Christoph Demmerling

Erkenntnisformen in der Diskussion

Gottfried Gabriel: Präzision und Prägnanz. Logische, rhetorische, ästhetische und literarische Erkenntnisformen. Münster: mentis 2019. 255 S. [Preis: 68,00 €]. ISBN: 978-3-95743-140-0.

Zieht man verschiedene Monographien zur Erkenntnistheorie zu Rate, die Lehrbuchcharakter haben und den Anspruch erheben, ihre Leserinnen und Leser über den neuesten Stand der Dinge in Fragen der Erkenntnistheorie zu informieren, ergibt sich der folgende Befund: Diskutiert werden die These, dass Wissen wahre und gerechtfertigte Überzeugung ist, Gettier-Probleme, internalistische Theorien der Rechtfertigung, externalistische Theorien der Verlässlichkeit, gelegentlich auch Fragen nach dem Wert des Wissens, nach epistemischen Tugenden oder nach dem Zeugnis anderer als Erkenntnisquelle.[1] Dies alles sind ohne Zweifel wichtige Fragen, die eine detaillierte Diskussion erfordern. Über sie sollte orientiert sein, wer sich ernsthaft mit erkenntnistheoretischen Problemen beschäftigt. Es fällt allerdings auf, dass in der neueren erkenntnistheoretischen Debatte – anders als in der Tradition – die differenzierte Auseinandersetzung mit epistemisch relevanten Fähigkeiten wie den sogenannten vernunftanalogen Vermögen nur in Teilen stattfindet und eine umfassende Theorie der sinnlichen Erkenntnis lediglich an den Rändern der Disziplin entwickelt wird. Eine Ausnahme stellen Analysen zur Rolle der Wahrnehmung und des Gedächtnisses dar. In einem gewissen Sinne lassen sich auch die kognitionsphilosophischen Arbeiten zu den geistigen Fähigkeiten von Tieren als Beiträge zu einer Theorie der vernunftanalogen Vermögen verstehen. Aber Witz oder Scharfsinn, Dichtungskraft und Beurteilungsvermögen, die Fähigkeit zur Erwartung ähnlicher Fälle, die Kenntnis des Einzelnen in Verbindung mit der Rolle des Exemplarischen und der Sinn dafür, um einige der einschlägigen Aspekte zu nennen, die unter anderem in der Epoche der Aufklärung vielfach diskutiert worden sind, werden nur selten zum Thema gemacht, obwohl es sich um in epistemischer Hinsicht wertvolle Fähigkeiten handelt, die es nicht nur in ästhetischer Hinsicht zu würdigen gilt. Um eine Auseinandersetzung mit diesen Fähigkeiten kommt man nicht herum, wenn es darum geht, einen vollumfänglichen Begriff von Erkenntnis zu entwickeln.

Gottfried Gabriel gehört zu den wenigen Autoren, die sich dafür stark machen, im Rahmen der Erkenntnistheorie die Vielfältigkeit von Erkenntnisformen und nicht allein das propositionale Wissen zu berücksichtigen. Im Vergleich mit Standarddarstellungen im Themenfeld weisen seine Untersuchungen einen erweiterten Blick auf. Nicht nur deshalb, weil er Fragen diskutiert, die in vielen erkenntnistheoretischen Diskussionskontexten nicht umfassend berücksichtigt werden, sondern auch, weil deutlich wird, inwiefern diese Fragen in die Herzkammern der Erkenntnistheorie gehören.

In einer ganzen Reihe von Beiträgen hat er einen pluralistisch verfassten Erkenntnisbegriff formuliert, der den epistemischen Wert von wissenschaftlichen und logischen Formen der Darstellung nicht schmälert, aber auch Rhetorik und Ästhetik sowie insbesondere die fiktionale Literatur als Quellen des Wissens berücksichtigt. Entstanden ist eine erkenntnistheoretische Position, die mit großer Akribie das Verhältnis zwischen propositionalen und nicht-propositionalen Formen des Wissens bzw. der Erkenntnis auslotet und insbesondere die prägnante ästhetische Vergegenwärtigung als Thema für die Erkenntnistheorie rehabilitiert. Neben zahlreichen Aufsätzen insbesondere zur Logik, zur Ästhetik und zur Philosophie der Literatur hat er mehrere Monographien vorgelegt, die sich erkenntnistheoretischen Fragen widmen: eine historisch orientierte Einführung in die Erkenntnistheorie sowie ein Buch, welches das Verhältnis zwischen wissenschaftlicher, künstlerischer, literarischer und philosophischer Erkenntnis auf systematische Weise auslotet.[2] Der Band Präzision und Prägnanz lässt sich als Fortsetzung dieser Arbeiten begreifen, da die hier versammelten Beiträge Gabriels grundsätzliche Position auf unterschiedlichen Feldern erproben und sie mithin systematisch vertiefen.

