Lena Marie Brinkmann
Eva Tanita Kraaz
Roman A. Seebeck
Die Ferne nähern: Franco Morettis Entwurf einer transatlantischen Literaturgeschichte
Franco Moretti, Ein fernes Land. Szenen amerikanischer Kultur. Göttingen: Konstanz University Press 2020. S. 148 [Preis: EUR 22,00] ISBN: 9783835391185.
Mit seiner ursprünglich an der Universität Stanford gehaltenen und nunmehr in Buchform auf Deutsch erschienenen Vorlesung will Franco Moretti »einen Schritt in die richtige Richtung« (21) tun – und allem vorweg: Den tut er. In sechs Abschnitten – einer programmatischen Einführung schließen sich fünf Einzelstudien an – plädiert er für eine der globalisierten Gegenwart Rechnung tragende, das Paradigma der Nationalliteratur nachdrücklich überwindende literaturhistorische Forschung. Der Zuschnitt und die Prämisse seines Entwurfs sind durchaus konkret: Anhand exemplarischer »Schlüsselepisoden« will Moretti darlegen, so heißt es im Klappentext, wie »die Neue Welt zum zentralen Orientierungspunkt moderner ästhetischer Repräsentationen wurde«.
Die Auswahl der Episoden, die dieses Narrativ belegen sollen, wird einerseits geographisch beschränkt: Mit dem unter der Hand rehabilitierten Begriffspaar »Alte« und »Neue Welt« kommen ausschließlich Beispiele aus Zentraleuropa und den USA in den Blick. Zum anderen untersucht Moretti die von ihm berücksichtigten Gegensatzpaare hinsichtlich ihrer Form bzw. ihres Stils, womit er deren jeweilige Vergleichbarkeit zu gewährleisten sucht. Weil die »soziale Funktion der Literatur aus der Literatur ausgewandert« (19) sei, werden zusätzlich Beispiele aus der bildenden Kunst und dem Film angeführt. Zentrales strukturelles Merkmal bildet schließlich Morettis Fragenkatalog, auf dem seine Close Readings[1] beruhen: Er fragt nach dem »Gebrauch von Sprache und Rhetorik«, dem »historischen Kontext« der einzelnen Fallbeispiele und nach ihrer »potenziellen Attraktivität für ein zeitgenössisches Publikum« (11).
Dieses Frage-Antwort-Schema entspricht seinem hier artikulierten Literaturgeschichtsverständnis, das sich explizit gegen eine strenge Kontinuität richtet. Denn er möchte gerade »nicht die Art von Literaturgeschichte – ein Autor nach dem anderen, in einer langen, ununterbrochenen Reihe« (10) betreiben. Im gleichen Zug bekräftigt er allerdings die »Beharrlichkeit einiger weniger Hauptfragen, die über Generationen dieselben blieben« (9) und die Vielschichtigkeit der Antworten, die eben jene Generationen für sie gefunden haben. »Das unregelmäßige Schachbrett, das ich meinen Studenten vorlegte« (10), ist analog als eine Antwort zu verstehen, denn: »Die Literaturgeschichte war zu einem Problem geworden, das nach einer Lösung verlangte.« (10)
Literaturgeschichte als Problem
Die Literaturgeschichte als Problem – diese disziplinäre Standortbestimmung ist freilich richtig, wenn auch weit weniger originell, als der Verfasser hier darstellt. Und dennoch, Morettis Frage nach Konstitution und potenziellen Erscheinungsformen der Literaturgeschichte verdeutlicht die epistemologische Dimension seines Essays; sie zielt auf einen freiliegenden Nerv der Theoriedebatte und akzentuiert dadurch, dass Ein fernes Land nicht nur als Konglomerat thematischer Beobachtungen, sondern als Beitrag zu einer theoretisch-methodischen Grundsatzfrage der Literaturwissenschaften verstanden werden soll. Literaturgeschichte betreiben, das ist heute alles andere als eine Selbstverständlichkeit – weder in den Vereinigten Staaten noch hierzulande. In der Postmoderne hat die Literaturgeschichte ihren Status als sakrosankte Grundfeste der Philologien eingebüßt, Lyotards Fundamentalkritik an der abendländischen Geschichtspraxis hat Spuren hinterlassen.