Daniel Kazmaier

Zu den Ufern eines anderen Textverständnisses. Katja Kauers Anleitung queer zu lesen.

Katja Kauer, Queer lesen. Anleitung zu Lektüren jenseits eines normierten Textverständnisses. Tübingen: Narr Francke Attempto 2019. S. 204 [Preis: EUR 22,99] ISBN: 9783823382829.

Eines vorneweg: Ein solches Buch war überfällig. Ein Studienbuch, das sich denjenigen Lektürestrategien widmet, die sensibel für Artikulation von Begehren in literarischen Texten sind, die sich nicht einem prästabilierten Muster fügen. Katja Kauers »Anleitung zu Lektüren jenseits eines normierten Textverständnisses«, wie es der Untertitel besagt, versammelt genau solche queeren Lektüren zu literarischen Texten vom letzten Viertel des 19. Jahrhunderts bis heute. Diese setzen sich zum Ziel »queeres Denken […] als einen Lektüreschlüssel« (15) zu vermitteln und als Blaupause guten Lesens zu empfehlen, das dazu fähig ist »die Systemblindheit abzulegen.« (ebd.) Die Minimaldefinition von queer als ein solcher Lektüreschlüssel schließt an ein dekonstruktives Verfahren an, das strukturale Binaritäten in Frage stellt und gleichzeitig deren asymmetrisches Machtverhältnis denunziert, und verknüpft es mit der Analyse von geschlechtlichen Begehrensstrukturen in literarischen Texten. Mithilfe des Begriffs queer lenkt Kauer zunächst die Aufmerksamkeit auf den Konstruktionscharakter der Heteronormativität, also der unhinterfragten Voraussetzung, dass Begehren ›normalerweise‹ auf das jeweils andere Geschlecht gerichtet ist. Dies führt automatisch zur Analyse von Figurenkonstellationen in literarischen Texten mit Hinblick auf die zwischen den Figuren zirkulierenden erotischen Begehrensströme.

In der Einleitung leitet Kauer den Begriff queer historisch her und platziert ihn in den akademischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Dabei kommt sie zu dem Schluss, dass gerade die »Unbestimmtheit des Begriffs« (11) wesentlich für seine theoretische Zuspitzung sei. In dieser paradox anmutenden Zurichtung sieht Kauer genau das Potenzial von queer, denn man müsse den Begriff »eher als eine kritische Denkrichtung, denn als ein festes Konzept« (ebd.) verstehen. Kauer versteht queer als einen relationalen Begriff, der jeweils kritisch an eine kulturelle ›Norm‹ herangetragen wird, wodurch das Thema zugleich »vage und einladend« (14) erscheint. Die Relationalität des Queeren wird deshalb im Folgenden auch zur Leitfrage des Studienbuches. Denn die Frage wie man Texte queeren kann, ist methodischer Gegenstand des Buches. Dieser Frage geht Kauer in insgesamt elf Kapiteln mit ausführlichen Lektüren zu Texten vom späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart nach. Aufgrund der Struktur des Buches, das in langen Lektürekapiteln Interpretationen vorstellt, in denen Kauer die Relationalität des Queeren erprobt, werde ich bei meinem kritischen Durchgang das Buch im Folgenden auf zwei Aspekte prüfen. Erstens frage ich, inwiefern das Versprechen ein Studienbuch zu liefern, wie der Untertitel besagt, zutrifft; und zweitens frage ich nach der argumentativen Leistungsfähigkeit sowohl hinsichtlich des vorgestellten Theorieangebots als auch hinsichtlich der Textinterpretationen.

Denn die Textauswahl überrascht zunächst. Schließlich ist kein einziger Text des sogenannten Höhenkamms dabei, den Kauer einer queeren Lektüre unterzieht. So sehr es auch unbedingt begrüßenswert ist, andere vergessene und untergegangene Stimmen der Literaturgeschichte wieder hörbar zu machen, so erschwert die Textauswahl das Unternehmen einer Anleitung oder einer »Einführung« (ebd.), wie Kauer ihr Projekt auch nennt, zum queeren Lesen doch. Denn gerade an kanonisierten Texten ließe sich zeigen, wie Deutungstraditionen gegen den Strich gebürstet werden können, indem man die Texte genau und neu liest und dadurch zu einem Jenseits »eines normierten Textverständnisses« kommt. Ein normiertes Textverständnis, das eben auch über Deutungstraditionen zustande kommt, kann sich dagegen nur in erheblich geringerem Maße für Texte ausbilden, die weniger bekannt und deshalb auch weniger rezipiert worden sind. Zudem könnte man, dem Charakter eines Einführungsbuches gemäß, bei allseits bekannten Texten auch davon ausgehen, dass die Leser*innen den Inhalt der Texte kennen.

