Michael Buhl

»Strukturalismus, heute« – Strukturalismus, gestern?

Eine Bestandsaufnahme zum gegenwärtigen Stand der strukturalistischen Tradition

Martin Endres/Leonhard Herrmann (Hg.), Strukturalismus, heute. Brüche, Spuren, Kontinuitäten. Stuttgart: J. B. Metzler 2018. 300 S. [Preis: EUR 49,99]. ISBN: 978-3-4760-4550-8.

Zu Recht kann man die Frage stellen, ob es 2018 einen Band mit dem Wort ›Strukturalismus‹ im Titel braucht. Schließlich wurde das Thema oft genug diskutiert, kritisiert, für obsolet befunden oder gleich jegliche Theorie als solche abgelehnt. Vor allem ist das theoretische Fundament, auf dem strukturale Ansätze beruhen, relativ alt. Doch »Strukturalismus, heute. Brüche, Spuren, Kontinuitäten« verfolgt einen interessanten Ansatz, der einen guten Einblick auf die gegenwärtige Situation erlaubt.

Als Geburtsstunde des Strukturalismus wird gerne auf Ferdinand de Saussures Cours de linguistique générale verwiesen, einer Vortragsreihe, die 1907 bis 1911 an der Universität Genf gehalten und 1916 posthum veröffentlicht wurde. Bezeichnend ist die Unterteilung in Sprache und Rede, in ›langue‹ und ›parole‹, die heute innerhalb der Sprach- und Literaturwissenschaften als Gemeinplatz gilt. Über Maurice Merleau-Ponty in den 1950er Jahren entwickelt sich schließlich in den 1960ern etwas, das als strukturale Literaturwissenschaft bezeichnet werden kann, mit Beiträgern wie Roland Barthes, Greimas, Umberto Eco, Tzvetan Todorov und Gérard Genette. Parallel entwickelt sich in Gestalt des russischen Formalismus und Vladimir Propps ein osteuropäischer Strukturalismus, dessen bekanntester Vertreter der später in die USA emigrierte Roman Jakobson ist. Schließlich erfolgt in den 1970er Jahren eine systematische Ausarbeitung, beispielsweise durch Genettes Erzähltheorie, oder durch Jurij Lotman oder Michael Titzmann.

Die Unterscheidung in Oberflächen- und Tiefenstruktur, durch die sich strukturalistische Zugangsweisen auszeichnen, erlaubt das Aufzeigen von Strukturen, wie sie in dem System, das durch den Text konstituiert wird, zu finden sind und im Wesentlichen aus verschiedenen Oppositionspaaren bestehen. Diese Fokussierung auf den Text und die Welt, die durch ihn geschaffen wird, erfordert eine klare Trennung von ›discours‹, der Art und Weise, wie die Information vermittelt wird, und der ›histoire‹, der Ereignisfolge und sämtlicher Relationen und Regeln, die innerhalb der Welt gültig sind. Im Zentrum stehen also weder der Autor noch die Leserin oder eine politische Anschauung, sondern der Text selbst und die durch ihn erschaffene Welt. Ähnlich, wie Saussures ›Cours‹ von einer Arbitrarität der Zeichen ausgeht, deren Bedeutung sich durch Relation mit anderen Zeichen ergibt, vertreten strukturale Ansätze die These, dass Elemente ihre Bedeutung durch Beziehung mit anderen Elementen erhalten, seien das nun Wörter oder Figuren und Orte in einem Roman.

Inwieweit Autoren wie Deleuze, Foucault oder Derrida dem Strukturalismus zugeordnet werden können, vielleicht unter dem Titel ›Neostrukturalismus‹, oder unter dem Label ›Poststrukturalismus‹ als reine Kritik und Abgrenzung betrachtet werden sollten, ist Gegenstand zahlreicher Diskussionen. Sicherlich ist eine Beziehung nicht zu leugnen, ergeben sich schließlich viele der aufgeworfenen Fragen und angesprochenen Probleme ziemlich deutlich aus dem gemeinsamen theoretischen Fundament. »Strukturalismus, heute« jedenfalls versammelt Beiträge verschiedener Autorinnen und Autoren aus den Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften, auch solche, die sich mit poststrukturalistischen Denkern befassen.

