Ralf Klausnitzer

Danken und fragen. Zu Klaus Hempfers Literaturwissenschaft – Grundlagen einer systematischen Theorie

Klaus W. Hempfer: Literaturwissenschaft – Grundlagen einer systematischen Theorie. Stuttgart: J.B. Metzler Verlag 2018. 292 S. [Preis: EUR 49,99]. ISBN: 978-3-476-04699-4.

Schon ziemlich beeindruckend. Der Romanist Klaus W. Hempfer hat 1970 seine Dissertation zur französischen Verssatire des 18. Jahrhunderts verteidigt[1] und 1973 eine grundlegende Gattungstheorie vorgelegt.[2] In gleichsam unermüdlicher Arbeit folgten in den nächsten Jahrzehnten zahlreiche Arbeiten zu zentralen Fragen der Interpretation und der französischen und italienischen Literaturgeschichte. Seine zahlreichen Publikationen, verzeichnet im Schriftenverzeichnis der Festschrift zum 65. Geburtstag (die von Irina O. Rajewsky und Ulrike Schneider unter dem Titel Im Zeichen der Fiktion herausgegeben wurde und 2008 erschien),[3] wurden in den letzten Jahren durch weitere profunde Beiträge ergänzt; zu ihnen gehören eine »kritische Bestandsaufnahme« der Theorien des Performativen,[4] eine weitgespannte Gattungsgeschichte des Dialogs,[5] sowie die Skizze zu einer systematischen Theorie der Lyrik.[6] Nicht zu vergessen ist schließlich sein hochschulpolitisches Wirken: Klaus W. Hempfer war zwischen 2003 und 2007 Erster Vizepräsident der Freien Universität Berlin; von 1997 bis 2012 wirkte er als Direktor des Italienzentrums und koordinierte die Zusammenarbeit zwischen den Universitäten in Berlin und Potsdam einerseits und italienischen Universitäten und Forschungszentren andererseits. Angesichts der nun vorliegenden Grundlagen einer systematischen Theorie stellt sich nicht nur die Frage, wie der Mann das alles schaffen konnte. Wichtiger noch ist die Frage, was uns Philologen und theoretisch arbeitenden Beobachtern von Literatur mit diesem Buch gegeben ist.

Um es schon an dieser Stelle und etwas pathetisch zu formulieren: Hier liegt ein Vermächtnis vor. Denn der Verfasser, der auf eine nun über 50 Jahre währende Beschäftigung mit systematischen und historischen Aspekten von Literatur und Literaturforschung zurückblicken kann, öffnet noch einmal den Besteckkasten einer traditionsreichen und zugleich theoretisch fundierten Literaturwissenschaft. Er präsentiert grundlegende Begriffe und die mit ihnen verbundenen Problemstellungen, diskutiert verschiedene Lösungsvorschläge und scheut nicht vor der Formulierung von Handlungsanweisungen zurück (wenn er fünf Interpretationsmaximen aufstellt). Insofern lässt sich Hempfers Werk als eine Art Summe bezeichnen: Hier werden Erkenntnisse eines beeindruckenden Forscher-Lebens im Zeichen einer kritisch-rationalen Literaturwissenschaft zusammengefasst, um über die Grenzen nationalsprachlich verfasster Philologien hinausgehend die Fundamente für regelgeleitete Umgangsformen mit ästhetisch formierten Texten zu legen. Wenn dennoch kritische Fragen zu stellen sind, sollen damit keineswegs die hier vorgelegten Leistungen geschmälert werden. Im Gegenteil: Nachfragen sind auch deshalb angebracht, weil es sich um einen stets reflektierten und nachdenklichen Philologen handelt: sodass die Hoffnung besteht, dass sich ein Gespräch ergibt. Doch der Reihe nach.

