse des Textes und seiner Argumentationsverfahren vor. So wird insgesamt die zentrale Rolle des Erzählens für die Erkenntnistheorie um 1770 herausgearbeitet: Die Epistemologie reflektiert auf das Erzählen und sie erzählt selbst, wenn es argumentative Schwierigkeiten gibt.
Im vierten Abschnitt bindet Meixner seine historischen Befunde an die narratologische Systematik zurück. Die Metalepse ist dabei für ihn der »Modellbegriff […], der diejenigen Probleme zu systematisieren erlaubt, die [er] bisher immer relativ allgemein als blinde Flecken oder Grenzen der Systematik bezeichnet habe« (91). Die von ihm ausgemachten narrativen Verfahren weisen laut Meixner »in die Richtung einer Re-Rhetorisierung der Narratologie« (ebd.). Die Metalepse wird als »Integral« (92) beschrieben, das Erkennen und Erzählen verbindet. Das ist mit dem Anspruch verbunden, den »blinde[n] Fleck der strukturalistischen Narratologie« (ebd.) auszuleuchten. Neben ihrer Funktion als »modellbildendes Integral« (ebd.) erscheint die narrative Metalepse als »Arsenal an rhetorischen Verfahren« (ebd.), die ihrerseits als metaleptische Verfahren beschrieben werden. Mit Rückgriff auf Genette wird die Metalepse zunächst als Verletzung der Ebenenhierarchie des Erzählens gefasst, die die Grenze zwischen fiktiver und realer Welt überschreitet. Davon ausgehend reformuliert Meixner die Metalepse narratologisch. Als Figur, die »die Bedingungen reflektiert, zu denen die jeweiligen Systeme funktionieren« (95), sei sie »eine Art Master-Tropus […], der die Systematik der Tropen reflektiert.« (96). Anschließend an David Herman wird die Metalepse als Vermischung verschiedener Rahmungen bestimmt, die so die Kohäsionsbildung in Texten stört. Daraus entwickelt Meixner drei Imperative anhand der Aspekte von Ort, Folge und Modus. Was den Ort betrifft, so stehe er unter dem Imperativ ›Du sollst dir kein Bild machen‹. Durch den Modellbegriff der Metalepse werde deutlich, dass die Stimme als Systemstelle des Ortes keine stabile Position einnehme. Zudem werde damit die Ebenenhierarchie des Erzähltextes in Frage gestellt. Der Brückenschlag zum historischen Teil wird hier kurz anhand von Lessing und Baumgarten vollzogen, wobei nicht ganz deutlich wird, was die spezifische Metalepse der Stimme in deren Texten ist.
Die Kategorie der Folge steht laut Meixner unter dem Imperativ ›Du sollst keine Lücken produzieren‹. Die Metalepse in modernen Erzähltexten unterlaufe diesen Imperativ. Blanckenburg setze zwar eine Kausal- und Finalordnung voraus und verbiete metaleptische Verfahren; dennoch sei die doppelte Funktion des Erzählers als Schöpfer und Geschichtsschreiber eine dessen Romantheorie zugrundeliegende metaleptische Struktur. Herder dagegen verwende metaleptische Verfahren, um Kontinuität darstellen zu können. Die Kategorie des Modus schließlich stehe unter dem Gebot: ›Du sollst dein Wissen nicht überschreiten‹. Paralepsen, bei denen die Erzählfigur ihr Wissen überschreitet, basierten auf Metalepsen über das Figurenwissen und die Erzählebenen hinweg. Engels Ueber Handlung, Gespräch und Erzehlung sehe die Problematik des Erzählens in Paralipsen, in denen Teile der Handlung ausgelassen werden. Kants in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht dezidierte Ablehnung, einen Roman zu schreiben, sei die Unterstreichung seiner Intention durch rhetorische Figuren.
Bei Genette ist die Metalepse als Figur, die die »bewegliche, aber heilige Grenze zwischen zwei Welten: zwischen der, in der man erzählt, und der, von der erzählt wird«,[9] gefasst. Sie ist ein Spezialfall der Metonymie. Meixner entwickelt daraus einen übergeordneten Begriff der Metalepse, der in den Verfahren der Metalepse, der Syllepse und der Paralepse/Paralipse jeweils Probleme des Erkennens an den Grenzen des Erzählens erschließbar mache. Diese anspruchsvolle Neubestimmung der Metalepse bleibt allerdings etwas unbestimmt. Die wenigen Beispiele lassen den Verdacht aufkommen, dass es sich hier im Grunde um eine begrifflich aufwändige Umschreibung von Darstellungsverfahren handelt, die rhetorisch Erkenntnis herstellen oder selbstreflexiv auf ihre Grenzen verweisen. So heißt es in Bezug auf Baumgarten: »Dieses Darstellungsverfahren ist metaleptisch, weil es die Grenzen zwischen Argument und Beleg unterläuft« (111). Und Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht konstruiere ihren Standpunkt des Überblicks über »Personifikationen, tendenziöse[] Klammern, rhetorische[] Fragen und ungedeckte[] Behauptungen im Irrealis« (ebd.).