Der Band enthält ausschließlich Beiträge, die bereits als Einzelstudien erschienen sind. Gleichwohl macht das Buch den Eindruck, aus einem Guss zu sein und es ist gerade die Zusammenstellung der Kapitel, welche dazu führt, dass die Gesamtkonzeption des Autors noch einmal nachvollziehbar vor Augen tritt und ihre Tragfähigkeit auf verschiedenen Gebieten unter Beweis stellen kann. Insgesamt sind es zehn Kapitel, in denen Gabriel seine Überlegungen entfaltet. Das erste und das letzte Kapitel sind thematisch allgemeineren Zuschnitts, indem sie die Grundlagen einer pluralistischen Erkenntnistheorie entfalten, den Gehalt der titelgebenden Begriffe »Präzision« und »Prägnanz« ausloten (vgl. 15–35) sowie das Verhältnis logischer, rhetorischer und literarischer Darstellungsformen bestimmen (vgl. 225–247). Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Begriffen und Metaphern (vgl. 36–50), bevor Kapitel drei die Grammatik der Zahlwörter unter die Lupe nimmt (vgl. 51–61). Es folgen Überlegungen zu Allgemeinheit und Partikularität (vgl. 62–77), denen sich eine Reihe von Studien anschließen, die nicht nur für Philosophen, sondern auch für Literaturwissenschaftler, Juristen, Historiker und Ökonomen von Interesse sein dürften: Sprichwörter (vgl. 78–106), Syllogismen in der Justiz (107–130), Narration in der Geschichtswissenschaft (vgl. 131–160), Geld (vgl. 161–197) und die politische Bildersprache der Briefmarke (vgl. 198–224) sind die Themen, denen Gabriel sich zuwendet.

Bei der Erläuterung der Begriffe der Präzision und Prägnanz kommt die begriffs- und theoriegeschichtliche Informiertheit des Autors nicht nur der Gedankenführung des Textes zugute, sie korrigiert auch viele Einseitigkeiten, unter denen ausschließlich an der Gegenwartsphilosophie orientierte Diskussionen leiden. Gabriel ruft Unterscheidungen in Erinnerung, welche als Grundlage für die Ausarbeitung eines komplex binnendifferenzierten Verständnisses vernünftiger Fähigkeiten zu dienen vermögen. Präzision und Prägnanz werden als Formen der Genauigkeit bestimmt und auf die in der Tradition verbreitete Unterscheidung von Scharfsinn und Witz bezogen. Scharfsinn wird als Vermögen expliziert, »Verschiedenheiten im Ähnlichen« zu sehen, während der Witz die »Ähnlichkeiten im Verschiedenen« entdeckt (vgl. 15). Der Scharfsinn ist auf Präzision aus, indessen der Witz als analogisches Erkenntnisvermögen um Prägnanz bemüht ist. In beiden Fällen, so macht Gabriel geltend, geht es um Erkenntnis. Der epistemische Wert der Präzision versteht sich beinahe von selbst. Worin aber besteht der Erkenntniswert der Prägnanz? Gabriel tritt von vornherein für eine Komplementarität von Erkenntnisformen ein und möchte deutlich machen, dass wissenschaftliche Präzision nicht den einzigen epistemischen Zweck darstellt. Auch Prägnanz ist ein Erkenntnisziel. Mit Hilfe eines kurzen Vergleichs zwischen Mörikes Gedicht Septembermorgen und einem Wetterbericht zeigt er, dass und inwiefern das Gedicht eine Herbststimmung auf prägnante Weise vergegenwärtigt, mithin über den propositionalen Gehalt des Gesagten hinausgeht. Im Gedicht wird nicht einfach vom Wetter berichtet, sondern die Leser erfahren eine Stimmung, die von dem Gedicht präsent gemacht wird und gewinnen in diesem Sinne eine Erkenntnis. Aber was heißt dies?