[2] Das operative Repertoire der Sozialgeschichte der Literatur, die großen literaturgeschichtlichen Kategorien ›Autor‹, ›Werk‹, ›Epoche‹ und ›Gattung‹ werden als Konstruktion entlarvt und abgelehnt. Im Zuge dieses Entropieprozesses[3] formieren sich zwei antagonistische Ansätze im Umgang mit der Historizität literarischer Kunstwerke: Während die an Foucault geschulte Diskurstheorie die historische Dimension der literarischen Komponente vorzieht und sich auf die im textuellen Diskursuniversum verwobenen Diskursfäden konzentriert,[4] exponiert die Dekonstruktion in der Tradition Derridas und de Mans den textuellen Gehalt gegenüber dem historischen Kontext und sucht dabei ihr Heil in der Dissemination von Sinnspuren.[5] Erst der New Historicism unternimmt den erfolgreichen Versuch – und das in expliziter Abkehr vom New Criticism –, die Literaturgeschichte zunächst in Amerika und schließlich auch in Europa wieder salonfähig zu machen. Der eklektische neohistoristische Ansatz verspricht gerade deswegen erfolgreich zu sein, weil er »weder in die traditionellen Muster zurückfällt noch die literaturtheoretischen Neuerungen der letzten Jahrzehnte einfach wieder preisgibt«[6]. Die Diskurstheorie wird hier gleichberechtigt neben den literarischen Text gestellt, die Skepsis gegenüber den Großnarrativen führt zur mikrogeschichtlichen Behandlung von Konstellationen und Anekdoten, die Vertextungstechniken der Wissenschaftler*innen werden reflektiert und der Kanon hin zu peripheren Texten und kulturellen Praktiken geöffnet.[7] Doch auch der New Historicism berücksichtigt kaum die in der neueren komparatistischen Theoriedebatte zentrale Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen transnationaler Literaturgeschichtsschreibung. In diesem wissenschaftsgeschichtlichen Rahmen operiert Morettis literaturgeschichtlicher Vorstoß; er ist der Maßstab, dem sein Problemlösungsansatz gerecht werden muss.
Die Methodik: Kampf der Kulturen, Kampf der Stile
Franco Morettis Entwurf basiert auf einem simplen Leitfaden, den er gründlich an jedem seiner Gegenstände durchexerziert: der Parallelisierung vermeintlich konträrer und disparater Orte, Institutionen, Literaturen, Medien und Kulturen. Bedingt durch die strukturellen Eigenheiten des amerikanischen Kurswahlsystems (liberal arts), das Studierenden lediglich eine oberflächliche Berührung mit kulturellen Phänomenen erlaube, postuliert Moretti einen Ansatz, der aus der Not eine Tugend machen will, indem er die Reduktion komplexer kultureller Artefakte und Kontexte als Gewinn verkauft: »Der Mangel an Kontinuität war beabsichtigt, ja geradewegs Programm.« (9) Es ist ein eigenwilliges, diskutables Parallelisierungskonzept, mit dem der Autor aufwartet. Im Zentrum steht der Vergleich vermeintlich unvereinbarer Texte und Autor*innen (u.a. Walt Whitman und Charles Baudelaire, Ernest Hemingway und Gertrude Stein, Arthur Miller und Bertolt Brecht). Das Erkenntnisinteresse richtet sich auf Dissoziation statt Assoziation, Disparität statt Konnexion, Anachronie statt Synchronie. Transatlantische Geschichte bedeutet für Moretti die Konstruktion einer »diskontinuierliche[n] Geschichte, in der mikroskopisch kleine Kunstgriffe über Weltmeere hinweg in sich permanent verlagernden historischen Konfigurationen miteinander im Kampf lagen« (21). Dabei reduziert er in bellizistischer Terminologie seinen Fokus unter Rekursnahme auf einschlägige formalistische und strukturalistische Theorieklassiker auf den spezifischen »Stil« der jeweiligen Künstler*innen: »Form gegen Form« (11) lautet das nonchalant vertretene Credo.