So mutet sich Kauer eine doppelte Aufgabe zu, nämlich vergessene Texte wieder hörbar zu machen, bzw. in den literaturwissenschaftlichen Diskurs einzubringen und gleichzeitig diese Texte einer queeren Lesart zu unterziehen.

Dass die heterosexuelle Matrix alle Beziehungs- und Gefühlslagen innerhalb der erzählten Welt der literarischen Texte infiltriert, ist die Voraussetzung, vor der die Lektüren des Bandes sich verantworten, selbst dort, wo die Texte genau dies vehement abstreiten. Gegen diese Heteronormativität anzugehen und anzuschreiben, ist ja das erklärte Ziel des Buchs. Es wiederholt auf einer didaktischen Ebene damit den Grundbefund, den Andreas Kraß als Devise für queere Lektüre ausgegeben hat, den auch Kauer zitiert: nämlich ein Textbegehren zu identifizieren, das nicht »deckungsgleich« mit demjenigen Begehren ist, »das sich in den Stimmen […] der Figuren artikuliert« (Kraß in Kauer, 15 und 170). Damit stimmt sie ein strukturalistisches Grundprinzip, das auf einer Unterscheidung von Oberflächen- und Tiefenstruktur aufbaut, auf ein kulturwissenschaftliches Paradigma ab und bestimmt darüber den literarischen Text als Austragungsort dieser Deutungskämpfe. Kauers Lektüren, denen man gut folgen kann, machen schlüssig und nachvollziehbar die (teilweise verdeckten) Begehrensströme in den Figurenkonstellationen der vorgestellten Texte sichtbar.

Insgesamt bieten die Lektüren ein vollständiges Panorama der queeren Herangehensweise. Diesem Panorama ist allerdings auch eine Art Chronologie eingeschrieben, die den Fortgang des Buches strukturiert und eine kleine Geschichte der Entwicklung des Geschlechterdiskurses im 20. Jahrhundert nachzeichnet. Am Anfang steht daher die geradezu klassische Verfahrensweise, die dem straighten Text ein queeres Begehren entgegenhält. Dazu analysiert Kauer Eduard von Keyserlings Roman Wellen von 1911. Die zweite queere Urszene macht Kauer an Hedwig Dohms Text Der Frauen Natur und Recht von 1876 fest, indem sie die Widersprüchlichkeiten der Geschlechterrollen herausarbeitet, um diese gegen die Heteronormativität abzugleichen. Ausgehend von diesen beiden Lektürestrategien, die einerseits Figurenkonstellationen auf eine Tiefenstruktur hin befragen und eine Hermeneutik des Verdachts ausführen sowie die Unbrauchbarkeit von allgemeinen Zuschreibungen herausarbeiten, die sich den Anstrich des Natürlichen geben, entwickelt Kauer anhand ihrer Lektüren auch eine kurze Geschichte des Queeren innerhalb der Literaturgeschichte. Ein Problem, das hier deutlich wird, ist der Status des literarischen Textes.

Literarische Texte vermitteln uns Gendervorstellungen in binärer Opposition; auf welche Geschlechterdiskurse sie sich aber beziehen, also welche Sichtweisen auf die ‚Natur‘ des Mannes und der Frau jeweils geteilt werden, oder ob gar widersprüchliche Diskurse bemüht werden, ist oft abhängig von Entstehungszeit und Kontext. (57)

Damit stellt sie den literarischen Text – und in gewissem Maße auch das eigene Vorhaben – in eine Art double bind. Denn einerseits soll sich in literarischen Texten gerade etwas Bahn brechen, was sonst nicht ausgesagt werden kann, andererseits verpflichtet Kauer den literarischen Text voll und ganz auf Diskurstreue. Zugespitzt formuliert: Literatur soll einen Zugang zu historischen Geschlechtervorstellungen bieten und gleichzeitig deren Kritik sein. Diese Unwucht prägt die weiteren Lektürekapitel. Einerseits werden die Aussagen des literarischen Textes am zeitgenössischen Geschlechterdiskurs gemessen und andererseits eine Lektürestrategie propagiert, die genau ›gegen den Strich‹ dieser Diskurse liest.