I

Die vorliegende Monographie ist Ergebnis der Förderung des Verfassers durch die Fritz Thyssen Stiftung (die Personal- und Sachmittel zur Verfügung stellte) und der Freien Universität Berlin (die ihm nach Emeritierung als »Gastprofessor in der Funktion eines Seniorprofessors« die Weiterarbeit ermöglichte). Und das bleibt gut so: Wie bereits angedeutet, hat Hempfer über fünf Jahrzehnte lang profunde Wissensbestände akkumuliert, die nicht einfach in den Ruhestand geschickt werden sollten. Sein so ermöglichtes Werk richtet sich – so die weitreichenden und explizit formulierten Leistungsversprechen im knappen »Vorwort« (XIII–XV) – »an alle, die sich mit Literatur als Erkenntnisobjekt beschäftigen«: also an Lehrende und Studierende der Literaturwissenschaften (von der Komparatistik bis zu den einzelnen Nationalphilologien), aber auch an Angehörige anderer text- und zeicheninterpretierender Disziplinen: an Sprachwissenschaftler, Theaterwissenschaftler, Philosophen, Kunstwissenschaftler, Historiker, ja sogar an Theologen und Juristen.

Um die zugesagten inter- und transdisziplinären Anschlüsse an die Problemstellungen anderer textinterpretierender Disziplinen zu gewährleisten, braucht die Wissenschaft von der Literatur einen »disziplinären Kern«: und diesen »disziplinären Kern« will Hempfer durch die Bearbeitung von »grundlegende[n] Fragen literaturwissenschaftlicher Theorie, die diesen Kern ausmachen« (alle Zitate XIII) schaffen. Umstandslos und ohne weitere Reflexion alternativer Zugänge benennt der Verfasser seine grundlegenden Begriffe, die in sechs unterschiedlich langen Abschnitten bearbeitet werden:

»1 Interpretation« (1–37),

»2 Fiktion« (38–107),

»3 Performativität, Performanz und performance« (108–142),

»4 Intertextualität« (143–177),

»5 Gattung« (178–213),

»6 Epoche« (214–256).

Jeder Abschnitt bewegt sich auf einer hohen Abstraktionsebene und wird durch eine Auflistung von »Einschlägigen Arbeiten« zum Thema abgeschlossen. Bibliographie (257–286) und Autorenregister (287-292) machen die Handhabung des Bandes leichter. Was jedoch nicht bedeutet, dass sich mit dem vorgelegten Band einfach arbeiten lässt: Der Verfasser setzt eine solche Menge von Wissen über philosophische und texttheoretische Überlegungen voraus, dass der Nachvollzug seiner Behauptungen nicht immer problemlos möglich scheint. So werden bereits auf den ersten Seiten des grundlegenden Abschnitts »Interpretation« eine Fülle von Namen und Konzepten aufgeboten:

Gemeinsames Ziel der Interpretationsphilosophie – die bei Lenk nicht zufällig ›Interpretationskonstruktphilosophie‹ heißt – und des dialektischen Konstruktivismus Piagetscher Provenienz ist die Überwindung der erkenntnistheoretischen Dichotomie von Essentialismus und Relativismus. Während sich Abel für diese Überwindung der ›Drehtür-Metaphorik‹ bedient, beschreibt Piaget den Konstruktionsprozess als »interaction indissociable entre les apports du sujet et ceux de l’objet«. Ich bin mir bewusst, dass die Interpretations(konstrukt)philosophie diese eher traditionell formulierte Subjekt-Objekt-Relation so nicht konzeptualisieren würde, da sie ja von der prinzipiellen Zeichen- und Interpretationsdurchdringung der ›Objekte‹ ausgeht, das zugrundeliegende Problem scheint mir jedoch auch die ›Drehtür-Metaphorik‹ nicht wirklich zu lösen, denn auch diese wunderbare Metaphorik setzt implizit ein Vor und Hinter bzw. ein Innen und Außen der Drehtür voraus, und es ist genau diese Problematik, die die verschiedenen Konstruktivismen abzuarbeiten versuchen. (3, Hervorhebung im Original)

Zweifellos richtig und wichtig: doch warum kann die »wunderbare Metaphorik« der »Drehtür-Metaphorik« nicht wenigstens knapp erläutert werden? Zumal ja der Verfasser selbst annonciert hatte, sich auch an Studierende literaturwissenschaftlicher Disziplinen zu wenden? – Möglicherweise wirkt es nörglerisch: Doch wenn im fundamental wichtigen Auftaktabschnitt über die »Unhintergehbarkeit von ›Interpretation‹« (5) umstandslos voraussetzungsreiche und komplexe Rekonstruktionen philosophischer Debatten vorgetragen werden, scheint ein Kommunikationsproblem vorprogrammiert. Was etwa lernt ein BA-Studierender, der nach Zitaten aus einem frühen Aufsatz von Günter Abel und dem 1993 veröffentlichten Band Philosophie und Interpretation von Klaus Lenk liest:

Im Grundsätzlichen analog argumentiert Abel, der die sechs Interpretationsebenen von Lenk auf drei reduziert, wobei freilich die Bezeichnung der dritten Ebene, zu der auch die Textinterpretation zählt, mit »aneignende[n] Deutungen« einen Literaturwissenschaftler eher intrigiert, im Rahmen des Modells jedoch durchaus konsistent ist, geht es doch gerade nicht um »Interpretationstheorie (wie sie etwa in den Literaturwissenschaften anzutreffen ist), sondern um Zeichen- und Interpretationsphilosophie« (Abel 2004:24), nämlich um die erkenntnistheoretische Grundfrage nach unserer Auffassung von ›Wirklichkeit‹ (2).

Dementsprechend schwierig wird der Nachvollzug der vorgetragenen Überlegungen zur Unhintergehbarkeit von Interpretationen. Denn auch wenn der schließlich formulierten These 1 (»Interpretieren ist grundsätzlich unhintergehbar. Entscheidend ist freilich, dass man zwischen ›guten‹ und ›weniger guten‹ Interpretationen unterscheiden kann.«, 8) grundsätzlich zuzustimmen bleibt, sind die angeführten Begründungen nicht sofort verständlich. Und das nicht wegen mangelnder Argumente oder deren epistemischer Güte, sondern aufgrund einer Darstellungsform, die in wenigen Absätzen eine solche Fülle von Namen, Konzepten und Thesen versammelt, dass deren Ordnung eine Herausforderung darstellt: Von Staigers Kunst der Interpretation (1951) über Susan Sontags Against Interpretation (1966) bis zu Aleida Assmann und Geoffrey Hartman wird so ziemlich alles zusammengefasst, was in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für und gegen Bedeutungszuweisungen vorgetragen wurde. Zugleich führt der Autor alte Gefechte weiter; exemplarisch:

Von Davidsons »Radical Interpretation« (zuerst 1973) bis zu Brandoms Making it Explicit (1994) entwickelt die Analytische Sprachphilosophie Bedeutungstheorien, die erklären können (sollen), warum und wie wir sprachliche Äußerungen nicht beliebig verstehen und inwiefern bereits normalsprachliche Kommunikation auf Interpretation basiert. Das, worum sich ein erheblicher Teil der Analytischen Sprachphilosophie bemüht, wird bei Siegfried J. Schmidt in eine nicht weiter analysierbare black box der S- und L-Kommunikate verbannt, sodass die ›Empirische Literaturwissenschaft‹ auch einer analytischer Präzision durchaus aufgeschlossenen Interpretationstheorie keine Anschlussmöglichkeiten bietet. (5)

Schon klar. Doch wer beschäftigt sich denn heute noch ernsthaft mit S. J. Schmidt und dessen »Empirischer Literaturwissenschaft«?

II

Hat man sich auf die hier präsentierte Fülle von Wissen und deren einigermaßen herausfordernde Präsentationsform aber erst einmal eingelassen, entdeckt der Leser eine solche Menge von anregenden Überlegungen, dass sie an dieser Stelle kaum in extenso vorgestellt werden können. Hier nur zu erwähnen bleiben die – auch für eine praxeologisch fundierte Literaturforschung beachtenswerten – Erläuterungen zum Interpretieren als einer spezifischen Rationalitätsform, die nicht hintergehbar, doch aber graduell zu differenzieren ist:

These 1 Interpretieren ist grundsätzlich unhintergehbar. Entscheidend ist freilich, dass man zwischen ›guten‹ und ›weniger guten‹ Interpretationen unterscheiden kann. (8)

Interpretieren beruht nach Hempfer nicht auf einem propositionalen knowing that, sondern auf einem performativen knowing how. Aufschlussreich ist die in diesem Zusammenhang gegebene Begründung, die nicht auf Praktiken innerhalb von Interpretationsgemeinschaften, sondern auf die »normalsprachliche Verwendung von ›interpretieren‹« rekurriert:

Dass ›Interpretieren‹ ein Können (= knowing how) wie Kochen, Fußball- oder Klavierspielen ist und kein Wissen (= knowing that), ergibt sich allein aus der normalsprachlichen Verwendung von ›interpretieren‹ mit den epistemischen Prädikaten. Ich kann sagen: ›Er kann interpretieren‹ oder ›Er weiß/versteht zu interpretieren‹ – Letzteres entspricht genau der Struktur des Englischen he knows how to –, womit die generelle Fähigkeit einer Person zur Durchführung dessen benannt wird, was man ›interpretieren‹ nennt. (10)

Dem entsprechend lautet die sich ergebende Folgerung in knapper Formulierung:

These 2 Interpretieren kann als ein performatives Können nicht bzw. nicht vollständig auf ein propositionales Wissen zurückgeführt werden. Interpreten können in der Regel mehr und anderes als das, was in Interpretationsregeln gefasst werden kann. Damit ist zugleich eine Grenze der Theoretisierbarkeit von Interpretationen benannt, die notwendig aus der Irreduzibilität eines performativen Prozesses auf einen propositionalen Akt resultiert. (11)

Es spricht für den Weitblick des Verfassers, wenn er trotz der grundsätzlich begrenzten Theoretisierbarkeit von Interpretationen auf Kriterien zur Bestimmung der Vernünftigkeit und Angemessenheit von Bedeutungszuschreibungen besteht. Diese Kriterien aber werden nicht einfach gesetzt, sondern unter Rekurs auf die Topik des Aristoteles und den semantic inferentialism von Robert B. Brandom begründet. Die Pointe dieser Verbindung von Verzicht auf Theoretisierbarkeit und topischer Argumentation (die davon ausgeht, dass die Prämissen von Schlüssen nicht erste und wahre Sätze sind, sondern Endoxa und also mehr oder weniger anerkannte Meinungen) ist eine produktive Auszeichnung des Interpretierens als kommunikatives Spiel mit formulierbaren Regeln:

These 6: Wenn es richtig ist, dass literaturwissenschaftliches Interpretieren ein knowing how darstellt, dann wäre dieses per definitionem nicht durch eine systematische Theorie einholbar. Formulierbar wären dann immer nur Spielregeln, die die einzelnen Züge ermöglichen, aber nicht bedingen. Solche Spielregeln sind freilich unumgänglich, weil sonst niemand mehr wüsste, welches Spiel denn gespielt wird. Nicht angesagt ist damit ein anything goes, weil es die Distinktivität des Spiels zerstört. Angesagt sind stattdessen Spielregeln, die die konkreten Spielzüge als angemessen ausweisen. Wenn es des Weiteren richtig ist, dass sich das knowing how der Interpretation in einem zentralen Punkt, nämlich dem Verhältnis von Hintergrundwissen und singulären Hypothesen, als topische Argumentation rekonstruieren lässt, dann gehört es natürlich zu den Spielregeln, dass Gründe dafür angegeben werden (können), warum eine Meinung tatsächlich als ›anerkannte‹ Meinung fungieren kann oder umgekehrt, warum anerkannte Meinungen nur beliebige Setzungen sind. (S. 15)

Mit anderen Worten (und über Hempfers Formulierungen hinausgehend): Interpretationen sind – wie andere Tätigkeiten innerhalb des universitär betriebenen Sprachspiels Literaturwissenschaft auch – keine individuellen Tätigkeiten, sondern werden in Kommunikationsgemeinschaften praktiziert, die konstitutiven und regulativen Regeln folgen. Als reflektierte bzw. prinzipiell reflektierbare Handlungsschemata umfassen diese Regeln mehr als nur schlichte Handlungskompetenz. Regeln sind formulierte bzw. formulierbare Handlungskonditionen: wobei konstitutive Regeln die Bereiche von Handlungen schaffen und kompetente Handlungsvollzüge in ihnen überhaupt ermöglichen (indem sie etwa in der Schulordnung festgehaltene Abläufe fixieren) und regulative Regeln zulässige Ausübungen ausgestalten (und dafür bestimmte Kompetenzen voraussetzen).