Natürlich spricht nichts dagegen, transatlantische literarische Phänomene unter formalen Gesichtspunkten zu kontrastieren. Auch versteht es Moretti, potenzielle Kritik an seinem Ansatz durch den Verweis auf die Kontingenz seiner Untersuchungsgegenstände pro forma zu entschärfen. Dennoch bleibt ein schaler Beigeschmack bei der Betrachtung dieses, gelinde gesagt, generösen Vorgehens. Problematisch sind vor allem die Vergleichsparameter, die Moretti seinem Vorhaben zugrunde legt. Allen voran die Kontrastierung diachroner Phänomene, so etwa Jan Vermeers Gemälde aus der Mitte des 16. Jahrhunderts mit Edward Hoppers Großstadtporträts aus den 1930er Jahren bei gleichzeitiger Ausblendung kunsthistorischer Diskurse, mutet fragwürdig an. Die Konfrontation ist daher erhellend für die einzelnen Kunstwerke an sich, weniger jedoch für die Repräsentativität ihres zeitgenössischen Kontexts oder ihre transatlantische Verbindung.
Diese Verbundenheit ist – will man zudem die »kulturelle Hegemonie« Amerikas skizzieren – jenes Element einer transatlantischen Kulturgeschichtsschreibung, das eine besondere epistemische Qualität aufweist. Dies ist gerade dann evident, wenn den komplexen Erfahrungshorizonten des 21. Jahrhunderts und vor allem denen der jungen Menschen, die Moretti zu unterweisen gedenkt, Tribut gezollt wird, indem aus dem omnipräsenten globalhistorischen Bewusstsein geschöpft wird, das gegenwärtig auf eindrucksvolle Weise lokale und globale und somit auch europäische und amerikanische Horizonte anzunähern weiß. ›Verflechtung‹, ›Verbindung‹, ›Entanglement‹, ›Transfer‹[8] heißen die Schlüsselwörter einer solchen Literaturgeschichtsschreibung, denn auch die kleinen lokalen Geschichten, die Moretti rekonstruiert, sind stets wechselseitig eingebunden in größere, transkontinentale Zusammenhänge, oder wie Dieter Lamping es formuliert: »Durch wechselseitige Bezugnahmen auf ihre Texte entsteht dabei eine Literatur, die, gerade was ihren ›Gehalt‹ betrifft, mit nationalen Kategorien nicht mehr zu beschreiben ist.«[9] An die Stelle einer separierten oder gar konfrontativen Geschichte tritt somit eine Geschichte der kulturellen Austauschbeziehungen. Dabei geht es eben nicht darum, Kontingenz und Heterogenität der Kunstphänomene zu nivellieren, sondern diese so zu kontextualisieren, dass ihre komplexen transatlantischen Verflechtungen nicht beschnitten werden.[10]
Dies ist auch gerade angesichts des gegenwärtigen status quo transatlantischer Beziehungsgefüge angebracht. In Zeiten von politischen Zerwürfnissen und Neonationalismus scheint eine antagonistische transatlantische Literaturgeschichte, die sich pathetischer Konzepte wie »Kampf« und »Konflikt« bedient und darin gar den »Schlüsselmechanismus der Geschichte« ausmacht, somit also den politischen Diskurs durch literarische Grenzziehungen auch noch unterfüttert, sinnbildlich aber sicherlich wenig praktikabel.[11]
Die Perspektive: Zentrum statt Peripherie
Wie gravierend der Gebrauch dieser Konzepte ist, wird bei der Untersuchung der unzeitgemäßen Perspektive offenbar. Die postulierte Hegemonie eines kulturellen Zentrums USA über Europa als entsprechender Peripherie ist plakativ bis simplifizierend. Gegen ebensolche binären Oppositionspaare richtet sich etwa die Interpretation von Henri Lefebvres triadischem Raummodell[12] durch Homi K. Bhabha und Edward Soja: Der dritte Raum, dessen Epistemologien aus der »verständnisvollen Dekonstruktion und heuristischen Rekonstruktion«[13] des Erst- und Zweitraums hervorgingen, hinterfragt das Wahrgenommene (Syntagma) und das Gedachte (Paradigma). Das Sein und das Bewusstsein treten hier in einen Dialog, der erlaubt, dichotome Unterscheidungen zu überwinden und Kategorien wie West – Ost; Machthaber – Machtlose, Neue Welt – Alte Welt, Zentrum – Peripherie usw. aufzubrechen und neu zu verhandeln.