Der positive Ertrag dieses Vorgehens ist, dass die einzelnen Texte exemplarischen Charakter bekommen. Sie bilden jeweils einen historischen Marker, den Kauer genau registriert. Besonders gut gelingt dieses Vorgehen im Kapitel VIII »Frauenliebe« über die (ausgebliebene) lesbische Rezeption des Films Mädchen in Uniform. Dort kann Kauer aus dieser Historisierung gerade Kapital schlagen. Beeindruckend stellt sie hier dar, wie der Sexualitätsdiskurs um 1930 die Wahrnehmung dergestalt präfiguriert, dass der Film schlicht und ergreifend nicht als eine lesbische Liebesgeschichte gelesen werden konnte. Weil Homosexualität im zeitgenössischen Diskurs »eine sexualwissenschaftliche Kategorie« darstellt, »die auf Menschen zutrifft, die erkennbar anders sind« (143), können die Zuschauer*innen den Film nicht als lesbisch wahrnehmen. Denn die beiden sich liebenden Protagonistinnen entsprechen hinsichtlich ihres Genders dem herkömmlichen Frauenbild, so dass sich die Frage nach dem dezidiert lesbischen Begehren, obwohl derart offensichtlich, überhaupt nicht stellt. Ebenso folgerichtig ist, dass der Film später zur Untermauerung neuerer Theorieentwürfe herangezogen wurde, wie Kauer nachzeichnet.

Auch der Ausblick im Kapitel X macht diesen positiven Ertrag noch einmal deutlich. Dass sich ein queeres Vokabular gerade als sein Gegenteil erweist und eben kein anderes Textbegehren artikuliert, ist eine erfrischende Pointe, mit der Kauer den zeitgenössischen Popliteraturdiskurs treffend beschreibt und so die letztlich diskursstabilisierende Wirkung von Pop überhaupt auf den Punkt bringt. Diese Pointe setzt Kauer gekonnt an den Schluss.

Gerade die Diskurstreue der Popliteratur gerät hier zum kritischen Moment. Anhand der Lektüren der oberflächlich als queer gestalteten Begehrensströme in Alexa Hennig von Langes Relax aus dem Jahr 1997 und Charlotte Roches Mädchen für alles aus dem Jahr 2015 zeigt Kauer überzeugend, wie das offensichtliche Queer nicht mehr ein Jenseits der Norm abbildet, sondern selbst zur Norm wird. Dies wird im kontrastierend gestalteten Kapitel XI deutlich, das eine neue Queerness andeutet, die am Beispiel von Laurie Pennys Text Unsagbare Dinge gerade ein Begehren in Szene setzt, das sich voll und ganz in die heteronormative Matrix einfügt. Allerdings macht die Rekonstruktion der für heutige Leser*innen so auffälligen Blindheit der Rezeption am Beispiel des Films Mädchen in Uniform einerseits und der verqueren Queerness in der Popliteratur andererseits im Gegenzug auch sichtbar, in welche Schieflage Kauers Argumentation ab und an gerät.

Das theoretische Spagat, das Kauer den Leser*innen zumutet und sie damit auch manchmal überfordert, liegt darin, dass sie sich nicht entscheiden kann, welches Register sie für ihre Metasprache ziehen möchte. Ist der jeweilige historisch zu verortende Sexualitätsdiskurs leitend für die Beurteilung der Figurenkonstellationen? Dies scheint der Fall zu sein, wenn sie explizit schreibt, dass »der jeweilige Sexualitätsdiskurs ausschlaggebend« sei, für das, was als schwul, lesbisch oder queer angesehen wird. Das mag im Falle von Rezeptionszeugnissen ohne weiteres der Fall sein. Für die analytische Beschreibung stellt eine solche Herangehensweise jedoch eine Hürde dar. Versucht man nämlich, queeres Vokabular zur Beschreibung von Textstrukturen heranzuziehen, so steht einem immer die Historie im Weg. Entweder man hat keinen Begriff für das Phänomen, weil historisch unangemessen, was für alle Texte vor der Erfindung des Begriffs Homosexualität gilt, oder die Begriffe treffen das Phänomen nicht richtig, weil sie analytisch nicht expliziert sind. Indem Kauer ihre Begriffssprache immer wieder an ihre Historizität zurückbindet, stellt sie die Reichweite dieser Begriffssprache immer wieder implizit in Frage. So gerät das Adjektiv queer, das ja eigentlich offen »vage und einladend« sein soll, zu einem Charaktermerkmal, wenn sie von der Protagonistin in Roches Pop-Roman schreibt, dass diese »nicht sonderlich queer« (182) auftrete. Von einem Begriff, der den jeweils herrschenden Geschlechterdiskurs durchkreuzt, wird der Begriff zu einer essentialistischen Zuschreibungskategorie. Am deutlichsten wird dies in den Kapiteln IV und V über Margaret Radclyffe Halls Quell der Einsamkeit und Anna Elisabet WeirauchsDer Skorpion, das sie vor allem vor der Folie eines festschreibenden Sexualdiskurses liest, der, indem er »neue Begrifflichkeiten für gleichgeschlechtliche Sexualität« entwickelt, gleichzeitig »Identitätsbestimmung[en]« vornimmt (73). Hier kippt die Lektüre einerseits immer wieder in eine Bestätigung des sexualwissenschaftlichen Diskurses und andererseits in die Bestätigung eines »Genderideals der neuen Frau« (89).