Der Ansatz, den Martin Endres und Leonhard Herrmann mit dem Band verfolgen, beruht auf der Annahme, dass das heutige Selbstverständnis strukturalistischer Theorien und Methoden nicht eins zu eins gleichzusetzen ist mit dem, was man in den 1960er bis in die frühen 1990er Jahren damit bezeichnete. »Die Frage ist heute, inwieweit der je eigene Ansatz [...] von jenen Grundannahmen geprägt ist, die in der Vergangenheit den Namen ›Strukturalismus‹ erhielten, und welche davon auf Basis neuerer Theorieansätze und Erkenntnisse nicht mehr geteilt werden« (1). Die Beiträgerinnen und Beiträger sind also dazu aufgefordert, ihren Standpunkt aus Sicht der Germanistik, Komparatistik, der Philosophie oder Medienwissenschaft zu vermitteln. Aus diesem Pluralismus der Stimmen soll sich dann, so die Hoffnung der Herausgeber, ein Bild des gegenwärtigen Strukturalismus ergeben. Der Bezug zu älteren Theorieansätzen ist dabei durch »Brüche, Spuren, Kontinuitäten« geprägt, also einer Mischung aus Abgrenzung, Aneignung und bewusster oder unbewusster Bezugnahme.

Die ersten drei Beiträge befassen sich mit der Geschichte des Strukturalismus und seiner Vorläufer. Ludwig Jäger wirft zunächst einen Blick auf die Entstehung des ›Cours‹, der nicht von Saussure verfasst wurde, sondern von seinen Kollegen Bally und Sechehaye, die beide die Vorlesungen nie besucht und sich gegen den Widerstand von Saussures Schülern durchgesetzt haben. Jäger zeigt in seinem Beitrag, dass Saussure keineswegs eine »theoretische Reduktion der Sprache auf eine ›Sprache an und für sich selbst‹ und eine hiermit verbundene Tilgung ihrer historisch-diskursiven Dimension« (21) beabsichtigte. Das ist immerhin einer der Hauptkritikpunkte am Strukturalismus. Auch die Tendenz zu starken Dichotomien und die dyadische Struktur des Zeichenkonzepts beruht wohl eher auf einem Missverständnis. Vielmehr beschäftigt Saussure das Problem der Identität, die sich aus der Zeichenverwendung der Sprachteilnehmer ergibt. Nichtsdestotrotz ist der ›Cours‹ das wohl am meisten zitierte linguistische Werk des 20. Jahrhunderts. Das gilt auch für die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes, in dem quasi ausnahmslos auf ihn verwiesen wird.

Christian Benne untersucht eine frühere Arbeit Saussures, die heute quasi unbekannt ist, aber seine akademische Laufbahn begründete. Hiervon ausgehend wirft er einen Blick auf die Rolle der Indogermanistik auf die Sprachtheorie und die Entstehung des Strukturalismus. Neben Schlegel, Grimm und Hamann streicht er vor allem die Rolle Franz Bopps heraus, dessen zentrale Schrift 1816, also genau hundert Jahre vor dem ›Cours‹, veröffentlicht wurde.

Michael Scheffel beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Strukturalismus und Narratologie, einer Teildisziplin der Literaturwissenschaft, in der sich strukturalistische Zugangsweisen zweifellos durchgesetzt haben. Scheffel betont jedoch, dass es eine homogene ›klassische‹ Erzähltheorie nicht gibt, sondern, dass zwar die Zielsetzung des Strukturalismus und Formalismus gleich ist, nämlich einen systematischen Zugang zu den Erscheinungsformen des Erzählens zu ermöglichen, die verschiedenen Herangehensweisen sich jedoch teils deutlich unterscheiden. Scheffel zeichnet die Entwicklungslinien nach, von Vladimir Propps »Morphologie des Märchens« von 1928 über Vertreter des russischen Formalismus und des Prager Strukturalismus, bis hin zu Jurij Lotman mit seiner bedeutenden Raumtheorie. Von Stanzel geht es zu Pfisters »Das Drama« von 1977 und weiter zum französischen Strukturalismus, mit Greimas, Barthes und Todorov auf der einen, und Gérard Genette auf der anderen Seite, an dem bis heute kein Weg in der Erzähltheorie vorbeiführt. Schließlich erwähnt er zahlreiche aktuelle Lehrbücher, die in dieser Traditionslinie stehen, wie Martínez/Scheffel (1999ff.) oder »Elemente der Narratologie« (2005ff.) von Wolf Schmid. Sehr erfreulich ist, dass Scheffel die Anschlussfähigkeit der Ansätze an Methoden der Digital Humanities betont, leider jedoch ohne die Implikationen näher zu beleuchten.