Auch in dieser Hinsicht wäre die Betrachtung der materiellen und ideellen Austauschbeziehungen notwendig. Die vielfältigen Gründe für die Verbreitung der Literatur, deren Rezeption sowie Adaption, Variation und Anpassungen der Stoffe an die Zielkultur durch Autor*innen und Übersetzer*innen kommen allerdings bei Moretti nicht zum Tragen.[14] Die Pathologisierung eines durch zwei Weltkriege traumatisierten Europas ist stattdessen apodiktisch. Das europäische Publikum (die Emigration unzähliger Intellektueller, Schriftsteller*innen, Künstler*innen und Wissenschaftler*innen von Europa nach Amerika bleibt unberücksichtigt), dem es nach dem Erleben des Faschismus nach einem demokratischen Neuanfang gelüstet – diese Pathologisierung impliziert eine prinzipielle Schwäche Europas und die opponierende Stärke Amerikas. Dass diese Generalisierungen zu kurz greifen, wird etwa bei Morettis Westernanalyse und der Begründung der Attraktivität des Genres für europäische Rezipierende deutlich. In der vermeintlichen Sehnsucht nach Revolverhelden ist es gerade die Abwesenheit von Struktur und Gesetz, die als konstitutiv für die Anziehungskraft betont wird:
Der Western dagegen war durch und durch amerikanisch, und genau das war es, wonach das europäische Nachkriegspublikum verlangte, im Film nicht anders als in der Musik, bei Getränken, Kleidung, Tänzen und in anderen Bereichen des Alltags. Nach einem Neuanfang. (106)
Morettis Kritik erscheint im Kontext seiner insgesamt grobkörnigen Anschauungsweise zunehmend harmlos: Vollzieht das Kameraauge doch in der Ausblendung der Natives den Foucault’schen Blick der Macht[15] – die Filmschaffenden klammern bedeutende Teile des kolonialen und postkolonialen Diskurses aus, sie reproduzieren eine westlich-hegemoniale Perspektive. Es ist gerade diese Imagologie europäischer Kolonialmacht, die die Verbreitung rassistischer Stereotype fördert – weshalb sie (auch oder gerade bei der Untersuchung des beliebten wie populären Western) ausreichend kritisch kommentiert werden muss. Dafür sollte nicht erst an die Black-Lives-Matter-Bewegung erinnert werden müssen, die sich medienwirksam gegen ein Erstarren von institutionalisiertem Rassismus einsetzt und Anlass dazu gibt, die nötige Entschiedenheit in der Rassismuskritik auch in die universitäre Lehre einzubetten. Doch Moretti betreibt bedauerlicherweise gerade keine ausreichende Überwindung eurozentrischer bzw. amerikazentrischer Blickwinkel. Ähnlich unkritisch erfolgt auch Morettis Tradierung eines herkömmlichen Kanons.
Das Korpus: weiß und maskulin
Mit Hemingway, Whitman, Baudelaire und Brecht stellt Moretti ein Korpus zusammen, das unbestreitbar üppig klingt. Diese Opulenz täuscht allerdings nicht über die Homogenität von Morettis Gegenständen hinweg, für die der Verfasser eine Erklärung schuldig bleibt. Beispielhaft lässt sich das am vermuteten Gender aller erwähnten Personen illustrieren: In seinen Fußnoten und im Fließtext tauchen knapp 160 verschiedene Gewährsmänner auf. Bei den Frauen bringt er es gerade mal auf 13. Darunter sind eine ganze Reihe Schauspielerinnen, die vor allem im Kapitel über den film noir erwähnt werden. Diese abweichende Häufung erklärt er implizit, wenn er behauptet, dass Frauen für das Genre unverzichtbar seien: »Der Film noir ist unvorstellbar ohne Worte. Was nichts anderes heißt als: ohne Frauen. Verführerisch weil sie die Sprache verführerisch machen. Suggestiv, ironisch, unruhig«. (104) Ex negativo ließe sich also das Ungleichgewicht in der sonstigen Darstellung schlussfolgern. Die spekulative Erklärung, die sich Moretti in den Mund legen ließe, wäre: Literatur und Kultur ohne Frauen ist vorstellbar.
