Gesine Lenore Schiewer
Zur Literatursprache der Lyrik – Perspektiven der Forschung
Michael Ferber, Poetry and Language. The Linguistics of Verse. Cambridge (UK): Cambridge University Press 2019. 282 S. [Preis: £ 19,99]. ISBN: 978-1108429122.
Michael Ferbers Band ist aus gemeinsam mit der Linguistin Rochelle Lieber geleiteten literatur- und sprachwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen hervorgegangen. Ferbers linguistischer Hintergrund, der selbst Literaturwissenschaftler ist, bezieht sich, wie er eingangs erklärt, vor allem auf Noam Chomskys Grammatiktheorie, insbesondere die frühen Ansätze der sechziger Jahre. Das Buch ist jedoch in engem Austausch mit Rochelle Lieber und weiteren Linguistinnen und Linguisten entstanden. Damit wird zugleich die prinzipielle Akzentuierung dieser interdisziplinären Arbeit deutlich, in der literaturwissenschaftliche Gegenstände im Zentrum des Interesses stehen, während linguistische Ansätze aufgrund ihres literatursprachlichen Erklärungspotentials herangezogen werden. Dem entspricht, dass auf der Seite der Leserinnen und Leser linguistische Fachkenntnisse nicht vorausgesetzt werden, was – in Anbetracht der im Laufe der letzten Jahrzehnte bedauerlicherweise in manchen Philologien weit vorangeschrittenen disziplinären Auseinanderentwicklung von Sprach- und Literaturwissenschaften – eine realistische Einschätzung der wissenschaftlichen Ausbildung signalisiert (vgl. 1).
Dennoch verlangt Michael Ferber gleich in der Einleitung seinen Leserinnen und Lesern einiges ab, was aus Sicht der Rezensentin durchaus zu begrüßen ist. Zunächst werden klassische Grundfragen danach, was Dichtung und was ein Gedicht ist, in zügigen Schritten auf einige europäische Konzepte des 17., 18. und 19. Jahrhunderts bezogen, um dann ausführlicher auf Roman Jakobsons seit Jahrzehnten vielrezipierten Ansatz der ›Poetischen Sprachfunktion‹ respektive der ›Linguistischen Poetik‹ zu sprechen zu kommen. Einem erläuternden Kommentar folgen Anregungen für kritische Reflexionen des Erklärungspotentials von Jakobsons Modell.
Darüber hinaus lässt Ferber eine gewisse generelle Skepsis bezüglich des erhellenden Potentials Theoretischer Linguistik für lyrische Sprachverwendung erkennen und macht sich stattdessen für Ansätze der Historischen Linguistik stark. Eine eingehende Darlegung und Diskussion der Etymologie von »poem« respektive »Gedicht« seit der Antike (vgl. 6–13) wird auf diese Weise vorbereitet, die schließlich aber wiederum darin mündet, »modern linguistics« für die Beschreibung lyrischer Sprache ausloten zu wollen. Das Argument sei hier zitiert, da es in seiner Schlichtheit etwas Bestechendes hat:
[...] there are different kinds and degrees of understanding of any subject, and certainly of any work of art, and linguistics has many contributions to make at several levels. Linguistics is the study of how language works, and one of the ways it works is to make poems. The more you know about language, it seems obvious, the more you will know about – and the better you will experience – poetry. (14)
Erfreulicherweise kehrt Ferber die Perspektive auch um und fragt nach den Interessenlagen der Linguistik, womit er in nuce das Konzept von LiLi – Linguistik und Literaturwissenschaft – treffend umreißt: »That said, I think poetry also has something to teach linguistics, or at least linguistics will be a richer and more cogent field if it can think clearly about what goes on in poetry, which is not as marginal a practice as some linguists have thought.« (ebd.)
Ausdrücklich erklärt der Autor schließlich, sich auf die Berücksichtigung von Phonologie, Syntax beziehungsweise Grammatik und Semantik konzentrieren zu wollen. Ergänzend nimmt er sich vor, auf die Historische Linguistik und gelegentlich die Übersetzungspraxis Bezug zu nehmen, das große Feld der Pragmatik und Soziolinguistik jedoch auszusparen. In Anbetracht des Umfangs des Bandes von 275 Seiten eine nachvollziehbare Entscheidung, obwohl es bedauerlich ist, dass damit gerade auch besonders dynamische und aktuelle linguistische Ansätze wie zum Beispiel die Mehrsprachigkeitsforschung ausgespart werden (vgl. hierzu Dembeck / Parr, Literatur und Mehrsprachigkeit, 2017). Auch hätte vor dem Hintergrund der Konzentration auf klassische Kernbereiche der Sprachwissenschaft und des Einbezugs historischer Ansätze zumindest ein knapper Ausblick auf Implikationen der Geschichte der Grammatiktheorie sicher anregend sein können (vgl. z.B. Stockhammer, Grammatik, 2014).