Die gleichsam fundamentierende Funktion konstitutiver Regeln in Gemeinschaften wird klarer, wenn man die Legitimität von Regelverletzungen thematisiert. Eine Frage wie ›Kann man die Regel, die das Schachmatt festlegt, verletzen?‹ ist bei Interesse an der Selbsterhaltung des so konstituierten Spiels ebenso unangebracht wie die Frage nach der Zulässigkeit von Plagiaten bei einer wissenschaftlichen Arbeit. Wer den König trotz Schachmatt-Position weiterbewegt, spielt vielleicht weiter – doch kein Schach mehr. Und wer Inhalte und Formulierungen aus fremden Arbeiten ohne Nachweis in die eigene Dissertation übernimmt, bewegt sich außerhalb des auf dokumentierte Eigenleistungen programmierten Systems Wissenschaft und muss mit dem Ausschluss aus einer auch durch symbolische Gratifikationen zusammengehaltenen Gemeinschaft rechnen. Mit anderen Worten: Konstitutive Regeln können nicht verletzt werden, ohne dass sich das Spiel im Ganzen ändert bzw. endet – was gravierende und an dieser Stelle nicht zu thematisierende Folgen haben kann. Weil die Einhaltung von Regelverletzungen im Wissenschaftssystem mitunter schwierig ist – denn Kontrollen können überaus aufwändig ausfallen und immer nur stichprobenartig sein – müssen konstitutive Regeln tief in das Selbstverständnis handelnder Akteure eingelassen werden. Eben darum sind die von Klaus W. Hempfer festgehaltenen Spielregeln so wichtig. Zu fragen bleibt dennoch nach den Schiedsrichtern und den Sanktionen bei Regelverletzungen: wer darf werten und wie lassen sich diese Urteile durchsetzen?

Denn auch wieder unbestreitbar und deshalb noch einmal zu unterstreichen ist die in These 7 vorgetragene Bestimmung des Interpretierens als »argumentativer Agon, dessen Rationalität darauf beruht, dass die hieran Beteiligten willens und in der Lage sind, beliebige von nichtbeliebigen Folgerungsbeziehungen zu unterscheiden« (so prägnant 19; ähnlich bereits 18 die untergliedernden Thesen:

»(1) Bedeutungszuweisungen beruhen auf dem Explizitmachen des Impliziten.

(2) Dieser Prozess ist kein beliebiger, sondern basiert auf sprachlich indizierten Inferenzrelationen.

(3) Die explizit gemachten Prämissen sind Behauptungen (claims), die in einem argumentativen Agon verteidigt und zurückgewiesen werden können.«

Was aber macht man mit beteiligten Spielern, die gar keinen »argumentativen Agon« wollen und nicht willens sind, »beliebige von nichtbeliebigen Folgerungsbeziehungen zu unterscheiden«? Und noch wichtiger: Wer legt Kriterien von Beliebigkeit fest? Denn was aus der Sicht der Einen eine beliebige Folgerung eines Anderen sein mag, mag der Andere für Nicht-Beliebig halten.

Für den Verfasser sind diese Probleme durch die prinzipielle Akzeptanz einer allgemein verbindlichen Rationalitätsnorm lösbar:

Wenn aufgrund von Textdaten und einem auf Rationalitätskriterien basierenden Folgerungsprozess dem literarischen Text explizite Bedeutungen zugewiesen werden, dann sind diese ihm nicht in irgendeiner Weise vorgegeben, sondern werden vielmehr in der Interdependenz von Textdaten und Folgerungsbeziehungen allererst erstellt, und dies heißt: konstruiert. Damit gibt es auch keine letztgültige, ›wahre‹ Interpretation, weil sowohl die ›Textdaten‹ wie die Folgerungsprozesse infrage gestellt werden können, es gibt aber sehr wohl überzeugendere und weniger überzeugende Interpretationen. Voraussetzung hierfür ist freilich die Akzeptanz eines Rationalitätskriteriums, das man in Abwandlung einer ›Maxime‹ Hermann Lübbes etwa folgendermaßen formulieren könnte: Rational ist, wer in seinen Annahmen über Texte bessere Gründe uneingeschränkt gegen sich gelten lässt. (19, Hervorhebung von mir, R.K.)