Um diese Frage zu beantworten, sind Gabriels grundsätzliche Annahmen über den Erkenntniswert der fiktionalen Literatur in Erinnerung zu rufen. Eine seiner entscheidenden Annahmen besteht darin, dass fiktionale Texte Erkenntnis vermitteln können, auch wenn sie nicht in einem buchstäblichen Sinne wahr sind, da die von ihnen thematisierten Sachverhalte ja in der Regel nicht bestehen und zum Beispiel den in den Werken der Dichtung verwendeten Eigennamen keine Personen in der Welt entsprechen. Was die Semantik fiktionaler Sätze betrifft, so steht Gabriel ganz auf den Schultern Freges. Anders als viele Autoren in der analytischen Tradition schlägt er sich aber nicht auf die Seite eines literaturtheoretischen Emotivismus, welcher der Literatur keinerlei kognitiven Wert zubilligt und demzufolge sie primär Gefühle anspricht. Die fiktionale Literatur ist epistemisch relevant, da dasjenige, was in ihr erzählt wird, »den Charakter des Historisch-Einzelnen verliert und […] einen allgemeinen Sinn aufzeigt« (24). Außerdem macht uns die Literatur durch Vergegenwärtigung in der Imagination mit Dingen und Situationen bekannt (vgl. 25). Diese stehen allerdings nicht als Einzelne oder Besondere zur Diskussion, sondern sofern sie etwas Allgemeines exemplifizieren. Überlegungen zur Rolle der Urteilskraft und zum Erkenntniswert von Bildern führen Gabriel schließlich dazu, dem Beweis in den apriorischen Wissenschaften und dem Nachweis in den empirischen Wissenschaften den Aufweis als Modus ästhetischer Gebilde an die Seite zu stellen. Selbstredend kann das Kapitel keine komplette Erkenntnistheorie für den Bereich ästhetischer Gebilde liefern, seien es Bilder oder Texte, zumal die Rede von einer Exemplifikation des Allgemeinen im Besonderen sicher erläuterungsbedürftig bleibt. Aber immerhin werden entscheidende Hinweise gegeben, die das Verfahren und den Gehalt der Vergegenwärtigung betreffen und deren epistemische Rolle erläutern.

Vor dem Hintergrund einer kritischen Auseinandersetzung mit einer postmodernen und nietzscheanisch gespeisten Kritik am begrifflichen Denken entwickelt Gabriel Überlegungen zur Erkenntnisfunktion von Begriffen und Metaphern. Anders als typische Vertreter des Postmodernismus billigt er Metaphern eine Erkenntnisleistung zu, ohne damit die Logik der Begriffe in Zweifel ziehen zu wollen. Begriffe zielen im Prinzip auf präzise, Metaphern auf prägnante Erkenntnis, wobei Begriffe durchaus nicht immer mit vollends präziser Erkenntnis verbunden sein müssen. Zu denken ist an den Fall, in dem ein Begriff sprachlos bleibt und kein Wort für ihn zur Hand ist, sondern Gegenstände lediglich als solche von gleicher Art erkannt bzw. wiedererkannt werden können. In diesem Fall liegt – in der Terminologie der Tradition – eine klare, aber noch keine deutliche Erkenntnis vor. Einen klaren Begriff, eine klare Erkenntnis hat man nach Leibniz dann, wenn man in der Lage dazu ist, eine Sache wiederzuerkennen. Deutlich ist eine Erkenntnis erst dann, wenn man die in ihrem Zusammenhang relevanten Begriffe definitorisch in ihre Merkmale zerlegen kann. Zur Deutlichkeit bedarf es der Sprache, Klarheit kommt ohne Sprache aus, weshalb Gabriel die Idee verteidigt, dass Begriffe jemandem auch dann zugeschrieben werden können, wenn sie sich nicht im Sprachgebrauch manifestieren. Auch wenn diese Idee einleuchtet, hätte man gerne mehr dazu erfahren. Worin liegen die Zuschreibungs- bzw. Erfüllungsbedingungen für nicht-sprachliche Begriffe? Lassen sich verschiedene Typen solcher Begriffe voneinander unterscheiden, die dann in der Wahrnehmung oder im Handeln wirksam sein können? In welchem Verhältnis stehen derartige Begriffe zu sprachlich gefassten Begriffen? Gabriel muss diese Fragen nicht beantworten, denn im Kern des Kapitels geht es nicht um eine Diskussion des Problems sprachloser Begrifflichkeit, sondern um die Analyse sprachlicher Unbegrifflichkeit, welche die Grenzen des Sagbaren betrifft und in Metaphern zur Sprache kommen kann. Aber es handelt sich um Anschlussfragen, die im Rahmen einer weitergehenden Untersuchung zur sinnlichen Erkenntnis zu diskutieren wären.