Die folgenden drei Kapitel sind mit Schwerpunkten auf Metrik, Reim und Onomatopoetik einschließlich der Lautsymbolik insgesamt der »Musikalität« respektive Lautlichkeit von Gedichten gewidmet. Konsequent werden auch in diesen klassischen Feldern der Lyrikbeschreibung und -analyse linguistische Bezüge hergestellt; so erwähnt der Autor mit Blick auf die Erklärung metrischer Muster zunächst orale Literaturformen und die Oralitätsforschung und beschreibt weiterhin in angemessener Ausführlichkeit Grundlagen der Phonologie mit dem Internationalen Phonetischen Alphabet (IPA), der Silbenlinguistik und der Prosodie. Zu begrüßen wäre jedoch gewesen, wenn nicht generalisierend von ›linguistics‹ gesprochen würde, sondern die jeweiligen Forschungsansätze und -quellen bibliographisch direkt im Text ausgewiesen würden. Ein anderes Desiderat bezieht sich darauf, dass lyrische Formen der Rhythmisierung, die in der deutschsprachigen Lyrik seit dem 18. Jahrhundert nach und nach immer bedeutsamer wurden, leider weitgehend ausgespart werden, obwohl die Beschreibung suprasegmentaler Einheiten im Zentrum der Prosodieforschung steht. Auch weitere linguistisch orientierte Ansätze verdienten in diesem Zusammenhang Aufmerksamkeit, wie zum Beispiel der des französischen Sprachtheoretikers und Lyrikübersetzers Henri Meschonnic. Ergänzt wird das Metrik-Kapitel um einen Appendix am Schluss des Bandes zum griechischen Vers. Im Kapitel »Rhyme« wird die Silbenphonologie einbezogen und Ferber macht hier zu recht auf eine Besonderheit – vielleicht sollte man doch von einer Idiosynkrasie sprechen – aufmerksam, wenn in der Silbenphonologie der Begriff ›rime‹ anstelle von ›rhyme‹ geprägt wurde, was Ferber so erklärt: » [...] but many linguists want to keep their use of the word distinct from the way it is used in descriptions of poetry« (59). Der Erklärungshorizont umfasst dann verschiedene Reimtypen ebenso wie einen konzisen Überblick über die Geschichte des Reims in der Lyrik. Dass darüber hinaus den Onomatopoetika und der Lautsymbolik ein eigenes Kapitel gewidmet und auch hier der Bogen von antiken Beispielen zu Charles Darwins Vermutungen zum phylogenetischen Sprachursprung und Ferdinand de Saussures Zeichenkonzept gespannt wird, gehört zu den positiven Besonderheiten des Bandes.
Die Ebene der Syntax respektive Grammatik wird in Kapitel 5 bereits im Titel ebenfalls auf lyrische Gestaltungsweisen bezogen: »Unusual Word Order and Other Syntactic Quirks in Poetry«. Auch hier werden leider keine expliziten Hinweise auf die jeweils zugrunde gelegten syntax- und grammatiktheoretischen Ansätze gegeben, so dass nur zu erschließen ist, dass einerseits auf traditionelle Ansätze rekurriert werden dürfte, wenn die antiken Sprachen erwähnt werden, und andererseits mit solchen sprachtypologischen Ansätzen, die mit Wortstellungstypen operieren, gearbeitet wird. Die literarischen Beispiele werden dann aus englischsprachiger Lyrik gewählt, was die unmittelbare Übertragbarkeit auf Texte in anderen Sprachen aufgrund der unterschiedlichen Wortstellungstypen natürlich beschränkt; dennoch wird hier ein interessanter Ansatz vorgestellt. Es folgt ein Abschnitt zur Dichtung in flektierenden Sprachen, die natürlich eigene Möglichkeiten u.a. in Verbindung mit der jeweiligen Wortstellung eröffnen, die von literarischen Autorinnen und Autoren auch intensiv genutzt werden. Neben Beispielen aus den antiken Sprachen werden auch hier v.a. englischsprachige Beispiele besprochen, obwohl im Englischen, wie Ferber natürlich richtig betont, die Flexion weit zurückgebildet ist und damit auch die entsprechenden literatursprachlichen Möglichkeiten Einschränkungen unterliegen. Hervorzuheben ist schließlich der letzte Abschnitt des Kapitels, in dem »Unusual Words« (vgl. 134 ff.) besprochen werden. Auch hier arbeitet Ferber die morphologischen Grundlagen heraus, die jeweils in Abhängigkeit vom Sprachtypus besondere Optionen bieten.