Das Frauenzählen ist dabei nur eine Methode, die die fehlende Diversität sichtbar macht. Morettis unzureichende Kritik am Western bewahrt ihn nicht davor, diese problematische Perspektive bis hin in seinem eigenen Korpus zu wiederholen: »[D]adurch aber, dass der Western sie [also die amerikanischen Natives] immer erst auftreten lässt, nachdem er uns schon mit den weißen Figuren vertraut gemacht hat, lässt er sie wie unbefugte Eindringlinge aussehen. In Wahrheit waren sie zuerst da; im Spielfilm kommen sie immer zu spät. Selten hat eine Narration so eindrucksvoll über die Geschichte gelogen, die sie zu erzählen vorgab.« (81) Die unbeantwortete Frage lautet: An welcher Stelle lässt Moretti selbst nicht-weiße Menschen in seinem Text zu Wort kommen?
Sicher ließe sich auf diese Auszählung erwidern, dass Moretti eine starke thematische Beschränkung vornimmt. Beim Rekonstruieren einer US-amerikanischen Hegemonie wirkt die relative Häufung weißer, männlicher Autoren durchaus evident. Das ist der zu analysierende Kanon. Dass allerdings in Bezug auf eine US-amerikanische Hegemonie über Europa so offenbar einflussreiche Genres wie Jazz[16] ausgespart, dass ganze politisch-historische Großkomplexe wie die Bürgerrechtsbewegung[17] keine erwähnenswerte Rolle spielen sollen, überzeugt nicht. Denn gerade das Spannungsverhältnis, in dem eine naive europäische Rezeption kontroverser amerikanischer Gegenstände stattfindet, ließe sich für die These der US-amerikanischen Hegemonie fruchtbar machen. Ganz zu schweigen von popkulturellen Phänomenen.[18] Morettis programmatischer Eklektizismus hinsichtlich des Untersuchungskorpus ohne kritische Rückkopplung bedingt seine Reproduktion eines vorwiegend weißen, vorwiegend männlichen Kanons.
Fern vom Wegweiser in eine komparatistische Praxis
Überzeugt Franco Morettis Buch als komparatistische Modellanalyse, als potenzielle Einführung für Studierende, wie es von ihm angedacht ist? Sicherlich wagt Moretti »einen Schritt in die richtige Richtung«: Eine nationalphilologische Ausrichtung, wie sie sich in der Inlandsgermanistik teils hartnäckig hält, wird zugunsten einer transnationalen Perspektive verworfen, die – programmatisch und apologetisch – den Vergleich von Literaturen und Kulturen anstrebt. Eine transatlantische Literaturgeschichte darf hier jedoch nicht verweilen, sondern muss darüber hinausgehen. Denn Moretti bewegt sich stillschweigend im Fahrwasser eines überkommenen transatlantischen Diskurses, der trotz der genuin doppelten Optik in starren Kategorien und – wie hier mit einer Hegemonievorstellung – in der oppositionellen Konfrontation der Kontinente verharrt. Morettis Ansatz wird daher nicht dem Anspruch gerecht, einen Paradigmenwechsel in diesem Forschungsfeld zu vollziehen. Grund hierfür sind, wie gezeigt wurde, eine eigenwillige Methodik, die durch den Fokus auf formalistische Konfrontationen unter Zuhilfenahme einer Kampfrhetorik aus dem Blick verliert, was praktizierte transatlantische Literaturgeschichte ausmachen kann: die Untersuchung von Phänomenen des Entanglement, also der Zirkulation und des kulturellen Austausches, der Reziprozität und wechselseitigen Aneignung. Stattdessen ermöglicht dieser Fokus den unreflektierten, problematischen Kanonbegriff, der in seiner Homogenität vornehmlich weiße, männliche Autoren umfasst, die Missachtung von Rändern und Peripherien und das Verweilen bei hochkulturellen Phänomenen; also die amerikazentrische Perspektive, die Formen der transkulturellen Aushandlung und des Third Space ignoriert. So gesehen präsentiert Moretti ein Forschungsdesiderat, das durchaus anregende Potenziale birgt, jedoch angesichts der Kompetenzen und Gewohnheiten von vernetzt denkenden Studierenden jüngerer Generationen weiterentwickelt werden muss, wenn es als Wegweiser in die komparatistische Praxis dienen soll.