Insgesamt liege im 18. Jahrhundert eine proto-narratologische Erzähltheorie vor, in der Erkennen und Erzählen eng zusammen hängen, eine Beziehung, die von der strukturalistischen Narratologie systematisch verdrängt worden sei. Der Anspruch ist es also, einen impliziten Zusammenhang zu erschließen, der durch die historische Narratologie aufgedeckt werden kann. Das zeige sich besonders an Lessings Funktion des Erzählortes als abstrakte Stimme, Blanckenburgs brüchiger Folge der Motivierung und Engels an ihren Grenzen metaleptischen Darstellungsmodi. Im umfangreichen Analyseteil werden die im systematischen Teil angewendeten Kategoriebildungen dann genutzt, um Narratologie und Epistemologie von Goethes naturwissenschaftlichem Werk und von seinen Erzähltexten bis 1798 zu erschließen.
Die vorgestellte Systematisierung besticht zunächst durch ihre klare Kategorisierung und Thesenbildung. Erzählmodelle vor der Verwissenschaftlichung der Erzähltheorie zu beschreiben, erscheint als wichtige Aufgabe einer historischen Narratologie. Auch die Engführung von Epistemologie und Narratologie ist ein vielversprechendes Modell, das die literaturwissenschaftliche Analyse von Wissen zu schärfen verspricht. Die Rede von der »Re-Rhetorisierung der Narratologie« (93) erscheint zwar etwas holzschnittartig und die Narratologie ist nicht so erkenntnistheoretisch naiv, wie zum Teil suggeriert wird. Dennoch ist es sicher wünschenswert, dass die Narratologie ein Vokabular entwickelt, das die Beschreibung der Erzählverfahren von Wissensformen ermöglicht.
Die untersuchten poetologischen Texte lassen allerdings zum Teil vermuten, dass das Bewusstsein für verschiedene Erzählformen in verschiedenen Gattungsformen, etwa in Fabel oder Roman, deutlich differenzierter ist, als es Meixners homogenisierender Begriff des Erzählens um 1770 nahelegt. Die untersuchten Texte erscheinen so als Stichproben, die für eine historische Aufarbeitung der Narratologie dieser Zeit noch umfassender ausgeweitet werden müssten. Zuweilen wird die Neuheit narratologischer Einsichten im untersuchten Zeitraum stark betont; aber hier ließe sich vermuten, dass historisch weiter zurückliegende Poetiken, Rhetoriken und Gattungstheorien ebenfalls Anweisungen zur erzählerischen Gestaltung enthalten, die sich auf ähnliche Weise analysieren ließen. An manchen Stellen zeigt sich zudem die Schwierigkeit, historische Entwicklungen von Erzählverfahren in literarischen Texten einerseits und deren Reflexion in poetologischen Texten auseinanderzuhalten, etwa, wenn die Metalepse bei Lessings Erzählern letztlich als Phänomen der Fabeln und nicht von deren Theoretisierung festgestellt wird. Der ambitionierte Versuch, die Metalepse zum »Master-Tropus« zu erklären, bleibt unklar. Da sich weder systematisch noch aus den Beispielen klar erschließt, was genau diesen übergeordneten Begriff der Metalepse ausmacht, erscheint dieser kaum anschlussfähig für weitere Untersuchungen. Zum Teil fallen die Zusammenfassungen der Detailanalysen auch sehr homogenisierend aus.
Dass erkenntnistheoretische Probleme auch im Hintergrund der Erzähltheorie stehen, ist eine wichtige Einsicht, auf die Meixner aufmerksam macht. Allerdings hat die damit einhergehende Engführung der literarischen mit der naturwissenschaftlichen und philosophischen Epistemologie einen blinden Fleck: Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts ist ja gerade das Zeitalter der Ausdifferenzierung der verschiedenen Epistemologien.
So erscheint der systematische Teil von Narratologie und Epistemologie insgesamt als ambitionierter Versuch, der im Einzelnen der literaturtheoretischen Spezifizierung und Modifizierung bedarf. Als großangelegter Ansatz, die Erzähltheorie um 1770 als Vorgeschichte der Narratologie zu fassen, ist Sebastian Meixners Systematik vor allem ein Ideenreservoir für die künftige Ausarbeitung der historischen Narratologie des 18. Jahrhunderts und ihrer Theoretisierung.
[1] Vgl. Eva von Contzen (Hg.), Historische Narratologie, Beiträge zur mediävistischen Erzählforschung, Themenheft 3 (2019), https://ojs.uni-oldenburg.de/ojs/index.php/bme/issue/view/5 (07.11.2020). [zurück]
[2] Vgl. Joseph Vogl, Für eine Poetologie des Wissens, in: Karl Richter / Jörg Schönert / Michael Titzmann (Hg.), Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930. Walter Müller-Seidel zum 75. Geburtstag, Stuttgart 1997, 107–127. [zurück]
[3] Käte Hamburger, Die Logik der Dichtung, Stuttgart 1968, 73. [zurück]
[4] Matías Martínez / Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie. München 102016, 126. [zurück]
[5] Gérard Genette, Die Erzählung, aus dem Französischen von Andreas Knop, mit einem Nachwort hg. von Jochen Vogt, München 21998, 115. [zurück]
[6] Ebd., 152. [zurück]
[7] Johann Jakob Engel, Über Handlung, Gespräch und Erzählung. Faksimiledruck der ersten Fassung von 1774 aus der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, hg. von Theodor Voss. Stuttgart 1964, 247. [zurück]
[8] Ebd., 255. [zurück]
[9] Genette: Die Erzählung, 115. [zurück]
2020-03-08
JLTonline ISSN 1862-8990
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