Was in den Abschnitten über die Rezeption des Films Mädchen in Uniform und der zeitgenössischen Popliteratur gut gelingt, gerät in den anderen Kapiteln etwas zu vage. Weil wir uns weitgehend als diskursive Zeitgenoss*innen der Popliteratur bewegen und weil Kauer im Filmkapitel am stärksten auf die zeitgenössische Rezeption eingeht, bekommen die Lektüren dort eine Kontur. In den anderen Kapiteln werden die Kontexte nicht so plastisch und konkret, sondern verbleiben in allgemeinen Verweisen auf den Diskurs, so dass die Metasprache, die historisch sensibel sein will, keine solch überzeugende Argumentationskraft entwickeln kann.

Deutlich wird dies im Kapitel VI zum lesbischen Kontinuum. Das, wogegen sie anschreibt, nämlich die Naturalisierung von Zweigeschlechtlichkeit, muss Kauer voraussetzen, um ihre Thesen ausarbeiten zu können. Die weibliche Homosozialität beruhe auf einem Kontinuum, das ohne qualitativen Sprung etliche Beziehungsformen unter Frauen einschließt. Die männliche Homosozialität hingegen konstituiert sich gerade durch den Ausschluss der erotischen gleichgeschlechtlichen Anziehung. Die Argumentation beruht auf einer psychoanalytischen Grundierung. Mädchen werden zur Frau durch die Identifikation mit der Mutter, der ersten Ernährerin und Versorgerin. Jungen werden zu Männern, indem sie sich von der Mutter ablösen. Diese Unterschiede in der Sozialisation können so natürlich nur Geltung beanspruchen, wenn es tatsächlich eine Mutter und einen Vater gibt. Das Modell der bürgerlichen Kleinfamilie mit seinen heteronormativen Implikationen wird so zum Ausgangspunkt queerer Theorie. Auf diesen Aspekt macht Kauer zwar aufmerksam, doch mehr pflichtschuldig als wirklich engagiert. Es geht ihr vielmehr um das Modell, das sie für ihre Romanlektüren fruchtbar macht. Hier wäre allerdings auf der theoretischen Ebene ein Einwand zu formulieren: Es ist auch die Theorie, gleich welcher Herkunft, sei sie psychoanalytisch oder dekonstruktivistisch, die man sich zurechtlegen muss, die man entweder für sich nutzen oder gerade selbst queer lesen kann.

Von einem Studienbuch wäre gerade in dieser Hinsicht eine klarer didaktisch ausgerichtete Begriffsarbeit und eine klarere Trennung zwischen dem begrifflichen Analyseinstrumentarium und einer Darstellung der jeweiligen historischen Diskurssituation zu erwarten. So dient die Historisierung der theoretischen Positionen als bloße Darstellung der Kontexte für die Romaninterpretation. Zwar sind diese Interpretationen in sich durchaus einleuchtend. Es stellt sich aber spätestens bei der vierten Romanlektüre die Frage nach der Gewichtung. Welchen Stellenwert haben solch ausführliche Textinterpretationen in einem als Studienbuch angekündigten Text, der anleiten will?