Metaphern besitzen einen nicht-propositionalen Erkenntniswert, der nicht an den Begriff der Wahrheit gebunden ist. Als ein Beispiel dient Gabriel Freges Verwendung der Metapher der Ungesättigtheit zur Erläuterung des Funktionsbegriffs (vgl. 45). Metaphern, insbesondere so genannte kategoriale Metaphern, dienen dazu, sich auf prägnante Weise über den Inhalt von Grundbegriffen, die sich weiterer Bestimmung entziehen, verständigen zu können (vgl. 40). Metaphern sind »vorpropositionale Gebilde« (46), die weder wahr noch falsch sind. Sie sind angemessen oder unangemessen, was aber für Begriffe auch gelten kann. So gesehen sitzen Begriffe und Metaphern im selben Boot, was aber nicht heißt, dass man sie aneinander angleichen sollte oder man gar die Unterscheidung zwischen Begriff und Metapher über Bord werfen sollte. Gesteht man Metaphern einen Erkenntniswert zu, so die grundsätzliche Strategie Gabriels, gibt es keinen Grund mehr, Begriff und Metapher gegeneinander auszuspielen, sondern dann sind sie in ihrer Komplementarität zu würdigen. Gabriel setzt sich insbesondere mit Hans Blumenbergs Metaphorologie auseinander und weist dekonstruktive Theorien der Metapher (und des Begriffs) zurück, die unter anderem auch in der Literaturtheorie eine Rolle spielen (Paul de Man, Anselm Haverkamp). Worin der Erkenntniswert einer Metapher nun aber genau bestehen soll und wie sich die Landschaften des Unbegrifflichen im Einzelnen darstellen, bleibt freilich in letzter Instanz offen. In welchem Sinn erläutert Freges Rede von der Ungesättigtheit den Funktionsbegriff? Wie verhält sich die Unbegrifflichkeit der Metapher zur Nichtbegrifflichkeit der Anschauung? Nicht alle diese Fragen können im Rahmen eines Beitrags, der sich primär dem Verhältnis von Begriff und Metapher zuwendet, beantwortet werden, aber es sind Fragen, die bleiben und deren Beantwortung weiteres Licht auf das Problem einer nicht-begrifflichen Erkenntnis werfen würde. Wie auch immer, im Wesentlichen geht es darum, dass zwei einander entgegengesetzte Engführungen vermieden werden sollen: Kritik an der epistemischen Untauglichkeit von Metaphern aus logischer und Kritik an der Untauglichkeit von Begriffen aus rhetorischer Sicht. Die Reichweite begrifflicher Erkenntnis demonstriert Gabriel mit Hilfe einer Analyse des Gebrauchs von Zahlwörtern, ihre Grenzen werden an Hand einer Analyse allgemeiner Sätze deutlich, die mit Ausdrücken wie ›alle‹ und ›jeder‹ gebildet werden. Überlegungen zum kollektiven und distributiven Gebrauch von ›alle‹, zum generischen Gebrauch des Artikels im Singular machen deutlich, dass der Unterscheidungsreichtum der Alltagssprache nicht immer mit den Mitteln der Logik eingefangen werden kann. Auch Sprichwörter, die Gabriel als prägnante Sprechakte auffasst (vgl. 81), stellen das Analyseinstrumentarium der Logik vor Herausforderungen.