Eine Frage, die bis hier überhaupt nicht aufgeworfen wurde, ist die, welche Bedeutung Saussure heute über seine historische Relevanz hinaus überhaupt hat, egal ob nun der ›Cours‹ oder der ›echte‹ Saussure. Dass eine Literaturwissenschaft, so sie denn Wissenschaft sein möchte, einer Interpretations- und Bedeutungstheorie bedarf, sowie über eine die natürlichen Sprachen umfassende Zeichentheorie verfügen muss, sollte offensichtlich sein. Welche Zugänge man aber konkret wählt, dürfte grundsätzlich flexibel sein, abhängig von Erkenntnisinteresse und Untersuchungsgegenstand. Oder bedeutet ›Strukturalismus‹ automatisch ›in der Nachfolge Saussures‹? Zumindest die Beiträge, die sich mit der Geschichte des Strukturalismus beschäftigen, lassen diese Vermutung zu, obwohl sie den Status Saussures gleichzeitig problematisieren.

Die zweite Gruppe an Beiträgen beschäftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen Strukturalismus und verschiedenen Einzeldisziplinen. Alexander Becker kontrastiert Strukturalismus (Saussure) mit Ansätzen aus der analytischen Sprachphilosophie, deren Ursprünge etwa zur gleichen Zeit liegen, mit Gottlob Frege als einem der ersten und Ludwig Wittgenstein als einem der wichtigsten Vertreter. Die beiden Schulen haben aber kaum voneinander Notiz genommen und ignorieren sich gegenseitig bis heute fast vollständig. Becker gibt einige zentrale Punkte der analytischen Philosophie wieder und weist vor allem auf den Zusammenhang von Bedeutung und Struktur in sprachlichen Äußerungen hin sowie auf die Unhintergehbarkeit von Sprache in unserer Bezugnahme auf die Welt. Schließlich spricht er sich gegen einen Fundamentalismus aus und argumentiert dafür, dass der Zugang zur Welt immer nur durch einen strukturierenden Zugriff möglich ist, der permanent neu aktualisiert werden muss.

Jan-Oliver Decker beschäftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen Strukturalismus und Mediensemiotik. Als gemeinsamer theoretischer Pfeiler gilt ihm das Kommunikationsmodell von Roman Jakobson sowie ein weiter Textbegriff, wie er etwa von Michael Titzmann verwendet wird. Von letzterem übernimmt er auch die Forderung nach intersubjektivem Nachvollzug und nach Wissenschaftlichkeit im Sinne Karl Poppers. Strukturalismus im Sinne Titzmanns beschreibt er als Ansatz, »der seine Gegenstände als semiotische Systeme denkt und durch eine bestimmte Menge methodologischer Praktiken gekennzeichnet ist« (82). Genauer, in Anlehnung an Lotman, handelt es sich um sekundäre, semiotische, modellbildende Systeme und damit immer um Produkte ihrer Entstehungskultur. Letztlich kann durch die Analyse medialer Produkte also ein kultureller Wandel aufgezeigt werden, indem das dort enthaltene kulturelle Wissen beschrieben und erklärt wird. In diesem Zusammenhang greift er auf das Konzept der Semiosphäre von Lotman zurück.

Marianne Wünsche grenzt in ihrem Beitrag die Begriffe Strukturalismus, Literaturwissenschaft, Medienwissenschaft und Kulturwissenschaft voneinander ab. Sie weist vor allem auf die Nähe von Strukturalismus und Semiotik hin, sowie auf dessen Fähigkeit, Einzeltexte im Kontext eines Korpus zu verorten. Nicht fehlen darf natürlich der Hinweis, dass eine Hermeneutik im Sinne Diltheys oder Gadamers als Interpretationstheorie unzureichend ist. Strukturalismus versteht sie von Anfang an als über die Disziplingrenzen hinausgehenden Ansatz, der entsprechend bereits medien- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen integriert, auch wenn Wünsch für die Einhaltung bestehender Disziplingrenzen plädiert.

Nacim Ghanbari wendet sich der Arbitrarität des Zeichens zu und damit auch dem Verhältnis von Strukturalismus (Saussure) und Poststrukturalismus (Derrida). Insbesondere nimmt sie den zeitweiligen Trend in den Fokus, sich auf Praktiken zu konzentrieren, was besonders im angloamerikanischen Raum mit ›doing XY‹ umschrieben wurde (›doing gender‹, ›doing culture‹, etc.). Dies hat nach Ghanbari zur Folge, dass in jüngeren kulturwissenschaftlichen Ansätzen das linguistische Erbe unerwähnt bleibt, es gar zu einer »Austreibung der Sprachwissenschaft aus den Kulturwissenschaften« (115) komme.

