Friederike Schruhl

In actu? Philologie unter digitalen Vorzeichen

Pál Kelemen/Nicolas Pethes (Hg.), Philology in the Making. Analog/Digital Cultures of Scholarly Writing and Reading. Bielefeld: transcript 2019. 316 S. [Preis: EUR 34,99]. ISBN: 978-3-8376-4770-9.

»How do we know what we do?« (9) Mit dieser Frage eröffnen die Herausgeber Pál Kelemen und Nicolas Pethes ihren 2019 publizierten Sammelband und stellen zugleich programmatisch fest, dass die Prozesse der Wissensgenerierung in den Geisteswissenschaften – im Gegensatz zu den Laborarbeiten der Naturwissenschaften – kaum Eingang in disziplinäre Selbstthematisierungen gefunden hätten.[1] Dass die Arbeiten der ›Science Studies‹ in der geisteswissenschaftlichen Wissenschaftsforschung nur wenig Resonanz auszulösen vermochten, führen die Herausgeber darauf zurück, dass philologische Forschungsroutinen lange Zeit keinem äußeren Veränderungsdruck ausgeliefert waren und disziplinäre Umgangsweisen daher methodisch und technologisch über zwei Jahrhunderte nahezu unverändert bestehen bleiben konnten – mit der Folge, dass »knowledge of philological practices has actually remained tacit due to their assumed self-evidence« (10). Vor diesem Hintergrund sei es gegenwärtig nicht überraschend, dass durch die Digitalisierung, welche die gewohnte ›praktische‹ disziplinäre Stabilität bzw. die »methodological and technological continuity« (ebd.) irritiere oder zumindest herausfordere, das Interesse an stillschweigenden und selbstverständlich gewordenen Konventionen zunehme.

In dieser Aufmerksamkeitszone verortet sich das Projekt »Praxis der Literaturwissenschaften«, aus dem der vorliegende Sammelband hervorging. Finanziert wurde das Projekt 2016 bis 2017 vom Deutschen Akademischen Austauschdienst, welches LiteraturwissenschaftlerInnen der Eötvös-Loránd-Universität Budapest und der Universität zu Köln zusammenführte, um die historischen, methodologischen und theoretischen Voraussetzungen einer philologischen Praxeologie im Zeitalter der Digitalisierung zu diskutieren. Im Zentrum dieser Kooperation standen zwei Fragenkomplexe, welche zum einen die Materialität der Untersuchungsgegenstände (I.) und zum anderen Forschungspraktiken (II.) unter digitalen Vorzeichen adressierten. Unter der ersten Perspektive ging es vorrangig darum, die Modifikationen der Digitaltechnologie auf materieller Ebene in den Blick zu nehmen und mithin folgende Fragen in den Mittelpunkt zu rücken: »What are the medial technologies and material appearances of what we will refer to as ›texts‹ in a digitized future? Does it change our notion of the literary artwork whether we read it on paper or on an electric reader?« (12) Da die Digitaltechnologie keineswegs nur den gewohnten und routinisierten modus operandi fortsetze, sondern vielmehr Veränderungen in Bezug auf »structures of communication as well as concepts of culture, knowledge, and art, new methods (e.g. quantitative analysis), formats (e.g. the digital catalogues), and institutions« (ebd.) implementiere, gelte es zukünftig, jene Transformationen auf Ebene der Forschungspraxis zu registrieren: »Which changes of practices connected to working with texts can be observed in the light of the digital turn in the Humanities?« (ebd.)

Diese grundlegenden Fragestellungen prägen auch die 17 Beiträge des Sammelbandes, welche jeweils einem von vier Themenfeldern (Theorien, Materialitäten, Praktiken und Technologien) zugeordnet wurden.[2] Marcus Krause hebt etwa in seinem Beitrag, der unter der Rubrik »Theorien« eingeordnet wurde, mit Proklamationen zur ›Rückkehr der Philologie‹ an und befasst sich eingehend mit dem ›Konzept‹ Philologie. Er betont, dass – obwohl philologische Praxis mittlerweile als der genuine Umgang mit Texten anerkannt sei – keine stabile theoretische Reflexion derselben existiere. »[I]t is not clear what the ›philology‹ […] is or should be« (39). In Auseinandersetzung mit Paul de Mans viel diskutiertem Essay The Return to Philology von 1982 kommt der Autor – und dies erscheint besonders erwähnenswert – zu dem Schluss, dass de Mans Überlegungen in dreifacher Weise weiterverfolgt werden könnten:

[T]he first option is a historical one which pursues how the figure is used and defined in bygone academic debates; the second option is contemporrary and studies how the figure is updated in recent discussions and tries to reconstruct in which places and for which reasons the figure of a return to philology returns up to the current moment […] again and again in multitudinous texts; the third option is systematic, interprets philology as a knowledge of reflexivity, and tries to understand the relation of philology to theory and itself as theory. (49)

Es ist insbesondere die letzte Option, mit der sich der Autor eingehender beschäftigt und vier unterschiedliche Relationen zwischen Philologie und Theorie ins Spiel bringt. Seine Differenzierungen in »Theory of Philology«, »Theoretical Philology«, »Philological Theory« und »Philology of Theory« (52–55) unterstreichen, dass Theoretisierungen des Philologischen respektive Philologisierungen des Theoretischen äußerst komplex sind und de Mans Ursprungstext durchaus anschlussfähig für gegenwärtige Debatten ist.