Auf der Grundlage eines solchen Rationalitätskriteriums können nachfolgend »Einige Interpretationsmaximen« entwickelt werden:

Interessanterweise konstatiert der Verfasser dieser fünf Maximen (die auf durchweg hohem Niveau und unter Rekurs auf Forschung und literarische Beispiele begründet werden) eine nicht zu übersehende Diskrepanz zwischen Literaturtheorie und textanalytischer Praxis:

Die Interpretationstheorie hat in den letzten Jahren fraglos einen Grad theoretischer Reflexion erreicht, den sie zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts nicht hatte. [...] Die Tatsache, dass die Praxis in ihrer Breite hiermit nicht immer Schritt gehalten hat, ja dass man insbesondere im Kontext von Dekonstruktion, gender und anderen sogenannten studies eine eklatante Beliebigkeit konstatieren muss, deutet darauf hin, dass die normative Unterscheidung einer ›guten‹ von einer ›weniger guten‹ Praxis nicht zu umgehen ist, da nur eine gute Praxis das knowing how enthalten kann, das die praxeologische Theorie, wenn auch nur partiell, in ein propositionales knowing that übersetzen will. Mit den fünf Maximen habe ich versucht, Grundlagen einer solchen Praxis zu skizzieren. (36; Hervorhebungen im Original)

Warum aber wird die »eklatante Beliebigkeit« im Kontext von »Dekonstruktion, gender und anderen sogenannten studies« so einfach hingenommen? Und was nutzt die »normative Unterscheidung einer ›guten‹ von einer ›weniger guten‹ Praxis«, wenn sie keine Konsequenzen hat?

III

Wie gesagt: Die ganze Fülle dieser »Grundlagen einer systematischen Theorie« ist hier nicht darstellbar. Festzuhalten bleiben vielfältige Einsichten in konzeptionell-methodologische und praxeologische Fundamente einer Wissenschaft, die mit Gegenstand und Gegenstandskonstitution sowie Produktions- und Distributionsformaten nach wie vor frag-würdig und also zu beobachten und zu beschreiben ist.

Gerade vor dem Hintergrund der kulturhistorisch langfristigen Genese und Geltung literarischer Kommunikation bleibt es gleichwohl nachhaltig irritierend, dass Klaus W. Hempfer zwar umstandslos mit der »Unhintergehbarkeit von ›Interpretation‹« einsetzt und sich subtilen Erörterungen zu ›Fiktion« und ›Performativität‹ widmet, doch keine Abschnitte zu den doch nicht unwichtigen Begriffen ›Text‹ und ›Kontext‹, ›Literatur‹ und ›literarische Kommunikation‹ aufweist. Auch die Kategorien ›Autor‹ und ›Werk‹ hätten (nicht zuletzt angesichts der zahlreichen Forschungseinsätze in den letzten Jahrzehnten) eine Reflexion verdient. Noch schwerer wiegt der Verzicht auf eine Entwicklung der Problemstellungen, die zu philologischen bzw. literaturwissenschaftlichen Einsätzen führten. So beginnt der zweifellos wichtige zweite Abschnitt »Fiktion«:

Wenn es richtig ist, wie ich im vorausgehenden Kapitel zu begründen versucht habe, dass die Autorintention keine Validierungsinstanz für die Gültigkeit einer Textinterpretation sein kann, dann kann diese natürlich auch nicht als Instanz fungieren, die die Frage nach der Fiktionalität oder Nicht-Fiktionalität von Texten entscheidbar macht, da auch fiktionale Texte auf normalsprachlichen Bedeutungen basieren, die ihrerseits nicht zirkelfrei auf Intentionen rückführbar sind. (38),

um später die Ziele der nachfolgenden Darstellung aufzulisten:

Dabei geht es mir zunächst darum, ob ›Fiktionalität‹ eine Institution, ein Vertrag oder doch wohl eher eine diskursive Konvention ist. Wenn man nicht auf die Autorintention rekurrieren kann, ergibt sich notwendig als weitere zentrale Frage, wie man ›Fiktionalität‹ am Text und/oder [an] den zugehörigen Paratexten und Gebrauchssituationen dingfest machen kann. In unmittelbarem Zusammenhang hiermit steht das Problem der Unterscheidbarkeit bzw. der Notwendigkeit einer Unterscheidung von ›Fiktionssignalen‹ und Fiktionsmerkmalen. (39)

Schon angesichts dieser Aussagen lässt sich fragen, ob autor-intentionalistische Fiktionstheorien damit entkräftet sind. Und noch weitergehend: Warum der Status von Fiktionen und die Zuschreibungen (bzw. Dementis) von Fiktionalität überhaupt ein Problem darstellen, erläutert der Autor nicht. Dabei ist nur daran zu erinnern, dass das BVG-Urteil über Klaus Manns Mephisto-Roman noch immer in Kraft und Maxim Billers Esra-Roman trotz literaturwissenschaftlicher Interventionen weiterhin verboten ist (ebenfalls mit BVG-Urteil bei zwei Sondervoten). Von gegenwärtigen Erschütterungen des Fiktions-Begriffs durch neue Formen und Formate des Erzählens ganz zu schweigen.