Um das Verhältnis zwischen Logik und Recht geht es in einem Kapitel zum Justizsyllogismus. Gabriel skizziert zunächst ein subsumtionslogisches Verständnis juristischer Urteile, um dann deutlich zu machen, dass sich die Rolle der Logik für die Rechtsprechung nicht in der Subsumtion erschöpft. Vielmehr gelte es zu verstehen, dass auch die reflektierende Urteilskraft im Rechtsurteil zur Anwendung kommen müsse, denn nur so lassen sich einzelne Fälle in ihrer Besonderheit vergegenwärtigen. Diese sind nicht einfach nur unter ein Allgemeines zu subsumieren, sondern zu ihnen muss ein Allgemeines erst gesucht werden. Die reflektierende Urteilskraft sucht nach dem Allgemeinen, von dem ein einzelner Fall ein Fall ist, und fragt in diesem Sinne danach, welche Rechtssätze überhaupt zur Anwendung zu bringen sind. Folgt man Gabriel, spielt der Justizsyllogismus, der aus einer Rechtsnorm und einer Tatsachenfeststellung auf die Anwendbarkeit einer Rechtsnorm auf einen Fall schließt, für die Entscheidungsfindung deshalb keine Rolle, weil ein Rechtssatz zu einem gegebenen Fall erst gefunden werden muss. Vielmehr geht es um Entscheidungsbegründung. Der Syllogismus im Recht wird als »Wechselspiel zwischen subsumierender und reflektierender Urteilskraft« aufgefasst (120): Ein Sachverhalt wird unter einen Obersatz subsumiert und es wird geschaut, ob der Sachverhalt zum Obersatz passt. Man kann dies so verstehen, dass sich die beiden Verfahren der Urteilskraft wechselseitig korrigieren. Zusätzlich ist zwischen einem Verständnis des Besonderen als schlicht Einzelnem und als Einzelnem, welches exemplarisch über sich hinausweist und auf diese Weise eine Vermittlung mit dem Allgemeinen leistet, zu unterscheiden.

Der reflektierenden Urteilskraft kommt im Recht zudem die Funktion zu, Interpretationsspielräume weiterzuentwickeln, etwa dann, wenn die Rechtsordnung neuen sozialen und gesellschaftlichen Entwicklungen anzupassen ist. Im Rückgriff auf den Umgang mit Präzedenzfällen im amerikanischen Recht kann Gabriel deutlich machen, dass die reflektierende Urteilskraft Fälle als besondere Fälle eines offenen Allgemeinen behandelt, während die subsumierende Urteilskraft den Fall als Fall eines vorgegebenen Allgemeinen betrachtet. Es zeigt sich, dass der pluralistische Erkenntnisbegriff, den Gabriel in allen Kapiteln des Buches verteidigt, auch der Rechtshermeneutik neue Impulse zu geben vermag.

Im gesamten Buch begegnet man immer wieder einem Motiv: Zum einen sollen einseitige wissenschaftliche Verständnisse des Vernunftgebrauchs kritisiert werden, die nur eine oder wenige Erkenntnisformen zulassen, zum anderen soll einer postmodernen Destruktion von Erkenntnis und Wahrheit, die hinter jedem Urteil Macht und Gewalt wittert, der Boden entzogen werden. Diese doppelte Frontstellung zeigt sich auch in einem Kapitel zur Wissenschaftstheorie der Geschichtswissenschaft. Szientistische Verständnisse der Geschichtsschreibung werden ebenso zurückgewiesen wie die panfiktionalistische Auflösung von Wahrheitsansprüchen in der Geschichtsschreibung. In der Perspektive von Gabriel sind szientistische Wissenschaftsgläubigkeit und postmoderner Wahrheitsrelativismus zwei Seiten einer Medaille, mit der man sich nicht schmücken sollte. Gabriel distanziert sich von beiden Strategien, indem er eine Erweiterung des Erkenntnisbegriffs vorschlägt. Ein weiter Erkenntnisbegriff ist dem engen Konzept der Wissenschaften überlegen und macht gleichzeitig die tendenziell wissenschaftsfeindliche Zurückweisung von Wahrheitsansprüchen überflüssig. Die Orientierung an der Wahrheit kann bestehen bleiben, verlangt aber nach Ergänzungen.