Unter der Rubrik »Materialitäten« findet sich der Beitrag von Nicolas Pethes, der sich mit der Kulturgeschichte des Papiers befasst und die Gleichzeitigkeit der Marginalisierung sowie Nobilitierung des Papiers in der digitalen Gegenwart pointiert:

[P]aper is at the same time being removed from and extremly present in todayʼs literature, scholarship, and administration: As in the case of the ›paperless office‹ which, due to easily accessible desktop printing, uses more paper than any previous workplace, the seemingly ›paperless culture‹ of the digital age has a growing output in print and is, in addition, still shaped by the formats and routines of paper based communication such as desktop folders, PDF documents, e-readers etc. (94)

Zugleich weist der Autor mit Blick auf das 19. Jahrhundert darauf hin, dass die Beobachtung und Reflexion des Papiers nicht erst durch digitaltechnologische Entwicklungen lanciert wurde und dass das Interesse am Papier somit nicht lediglich als »a phenomenon of crisis or nostalgia« (99) abgetan werden könne. Aus medienwissenschaftlicher Sicht gebe es vielmehr tieferliegende Gründe für die Investition in Papierfragen. Die Beschäftigung mit nur vermeintlich »insignificant preconditions of meaning« (ebd.) zeige sich auch bei Papier als aufschlussreich. Zwar sei Papier ›unbedeutend‹ in dem Sinn, dass es eine mehr oder weniger weiße Oberfläche besitzt und keine Spuren oder Markierungen enthält, zugleich jedoch sei die »cultural function of paper as such« (101) hervorzuheben. Mit Verweis auf Studien von Bruno Latour, N. Katherine Hayles, Markus Krajewski u.v.a.m. differenziert und reflektiert Pethes »paper technologies«, »paper formats«, »paper tools« und »paper practices« (100ff.).

Matthias Bickenbach widmet sich in seinem der Rubrik »Praktiken« zugeordnetem Beitrag dem ›Browsing‹ sowie den Differenzen zwischen Buchobjekten und digitalen Texten. ›Browsing‹ versteht er dabei als »hardly noted but basic condition of reading books«: »Browsing does not reduce the use of textual media to the process of decoding and understanding of contents but reflects on the various uses of the materiality and mediality of texts as cultural technologies of appropriation« (162). Indes resümiert er, dass sich durch die Digitalisierung nicht der Status als ›Text‹ verändere, sondern vielmehr die körperbasierten »different modes of reading« (167).

Gábor Vadernas Beitrag »Micro and Macro, Close and Distant. History and Philology after the Digital Revolution«, welcher der Rubrik »Technologien« angehört, stellt zunächst die Frage, ob die ›digitale Revolution‹ noch andauert oder ob sie hinter uns liegt, etwa als »short period of time« oder als »a longer transfiguration into a new type of culture« (269). Mit Blick auf die bereits digitalisierten Kulturbestände fordert er dazu auf, darüber nachzudenken »what we talk about if we study arts and literature, what we discuss in our seminars and lectures at universities, and how we can deal with our subject« (270). Vor dem Hintergrund der historisch operierenden Forschung, insbesondere der Mikrogeschichte, gibt Vaderna zu bedenken, dass gegenwärtige Auseinandersetzungen um Franco Morettis ›Distant Reading‹ und Matthew Jockers ›Macroanalysis‹ »face methodological questions which were posed to the historical sciences by microhistory forty years ago« (285). In den Anfängen der Mikrogeschichte musste sich jene Forschungsrichtung gegen den hegemonialen Kontrahenten der Sozialgeschichte mit seinen statistischen Methoden durchsetzen. »Microhistory offered a new way of thinking; it ruined the great structures with single cases and short-term stories« (279). Folglich ließen sich die derzeitig artikulierten und teils emphatisch vorgebrachten Differenzen zwischen »macro und micro levels and the close and distant reading techniques« (285) mit einem Blick auf bereits gefochtene Kämpfe der Mikrogeschichte erhellen.

Eine Weiterführung der ›Science Studies‹ kann der Band nicht liefern; empirische Beobachtungen legen die einzelnen Beiträge nicht offen. Insofern wird auch das Versprechen des Titels, Antworten des ›Philology in the making‹ zu formulieren, nur bedingt eingelöst. Unklar ist auch, warum das Projekt nicht intensiver an gegenwärtige (literaturwissenschaftliche) praxeologische Überlegungen anschließt. Dies ist bedauerlich, da hierzu mittlerweile etliche Studien vorliegen. Dennoch überzeugen eine Vielzahl der Beiträge an weitreichenden theoretisch ambitionierten Überlegungen, die den eklatanten Forschungsbedarf in der philologischen Wissenschaftsgeschichte anzeigen. Es wäre zu wünschen, dass die Kooperation zur ›Praxis der Literaturwissenschaft‹ fortgeführt wird und dass auf diesen stark theoretisch ausgerichteten Band eine weitere Publikation folgt, die Philologie in actu zum Thema macht.

Anmerkungen

[1] Siehe zu dieser These die Überlegungen von Steffen Martus/Carlos Spoerhase, Die Quellen der Praxis. Probleme einer historischen Praxeologie der Philologie, Zeitschrift für Germanistik 23:2 (2013), 221–225. [zurück]

[2] Aufgrund der Heterogenität des Bandes kann im Folgenden nicht auf jeden Beitrag gesondert eingegangen werden. Pro Oberkapitel findet ein Beitrag pars pro toto in dieser Rezension Erwähnung. [zurück]

2020-03-22

JLTonline ISSN 1862-8990

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