Doch trotz des Verzichts auf Hinweise zu (vergangenen und aktuellen) Problemstellungen gelangt der Verfasser zu weitreichenden Einsichten. Exemplarisch für die so gewonnenen Erkenntnisse ist der Anspruch, Fiktionalität als systematische Kategorie zu rekonstruieren, mit der dann historische Entwicklungen beschreibbar werden:

Wenn ich ›Fiktionalität‹ über Hypothesen einer Theorie konstruiere, ist dieses Konstrukt eindeutig eine systematische Kategorie, mit der historisch unterschiedliche Fiktion(alität)sverständnisse in ihrer Unterschiedlichkeit allererst rekonstruierbar sind bzw. der Nachweis geführt werden kann, dass es zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten geographisch-kulturellem Raum (noch) kein Fiktionalitätsverständnis gab und inwiefern es diachron und diatop zur Ausbildung unterschiedlicher Fiktionalitätsverständnisse und unterschiedlicher Textgruppenbildungen gekommen ist, indem etwa nicht oder nur graduell zwischen ›Dichtung‹ und ›Geschichtsschreibung‹ getrennt wurde, wie etwa noch im Humanismus. (103f.)

Zweifellos weitreichend und diskutabel – so wie unzählige andere Einsichten des Bandes. Für die Bereitschaft, diese Gewinne eines langen Philologen-Lebens zu teilen, ist Klaus W. Hempfer noch einmal zu danken. Sein Band zeigt, wie eine kritisch-rationale Literaturwissenschaft heute aussieht. Was unsere heutige Wissenschaftslandschaft mit ihrer synthetischen Überproduktion aus diesem fundamentalen Angebot machen wird, muss die Zukunft zeigen.

Anmerkungen

[1] Klaus W. Hempfer: Tendenz und Ästhetik. Studien zur französischen Verssatire des 18. Jahrhunderts. München: Fink 1972. [zurück]

[2] Klaus W. Hempfer: Gattungstheorie. München 1973. – Aufschlussreich für den aktuellen Stand der Diskussion ist der für September 2020 annoncierte Suhrkamp-Band Gattungstheorie (herausgegeben von Paul Keckeis und Werner Michler) mit dem Leistungsversprechen, »klassische Positionen der Gattungstheorie zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus erstmals mit prononcierten Stimmen der aktuellen, insbesondere französischen und angloamerikanischen Diskussion in einen thematischen Dialog«zu bringen. Die im Reader präsentierten Schlüsseltexte zum Thema kommen u.a. von Peter Szondi, Michail Bachtin, Gérard Genette, Jacques Derrida, Gilles Deleuze, Fredric Jameson, Stephen Greenblatt, Barbara Johnson und Franco Moretti. [zurück]

[3] Schriftenverzeichnis Klaus W. Hempfer. In: Irina O. Rajewsky, Ulrike Schneider (Hrsg.): Im Zeichen der Fiktion. Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer Sicht. Festschrift für Klaus W. Hempfer zum 65. Geburtstag. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2008, S. 365-372. [zurück]

[4] Klaus W. Hempfer, Jörg Volbers (Hrsg.): Theorien des Performativen : Sprache - Wissen - Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme. Bielefeld: transcript Verlag 2014. [zurück]

[5] Klaus W. Hempfer, Anita Traninger (Hrsg.): Der Dialog im Diskursfeld seiner Zeit. Von der Antike bis zur Aufklärung. Stuttgart : Franz Steiner Verlag 2014. [zurück]

[6] Klaus W. Hempfer: Lyrik. Skizze einer systematischen Theorie. Stuttgart : Franz Steiner Verlag 2014. [zurück]

2020-05-19

JLTonline ISSN 1862-8990

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