Um der Kritik an einem fiktionalistischen Verständnis von Geschichte den Boden zu bereiten, unterscheidet Gabriel zwischen der Geschichte im Sinne der Realgeschichte, der Darstellung dieser Geschichte in Erzählung und Bericht sowie der Geschichtswissenschaft. Ihm geht es primär um die Geschichtswissenschaft (vgl. 131). Dass Historiker auswählen, wenn sie ihr Material präsentieren, dass sie bestimmte Arten von Verbindungen zwischen Ereignissen herstellen und selektiv auf Tatsachen zugreifen, ist kaum zu bestreiten. Auswahl, so macht Gabriel geltend, ist aber etwas Anderes als Konstruktion oder Fingieren. Der entscheidende Unterschied zwischen Dichtung und Geschichtswissenschaft ist darin zu sehen, dass im Fall der Geschichte die Quellen ein ›Vetorecht‹ besitzen (R. Koselleck), mithin also die Wirklichkeit als Einspruchsinstanz gegen bestimmte Darstellungen anerkannt werden muss. Wenn sich ein Historiker fragt, ob eine bestimmte Ereignisfolge so oder so verlaufen ist, muss zumindest unterstellt werden, dass sich seine Überlegungen auf bestimmte Personen oder Sachen beziehen. Anders formuliert: Um sich über Fragen des Soseins streiten zu können, müssen Fragen des Daseins geklärt sein. Gabriel plädiert für einen internen bzw. empirischen Realismus in der Gesichtswissenschaft, der ohne weitergehende metaphysische Annahmen auskommt. Dass Tatsachen nicht einfach als gegeben vorgefunden werden, impliziert nicht, dass es keine Tatsachen gibt. Auch wenn die Präsentation historischer Ereignisse in unterschiedlichen Perspektiven erfolgen kann und mithin als eine Konstitutionsleistung des Historikers anzusehen ist, heißt dies nicht, dass es keine Tatsachen gibt, wie Gabriel am Beispiel des Berliner Mauerfalls deutlich macht, der sich in der Perspektive eines regimetreuen Grenzsoldaten anders darstellt als in der Perspektive eines regimekritischen Montagsdemonstranten (vgl. 149). Diese Perspektiven lassen sich auf die Sichtweisen unterschiedlicher Historiker übertragen. Zu Ereignissen lassen sich unterschiedliche Geschichten erzählen, auch wenn die Tatsachen, von denen die Geschichten handeln, nicht konstruiert sind. Auch wenn das Moment der Darstellung in der Geschichtswissenschaft eine Rolle spielt, auch wenn Geschichtsschreibung von rhetorischen Figuren Gebrauch macht und sich das Interesse an der Geschichte nicht auf die Fakten beschränkt, so gilt es die Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktion aufrecht zu erhalten.

Gabriel wirft die Frage auf, ob die produktive Einbildungskraft nicht auch im Zusammenhang mit der historischen Erkenntnis eine Rolle spielt. Er beantwortet sie durch einen Verweis auf die Zusammenarbeit von subsumierender und reflektierender Urteilskraft, die bereits im Zusammenhang mit seinen Analysen zum Justizsyllogismus zur Sprache gekommen war. Anders als in der Rechtsprechung ist es in der Geschichtswissenschaft allerdings die subsumierende Urteilskraft, der ein zeitlicher Vorrang zukommt. Zunächst werden Tatsachen mit Hilfe der subsumierenden Urteilskraft festgestellt, bevor sie dann mittels der reflektierenden Urteilskraft zusammengestellt werden (vgl. 148). Dass die Einbildungskraft in der Geschichtsschreibung zu bemühen ist, spricht nicht dafür, die Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktion einzuebnen. Im Rückgriff auf seine Überlegungen zur Vergegenwärtigungsleistung der fiktionalen Literatur kann Gabriel die epistemische Relevanz des Darstellungsmoments der Geschichtsschreibung deutlich machen: Historiker bestimmen nicht nur das Einzelne, »sie bedenken dieses auch als Besonderes in seiner möglichen Exemplarität« (150). Anders als ein Schriftsteller erfinden Historiker keine Geschichten oder fiktiven Welten, sie beziehen sich auf die Welt, die allerdings in einer bestimmten Perspektive dargestellt wird, wodurch sich unsere Erkenntnis erweitert.