Es folgt die Semantik, »The Meaning of a Poem«, in Kapitel sechs – ein naturgemäß besonders komplexes Feld. Eingangs werden hier etwa die Ansätze von de Saussure, Ludwig Wittgenstein und der Sprechakttheorie John Austins gestreift. Es folgen zwei Abschnitte zur »Historischen Semantik« und »Poetischen Diktion«, in denen Ferber darauf aufmerksam macht, dass Leserinnen und Leser älterer Texte über ein Bewusstsein für die Geschichtlichkeit von Sprachen verfügen sollten (vgl. 153). Unter den leitenden Zugriff der Semantik subsumiert Ferber auch ein umfangreicheres Unterkapitel zum Stil und ein weiteres mit stiltheoretischer Schwerpunktsetzung zu »Bedeutung und Enjambement«, was eine interessante und überzeugende Platzierung der natürlich nicht ungewöhnlichen Berücksichtigung der Thematik ist. Ferber rekurriert hier auf den ›New Critics‹-Ansatz, problematisiert zugleich jedoch die Vielfalt stiltheoretischer Konzepte im Hinblick auf literaturwissenschaftliche Fragestellungen. Angeschlossen wird nochmals – was vielleicht mit Blick auf die Übersichtlichkeit der Gliederung des Bandes etwas unglücklich ist, in der Sache aber zu begrüßen – ein Abschnitt zum Reim, nun semantisch akzentuiert und ebenfalls auf den Stil bezogen. Abgeschlossen wird das Hauptkapitel mit zwei Unterkapiteln, die nun von v.a. linguistischen Konzepten ausgehen und entsprechend im Titel ausgewiesen sind, dem Strukturalismus und der Pragmatik. Im Abschnitt »Structuralism and Poetry« wird erneut dem Ansatz von Ferdinand de Saussure und seiner Rezeption in der Phonologie von Nikolay Trubetskoy und Roman Jakobson einschließlich der Implikationen für strukturalistische Theoriebildung in der Semantik und der Anthropologie Claude Lévi-Strauss’ Raum gegeben; Ferbers Diskussion des Ertrags dieser Ansätze für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit lyrischen Texten fällt knapp, aber differenziert aus (vgl. 190). Auch der Abschnitt »Pragmatics« wird semantisch perspektiviert, wobei Ferber den sprechakttheoretischen Ansatz John Austins fokussiert. Auch hier wären einige ergänzende Literaturhinweise hilfreich gewesen, zumal die Theorie im Laufe der letzten Dekaden immer wieder auch für literarische Textanalysen eingesetzt wurde.
Die Metapher ist Gegenstand des ebenfalls umfangreichen Kapitels 7. Ferber nimmt zunächst eine Verortung in Aristoteles’ klassischer Rhetorik vor und bezieht sich dann auf die Arbeit ›Grammar of Metaphor‹ aus den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts der in der Schweiz geborenen britischen Schriftstellerin Christine Brooke-Rose. Es folgen Abschnitte zu ausgewählten Klassikern der Metapherntheorie, die anhand von Beispielen diskutiert werden. Insofern handelt es sich um einen guten Überblick. Aktuelle prominente Theorien wie zum Beispiel die in der Ausrichtung der ›Cognitive Linguistics‹ von Gilles Fauconnier und Mark Turner werden jedoch nicht erwähnt.
Im letzten Hauptkapitel wird die literarische Übersetzung thematisiert, was wiederum als ein Pluspunkt des Bandes zu sehen ist. Ferber bezieht sich hier allerdings ausdrücklich weniger auf linguistische und translationswissenschaftliche Theoriebildung als auf die erforderliche Kenntnis der betreffenden Quell- und Zielsprachen und ausgewählte Beispiele.
Insgesamt ist Poetry and Language. The Linguistics of Verse aus Sicht der Rezensentin eine ohne Frage sehr verdienstvolle Arbeit. Dies schon deswegen, weil hier das leider viel zu wenig, nicht konsequent und kaum systematisch fortentwickelte Feld von Linguistik und Literaturwissenschaft aufgegriffen wird. Indem dabei sowohl historische als auch systematische Zugänge berücksichtigt werden, kann der Band darüber hinaus wertvolle methodische Impulse vermitteln, da auch in dieser Hinsicht allzu selten und zwar sowohl in der Sprach- als auch Literaturwissenschaft integrative Konzepte verfolgt werden. Dass die Komplexität der Thematik in einem Band von weniger als 300 Seiten nicht erschöpfend behandelt werden kann und grundsätzlich bestehende linguistische Anknüpfungsmöglichkeiten sich bei weitem nicht lückenlos ausloten lassen, versteht sich von selbst. Umso dringlicher ist das Desiderat, die Thematik in weiteren Arbeiten kontinuierlich weiter zu verfolgen, wobei eine vielleicht noch intensivere interdisziplinäre Kooperation von Sprach- und Literaturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern als in der hier besprochenen Arbeit besondere Chancen eröffnen dürfte.
2020-04-06
JLTonline ISSN 1862-8990
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