Ein fernes Land hinterlässt einen irritierenden Eindruck. Denn ›fern‹ erscheint das jeweilige Land lediglich, wenn man der gegenwärtigen Rhetorik des politischen Diskurses folgt. Untersucht man aber die Historizität dieses Diskurses und wagt dabei, statt essentialistische Konzepte zu perpetuieren, das Eigene im Fremden, das Fremde im Eigenen zu entdecken, dann kann transatlantische Literaturgeschichte fruchtbare Irritationen schaffen und ganz im Sinne einer transkulturellen Hermeneutik, wenn auch keine endgültige Horizontverschmelzung, wohl aber ein permanentes Annähern an die ›Ferne‹ leisten.
[1] Verwunderlich ist, dass ausgerechnet Franco Moretti in seiner Studie auf kontextuell verkürzte Einzellektüren zurückgreift, obwohl er sich sonst wortstark für eine quantitative Spielart literarischer Textanalyse (Distant Reading) einsetzt. Dabei handelt es sich nicht um eine Einzelforderung: Sandra Richter zum Beispiel hat in ihrer Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur gezeigt, dass gerade die transnationale Literaturgeschichte, wenn sie globale Rezeptionsprozesse in den Blick nehmen will, nicht bei qualitativen Befunden stehen bleiben darf: »Wer einen einzelnen Text untersucht, betreibt ›close reading‹, muss Kontexte erschließen, Intertexte ermitteln, Metatexte deuten. Wer darüber hinaus Textgruppen oder globale Rezeptionen betrachten will, benötigt außerdem quantitative Daten zur Größe dieser Textgruppen und Rezeption.« (Sandra Richter, Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur, München 2017, 25.) Richter geht von der Annahme aus, dass selbst bei der Erforschung von nationalsprachlicher Literatur die vielfältigen Verbindungen zu anderen betrachtet werden müssen. Sie bezieht sich auf die von Goethe formulierte »Idee der Weltliteratur«, wie Dieter Lamping sie in seiner konzeptuellen und historischen Untersuchung nennt. Offenkundig wird in Lampings Studie, dass eine Erforschung zweier Nationalliteraturen ohne Einbezug ihrer weltliterarischen Verknüpfung ein ungeeignetes Verfahren wäre: »Im Konzept der Nationalliteratur wird die Verschiedenheit der Literatur betont, die als Begründung für deren Einteilung in einzelne Literaturen dient. Im Konzept der Weltliteratur wird dagegen die Verbundenheit aller Literatur akzentuiert und eine Begründung ihrer Gemeinsamkeiten gegeben. Deshalb bilden Nationalliteratur und Weltliteratur keine logische Dichotomie. Sie sind vielmehr komplementär: Sie akzentuieren zwei unterschiedliche, jeweils grundlegende Aspekte von Literatur.« (Dieter Lamping, Die Idee der Weltliteratur. Ein Konzept Goethes und seine Karriere, Stuttgart 2010, 63.) [zurück]
[2] Vgl. Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz u.a. 1986. [zurück]
[3] Für eine konzise Darstellung der Wissenschaftsgeschichte der Literaturgeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vgl. Marja Rausch/Achim Geisenhanslüke, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Texte zur Theorie und Didaktik der Literaturgeschichte, Stuttgart 2012. [zurück]
[4] Vgl. beispielhaft Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1981. [zurück]
[5] Vgl. Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt a.M. 1974; Paul de Man, Allegorien des Lesens, Frankfurt a.M. 1988; Jonathan Culler (Hg.), Deconstruction. Critical Concepts in Literary and Cultural Studies. 4 Bde., London/New York 2003. [zurück]
[6] Marja Rausch/Achim Geisenhanslüke, Einleitung, S. 16. [zurück]