Bei zwei weiteren Kapiteln des Buches, die sich mit der Ästhetik des Geldes und der Bildersprache der Briefmarke beschäftigen, handelt es sich um kleine philosophische Meisterstücke. Sie stellen unter Beweis, was sich mit Hilfe des Instrumentariums von Gabriel bei der Auseinandersetzung mit Gegenständen machen lässt, die nicht eben häufig einer philosophischen Analyse unterzogen werden. Beim Nachdenken über Geld sind ästhetische Fragen in der Regel nachrangig. Wissenschaftlich ist es Gegenstand der Ökonomie, alltagsweltlich gibt es häufig Anlass zur Sorge. Geld, über welches man bekanntlich nicht spricht, wird zwar immer wieder auch von der Soziologie und Psychologie zum Thema gemacht, aber ist nicht unbedingt ein Kernthema der Philosophie. Über Fachkreise hinaus dürfte es vor allem Simmels Philosophie des Geldes sein, die als geistes- und kulturwissenschaftlicher Beitrag zum Thema eine große Wirkung hatte, indem sie u. a. die psychischen, sozialen und logischen Voraussetzungen analysiert, durch die das Geld seinen Sinn erhält. Gabriels Beitrag widmet sich vorrangig der Gestaltung des Geldes. Seine These lautet, dass der Ästhetik des Geldes die Funktion zukommt, den Glauben an die Solidität des Geldmittels zu fördern und es zeigt sich, dass die Ästhetik des Geldes eng mit ökonomischen und psychologischen Aspekten verzahnt ist. Der Sache nach ist Geld ein konventionelles Zahlungsmittel und es dient als Medium zum Austausch von Waren. Der konventionelle und mediale Charakter des Geldes fordert den Vergleich mit der Sprache geradezu heraus, indem es ebenso wie diese seine Bedeutung durch seinen Gebrauch erhält. Durch einen Vergleich mit dem Universalienstreit im Mittelalter, der die sprachphilosophische Frage betrifft, ob Universalien unabhängig von sprachlichen Zeichen existieren oder ob es lediglich Einzeldinge gibt, kann Gabriel die Rolle des Geldglaubens (›Geldillusion‹) als einen der maßgeblichen Faktoren ermitteln, welche die Geldfunktion stützen. Wie im Streit um Universalien der Konzeptualismus, der zwischen Realismus und Nominalismus zu vermitteln versuchte, indem er davon ausging, dass das Allgemeine weder in der Welt existiert noch auch bloßes Zeichen ist, aber durchaus mental repräsentiert wird, so lässt sich die Funktion des Geldes auf der Grundlage des Glaubens an seinen Wert verstehen, ohne dass es darum eine realistische Größe sein müsste oder ein bloßes Zeichen wäre (vgl. 170).

Eben weil der Glaube, eine psychische Größe, eine so außerordentliche Rolle spielt, ist eine Auseinandersetzung mit der Gestaltung des Geldes angeraten. Dies gilt auch unter der Voraussetzung, dass sich die Funktion des Geldes mehr und mehr von einem physischen Träger ablöst. Der Glaube an und das Vertrauen in das Geld erfordert Rhetorik, weshalb die Gestaltung des Geldes im Zusammenhang mit einer psychologischen Stützung der Geldfunktion von Belang ist. Umso mehr überrascht es, dass sie niemals umfänglich zum Thema gemacht worden ist, was selbst – und einmal mehr zeigt sich, dass Gabriel keine Gelegenheit auslässt, sich von Anhängern des Postmodernismus zu distanzieren – für die häufig an ästhetischen Fragen orientierten Analysen von Vertretern der Postmoderne gelte. Die Gestaltung des Geldes auf symbolischer und materieller Ebene dient in erster Linie ökonomischen Zwecken und muss als vertrauensbildende Maßnahme in Betracht gezogen werden. Schrift, Symbole und Material sind die Gestaltungsmerkmale, denen Gabriel sich zuwendet. Die detaillierte Auseinandersetzung mit den Gestaltungsmerkmalen ist außerordentlich lehrreich. Dies gilt für die Ausführungen zur Symbolik von Ähre und Eiche auf deutschen Münzen ebenso wie für die Bemerkungen zum Gebrauch von Aluminium und Kupfer als Material und zur Frage des ästhetischen Werts des Querstrichs auf der Pfennigmünze.

Wie das Geld, mit dem sie eine Reihe von Eigenschaften teilt, lässt sich auch die Briefmarke zum Gegenstand vielfältiger Überlegungen machen. Ästhetisch sind Briefmarken von Interesse, da sie als »Miniaturdrucke in hoher Auflage« (209) angesehen werden können. Anders als Kunstwerke und wie das Geld lässt sich ihrem Äußeren allerdings nicht mit der Rede von der ›Zweckmäßigkeit ohne Zweck‹ beikommen. Briefmarken sind Quittungen für entrichtete Gebühren und können sogar als Geldersatz fungieren. Sie dienen einem Zweck, sind aber nicht einfach mit gewöhnlichen Gebrauchsgegenständen gleichzusetzen. Ihre Gestaltung ist darum nicht einfach nur Design im Sinne der anhängenden Schönheit (Kant) eines Gegenstandes, der einen bestimmten Zweck oder eine bestimmte Funktion erfüllt und immer auch darauf bezogen seine konkrete Gestalt erhält. Eine exemplarische Analyse zur politischen Bildersprache der Briefmarke legt Gabriel anhand eines Vergleichs von Abbildungen des Brandenburger Tors auf Briefmarken aus der BRD, West-Berlin und der DDR vor.