Das Verhältnis zwischen der Darstellung queerer Positionen, ihrer Einordnung und ihrer Anwendung gerät so in eine leichte Schieflage. Es hat mitunter den Anschein, als sei die Präsentation und Darstellung queerer Theorie nur die Vorspeise für das Hauptgericht der queeren Textinterpretationen des Bandes. In gewissem Sinne hält Kauer damit sogar mehr als sie verspricht. Schließlich gibt der Untertitel an, eine »Anleitung zu Lektüren jenseits eines normierten Textverständnisses« zu sein. Tatsächlich werden die Leser*innen nicht nur angeleitet, sondern durch solche Lektüren durchgeleitet. Aber die spannendste Lektüre ihres Buchs entwickelt Kauer nichtsdestotrotz dort, wo sie die Balance zwischen Darstellung der theoretischen Prämissen ihrer Einordnung und ihrer Anwendung hält. Ausgehend von René Girards anthropologisch grundierter mimetischer Theorie stellt sie Eve Kosofsky Sedgwicks gendertheoretische Reformulierung derselben als ein trianguläres Begehren vor. Kosofskys These, dass sich männliches homosoziales Begehren seinen Umweg über die Frau sucht, widmet Kauer dann auf die Frau als begehrendes Subjekt um. Der Umweg, den das weibliche Begehren nach dem Mann nimmt, läuft hier über die Frau und legt so ein weibliches homosoziales und erotisch grundiertes Begehren offen. Die Figurenkonstellation in Keyserlings Erzählung Die Verlobung von 1907 (vgl. 119–127) analysierend, besetzt sie sowohl das Subjekt als auch den Mittler innerhalb des von Sedgwick entwickelten erotischen Dreiecks mit einer Frau. Hier erweist sich Sedgwicks Theorie selbst als eine Norm, die es zu queeren gilt. In diesem Abschnitt erfüllt Kauer sowohl den didaktischen Zweck als auch den Anspruch, durch Lektüren direkt zum queeren Lesen anzuleiten. Sie erklärt zunächst die Theorie Between men, gibt mit Flauberts Madame Bovary ein Beispiel aus dem Kanon, das zu ihrer eigenen kreativen Aneignung überleitet und geht dann zur eigenen Lektüre Between women (vgl. 117–127) über.

Umso deutlicher stellt sich in den anderen Kapiteln die Frage, ob die Verfasserin mehr an der bloßen queeren Lektüre oder an der Anleitung zu einer solchen interessiert ist. Für eine Anleitung zur Lektüre präsentiert sich das Buch zu sehr unentschieden, ob es an der Darstellung von queeren Positionen interessiert ist oder an einer Kritik an ihnen. Im Laufe der Lektüre gerät die Leser*in so in einen Genre Trouble.

Nach und nach regen sich nämlich immer größere Zweifel, ob dieses Buch wirklich ein Studienbuch darstellt, wie paratextuell angekündigt oder ob es sich doch um einen queertheoretisch informierten Beitrag zur Forschung handelt. Ein Studienbuch braucht keine solch ausführlichen Interpretationen und ein genuiner Forschungsbeitrag wäre auf eine weitergehende theoretische Reflexion angewiesen.

Bis auf einen grafisch hervorgehobenen Merkkasten (vgl. 17) und ein Schaubild (vgl. 119) – bezeichnenderweise im gelungensten Kapitel zum homosozialen Begehren – enthält das Buch keine Visualisierung von Inhalten, die das Thema der Queer Studies in irgendeiner Form didaktisch aufbereiten würden. Leider unterläuft gerade in diesem Merkkasten, wenn nicht ein Fehler, so doch zumindest eine missverständliche Definition. Er dient eigentlich dazu, Heteronormativitätskritik als zentralen Begriff der Queer Theory herauszustellen und zu definieren. Allerdings liest sich die Definition so, als wäre der Begriff Heteronormativität selber derjenige Begriff, »mit dem Naturalisierung und Privilegierung von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit in Frage gestellt werden.« (17)

Beispielhaft sind die Lektüren ohnehin lediglich implizit. Wer allerdings keine didaktisch ausformulierte Handreichung erwartet, die erlaubt, queere Theorie zunächst nachzuvollziehen und sie dann in der konkreten literaturwissenschaftlichen Arbeit erprobt zu sehen, der kann in Katja Kauers Buch anregende Lektüren finden. Wer auf ein Studienbuch hofft, das queere Theoreme erklärt und dann in Beispielanalysen vorexerziert, der ist an der falschen Adresse.

So setzt Kauer das Verständnis von Queer Theory an einigen Stellen eher voraus, als dass sie es herstellt. Deshalb ist es eher ein Buch für diejenigen, die mit den grundsätzlichen Theoremen der Gender Studies und der Queer Theory bereits vertraut sind. Insgesamt ist so ein Buch entstanden, das von Einsteigern zu viel auf einmal abverlangt, in den einzelnen Lektüren dennoch viele Anregungen gibt, die auch für Eingeweihte immer wieder Erkenntnisgewinne bereithalten.

2020-07-26

JLTonline ISSN 1862-8990

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