[7] Zur Bedeutung des New Historicism für die literaturgeschichtliche Debatte vgl. Anton Kaes, New Historicism. Writing Literary History in the Postmodern Era, Monatshefte 84: 2 (1992), 148–158; Moritz Baßler (Hg.), New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt a.M. 1995; Moritz Baßler, Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, Tübingen 2005. [zurück]
[8] Rekurrieren ließe sich dafür auf das theoretisch-methodische Werkzeug der Geschichtswissenschaft, die das Paradigma der Globalgeschichte bereits umfassend disziplinär verankert hat. Das Konzept des Entanglements wurde von Sidney Wilfred Mintz als Heuristik zur Untersuchung der wechselseitigen Verwobenheit von transkontinentalen, kolonialgeschichtlichen Konstellationen eingeführt. Vgl. hierzu Sidney Wilfred Mintz, Die süße Macht. Kulturgeschichte des Zuckers, Frankfurt u.a. 1987. Paradigmatische Beispiele der deutschen Historiographie sind etwa Jürgen Osterhammels Grundlagenwerk zum 19. Jahrhundert und die Arbeiten Sebastian Conrads und Shalini Randerias vgl. Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009; Sebastian Conrad, What is Global History?, Princeton/Oxford 2016; Sebastian Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte, München 2008; Sebastian Conrad/Shalini Randeria (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, 2., erweit. Aufl., Frankfurt a.M. 2013. [zurück]
[9] Dieter Lamping, Die Idee der Weltliteratur, 78. [zurück]
[10] Mitnichten ist diese Forderung abwegig. Exemplarische Studien mit einem solchen Forschungsdesign sind rasch gefunden, so etwa Kai Sinas Habilitation zur transatlantischen Entwicklung einer Kollektivpoetik bei Goethe, Emerson, Whitman und Thomas Mann. Siehe hierzu Kai Sina, Kollektivpoetik. Zu einer Literatur der offenen Gesellschaft in der Moderne mit Studien zu Goethe, Emerson, Whitman und Thomas Mann, Berlin/Boston 2019. [zurück]
[11] Eine Idee davon, wie dieses gegenwärtige Beziehungsgefüge den Fokus auf die Historizität des reziproken transatlantischen Literaturtransfers lenken kann, geben beispielsweise die ersten Beiträge zu grundlegenden Fragestellung zur transatlantischen Literaturgeschichte auf dem Blog Transatlantic Literary History, Notes. Essays. Conversations. (Transatlantic Literary History, Notes. Essays. Conversations, https://medium.com/transatlanticism-wwu (22.02.2021). [zurück]
[12] Vgl. Henri Lefebvre, The production of space, Malden 2011. [zurück]
[13] Edward Soja, Die Trialektik der Räumlichkeit, in: Robert Stockhammer (Hg.), TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen, München 2005, 93–127. Hier zitiert 122. [zurück]
[14] Vgl. hierzu Ulfried Reichardt, Globalisierung. Literaturen und Kulturen des Globalen, Berlin 2010, 104. [zurück]
[15] Vgl. hierzu Petra Gehring, Das invertierte Auge, in: Marc Rölli/Roberto Nigro (Hg.), Vierzig Jahre »Überwachen und Strafen«. Zur Aktualität der Foucault'schen Machtanalyse, Bielefeld 2017, 21–42. [zurück]
[16] Vgl. z.B. Britta Waldschmidt-Nelson, »We Shall Overcome.« The impact of the African-American Freedom Struggle on Race Relations and Social Protest after World War II, in: Grzegorz Kosc/Clara Juncker/Sharon Monteith/Britta Waldschmidt-Nelson (Hg.), The Transatlantic Sixties. Europe and the United States in the Counterculture Decade, Bielefeld 2013, 66–97, hier: 69–71. [zurück]
[17] Vgl. z.B. ebd., insb. 71–97. [zurück]
[18] Vgl. z.B. Andrea Carosso, The Paradox of Re-Colonisation. The British Invasion of American Music and the Birth of Modern Rock, in: ebd., 122–143. [zurück]
2021-04-09
JLTonline ISSN 1862-8990
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