Das letzte Kapitel des Buches wirft noch einmal Fragen der Methode auf, die im Zusammenhang mit den verschiedenen Einzelanalysen zwar im Hintergrund standen, aber nicht immer explizit gemacht wurden. Es geht ganz grundsätzlich um das Verhältnis zwischen Philosophie und Rhetorik. Die Rhetorik betrifft in erster Linie Darstellungsfragen und Gabriel zufolge lassen sich diese in deskriptiver wie auch normativer Hinsicht diskutieren. Man kann fragen, welche Darstellungsformen faktisch verwendet wurden und werden, man kann auch fragen, welche Darstellungsformen angemessen sind. Wer über Darstellungsfragen nachdenkt, setzt sich immer auch in ein Verhältnis zur Sprache und gedanklicher Gehalt lässt sich niemals unabhängig von sprachlicher Form bestimmen, was aber nicht heißt, dass die sprachliche Form den Inhalt zur Gänze bestimmt. Dass die Form den Inhalt beeinflusst bedeutet nicht, dass allein Formgesichtspunkte relevant wären und beispielsweise die Wahrheitsfrage keine Rolle mehr spielen würde. Dass Philosophie und Dichtung eng miteinander verzahnt sein können, zeigt Gabriel mit Hilfe einer Interpretation zu Descartes Meditationen, in denen sich vielfältige literarische, ja sogar fiktionale Elemente finden, ohne dass dies der argumentativen Reichweite des Textes schaden würde. Einmal mehr kann Gabriel deutlich machen, dass die Vergegenwärtigung exemplarischer Situationen relevant ist und durchaus auch im primär argumentativ ausgerichteten Sprachspiel der Philosophie einen Platz hat.

Auch wenn das Buch nicht alle der in ihm aufgeworfenen Fragen vollumfänglich beantwortet – noch einmal sei auf die Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Begriff verwiesen – so ist doch ein überaus lesenswerter Band entstanden, dessen Kapitel die Relevanz rhetorischer, ästhetischer und literarischer Erkenntnisformen auf vielfältige Weise beleuchten und deutlich machen, dass ein Alleinvertretungsanspruch von Logik und Wissenschaft bezogen auf Erkenntnisfragen nicht begründet werden kann. Auch wenn im Grenzgebiet von Ästhetik und Erkenntnistheorie noch viel Arbeit wartet, zeigen die Überlegungen Gabriels, in welche Richtung zu gehen ist, sollen wissenschaftsgläubige Engstirnigkeit und postmoderner Relativismus überwunden werden. Die Vielfalt der Erkenntnis gilt es anzuerkennen statt einfältig auf nur eine Erkenntnisform zu setzen oder Wahrheitsansprüche vollständig über Bord zu werfen. In einer literaturtheoretischen Perspektive dürften vor allem die Überlegungen zum Erkenntniswert der Dichtung als fiktionaler Literatur, zu literarischen Darstellungsformen in der Philosophie, zu Sprichwörtern, aber auch zum Panfiktionalismus in der Geschichtswissenschaft von besonderem Interesse sein.

Anmerkungen

[1] Es sind dies: Robert Audi, Epistemology – A Contemporary Introduction to the Theory of Knowledge, London/New York 22003; Peter Baumann, Erkenntnistheorie: Lehrbuch Philosophie, Stuttgart 2006; Gerhard Ernst, Einführung in die Erkenntnistheorie, Darmstadt 2009; Thomas Grundmann, Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie, Berlin 2008; Linda Zagzebski, On Epistemology, Wadsworth 2009. [zurück]

[2] Gottfried Gabriel, Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Von Descartes zu Wittgenstein, Paderborn u.a. 1993; ders., Erkenntnis, Berlin/Boston 2015. [zurück]

2020-04-01

JLTonline ISSN 1862-8990

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