Auch in dieser zweiten Gruppe von Beiträgen spielt Saussure, vermutlich der Saussure des ›Cours‹, die zentrale Rolle. Auch wenn seine Theorie durchaus Stärken hat, ist sie nicht umsonst von vielen Seiten kritisiert worden. Warum ausgerechnet eine auf der Sprachanalyse fußende Theorie besonders gut geeignet ist, nichtsprachliche oder nur partiell sprachliche Gegenstände wie Bild, Film, Oper, Videospiel oder eben Praktiken und ›Kultur‹ zu untersuchen, bleibt praktisch unerwähnt.

Ralf Simon beschäftigt sich mit Jakobsons poetischer Sprachfunktion und zeigt sehr schön, dass eine nicht geringe Zahl an Interpreten Jakobsons Formulierung missverstanden haben. Er führt das darauf zurück, dass der osteuropäische Strukturalismus durch den westlich geprägten »Saussure-Strukturalismus« (123) fehlinterpretiert wurde; dass Jakobson fälscherweise dem Strukturalismus zugeordnet wird, obgleich er dem »epistemologisch offener[en]« (S. 124) Formalismus zugerechnet werden müsse; und schließlich, dass Jakobsons Theorie eher in den Bereich der Rhetorik fiele. Abschließend grenzt er Narratologie und eine Theorie der Poetizität voneinander ab.

Karlheinz Stierle fragt nach der Aktualität einer strukturalen Literaturwissenschaft. Nach einem Überblick über die Geschichte der Disziplin plädiert er für eine »struktural-hermeneutische Literaturwissenschaft« (S. 144), die sich »sowohl aus der Vormundschaft der Linguistik wie auch der Vormundschaft der Philosophie« (ebd.) befreien müsse. Strukturalismus dient dazu, den metaphysischen Ballast der Hermeneutik abzulegen, während die Hermeneutik wiederum den Strukturalismus »aus ihrer dogmatischen Enge lösen« (ebd.) solle.

Monika Schmitz-Emans beschäftigt sich mit einer Poetik des Sammelns, wobei sie gesammelte Dinge als eine Art Sprache versteht, oder mit Mieke Bal als »strukturalistisch-narratologisch beschreibbare Erzählungen« (S. 151). An verschiedenen Beispielen macht sie die Ähnlichkeit zwischen Erzählung und Sammlung deutlich.

Der Beitrag von Jake Fraser handelt von Lévi-Strauss, Luhmann und der dem Strukturalismus gerne abgesprochenen Diachronizität. Vor allem greift er ganz explizit die Frage des Sammelbandes nach der Rolle des Strukturalismus heute auf. Um seine Rolle zu beschreiben, greift er auf das Konzept des Bricoleur zurück, der, anders als der Ingenieur, nichts genuin Neues schafft, sondern aus vorhandenen Fragmenten etwas zusammensetzt. Eine ähnliche Rolle sieht er für einen neuen Strukturalismus.

Für Nicole A. Sütterlin ist der Autor nicht tot, sondern untot, was sie anhand von Erzählungen aus den 1990er Jahren zu belegen versucht. Dabei zeigt sie, wie sich die Form literarischer Texte durch die Rezeption poststrukturalistischer Theorien verändert. Sie argumentiert dafür, dass das Ich als »Subjekt der Liebe« (207) zurückkehrt.

Andreas Ohme macht sich für einen wissenschaftlichen Zugang zur Literatur stark, was eine klare Spezifikation des Untersuchungsgegenstandes voraussetzt. Erst dem literaturwissenschaftlichen Strukturalismus sei dies gelungen, nachdem Positivismus und russischer Formalismus gescheitert sind. Den Poststrukturalismus sieht er in dieser Beziehung mit Wolf Schmid als Rückschritt. Es folgt eine Kritik des ›Ethical Criticism‹.

Hannah Vandegrift Eldridge hebt in ihrem Beitrag die Bedeutung der Wissenschaftlichkeit der Literaturwissenschaft hervor, die sie als grundlegendes Unterscheidungsmerkmal etwa zwi schen Strukturalismus und Hermeneutik oder zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus identifiziert. Sie gibt anschließend Einblicke in kognitive, neurologische und andere empirische Untersuchungen zum Thema Metrik und untersucht Werke Durs Grünbeins.

Daniel Carranza beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Theorie der Metapher, die auch in strukturalistischer Sicht eine zentrale Rolle einnimmt. Er untersucht Ansätze von Jakobson, Musil und Rilke und entwickelt das Konzept der ›metaphorischen Oszillation‹. Hiermit beschreibt er die Gleichzeitigkeit von miteinander konkurrierenden Deutungsangeboten in literarischen Texten.

Benjamin Specht stellt die Frage, »wie sich Erzählelemente im Text, durch ihn selbst gesteuert, zu einer übergreifenden uneigentlichen Gesamtbedeutung verknüpfen« (273), was er anhand der Erzählung vom verlorenen Sohn aus dem Lukasevangelium illustriert. Dabei versteht er den gesamten Text als ein komplexes Zeichen, was eher an Charles Peirce erinnert als an Saussure, auch wenn Specht jenen nicht erwähnt. Er unterscheidet vier verschiedene Strukturtypen literarischer Texte: den Vergleich zwischen Geschichte und abstraktem Konzept, die Allegorie, eine parabolische Bedeutung und Vieldeutigkeit.

Insgesamt lassen sich zwei Erkenntnisse aus dem Sammelband ziehen. Zum einen, dass es auch heute nicht ›den‹ Strukturalismus gibt, sondern ein ziemlich fröhliches Durcheinander: Zwischen Strukturalismus und Formalismus, zwischen osteuropäischem Strukturalismus und › Saussure-Strukturalismus‹, zwischen dem Saussure aus dem ›Cours‹ und dem ›echten‹ Saussure, zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus, zwischen einer Art disziplinübergreifenden Panstrukturalismus und engeren Auslegungen, zwischen einer rigorosen Ablehnung der Hermeneutik und einem Plädoyer für einen struktural-hermeneutischen Ansatz, usw.

Zum anderen zeigt sich eine starke Rückwärtsgewandtheit. Vielleicht ist Saussure eine gute theoretische Basis. Eine weitgehend unkritische Übernahme ohne die ernsthafte Diskussion anderer Interpretations-, Bedeutungs- und Zeichentheorien wird das jedoch nicht zutage fördern. Vor allem scheint sich die Theorie seit den 1970er Jahren kaum weiterentwickelt zu haben. Besonders schade ist das fast vollständige Fehlen eines Ausblicks in die Zukunft. Von einem Nebensatz bei Scheffel abgesehen wird die zwar schon lange angekündigte, aber mittlerweile in Form von Alexa und Siri in unseren Wohnzimmern angekommene Entwicklung hin zu einer computergestützten Analyse komplexer Texte nicht angesprochen. Dabei wären gerade strukturalistische Ansätze eine hervorragende Basis, um die Literatur- und Medienwissenschaften um Möglichkeiten des text mining oder natural language processing, des topic modeling oder wie die aktuellen buzzwords heißen mögen, zu erweitern. Ein Blick in The Bestseller Code von Archer/Jockers, das 2016 erschienen ist, also im gleichen Jahr wie die dem Sammelband vorausgegangene Tagung, sollte strukturalistische Herzen eigentlich höherschlagen lassen, auch wenn es aus wissenschaftlicher Sicht sicherlich irrelevant ist. Der Erfolg in der Narratologie zeigt ja eigentlich sehr schön, dass im Strukturalismus sehr erklärungsmächtige Werkzeuge zur Verfügung gestellt wurden. Hier sollte ein Brückenschlag auch zu stärker quantitativ arbeitenden Disziplinen problemlos möglich sein.

Insgesamt löst »Strukturalismus, heute« sein Versprechen jedoch ein. Ziel war es ja, einen Überblick über die gegenwärtige Situation des Strukturalismus zu geben und anhand von Beispielen zu illustrieren. Die Anzahl und das Spektrum der Beiträge zeigt deutlich, dass einiges an Leben darin steckt. Gerade, wenn man Literaturwissenschaft als Wissenschaft betreiben möchte, ist hier, innerhalb des methodenpluralistischen Potpourri der Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften, großes Potential verborgen. Und vielleicht, so wäre zu hoffen, lautet der Titel des nächsten Bandes ja, mit Hinblick auf die interdisziplinäre Anschlussfähigkeit, »Strukturalismus, morgen«...?

2020-03-08

JLTonline ISSN 1862-8990

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