Anna Bers

Siebzehn kritische ›Erkundungen‹ von D wie différance bis zu

T wie Third Space und von Kleist bis zu Jelinek

Anna Babka, Postcolonial-queer. Erkundungen in Theorie und Literatur. Wien/Berlin: Turia + Kant 2019. 304 S. [Preis: EUR 36,00]. ISBN: 978-3-85132-928-5.

1. Gegenstandsbereich und Struktur

Der vorliegende Band verfolgt zwei Ziele und ist entsprechend in zwei Teile gegliedert. Erstens sollen die titelgebenden Konzepte ›queer‹ und ›postkolonial‹ theoretisch erfasst und zweitens praktisch appliziert werden.

Die ersten gut hundert Seiten der vorliegenden Erkundungen, so der Untertitel, sind verschiedenen Grundbegriffen und wirkmächtigen Argumenten aus der Queer- und aus der Postcolonial-Theorie gewidmet. Die theoretische Annäherung erfolgt nicht über diachron geordnete begriffsgeschichtliche Darstellungen oder definitorische Bemühungen, sondern anhand zentraler »Denkräume« und »Denkfiguren«. Was ›queer‹ bedeutet, zeigt sich also anhand charakteristischer Argumente und Metaphoriken von Judith Butler oder Bettine Menke; und was ›postkolonial‹ sei, erschließt sich über ausgewählte Zugänge von Gayatri C. Spivak, Homi K. Bhabha und Trinh T. Minh-ha. Schnittmengen zwischen queer-/gendertheoretischen und postkolonialen Ansätzen sind einigen der genannten poststrukturalistischen Ansätze – insbesondere den übergeordneten Impulsen Jacques Derridas – inhärent und werden überdies in der »Hinführung« und im den ersten Teil des Bandes beschließenden Kapitel »Denkbar« skizziert.

Die dieserart fundierte theoretische Basis wird im zweiten Teil auf 160 Seiten in zehn einzelne Textanalysen überführt. Die Gegenstände des Bandes reichen historisch von Heinrich von Kleist bis zu Elfriede Jelinek, inhaltlich von populären Romanen Karl Mays bis zu avantgardistischen Experimenten Else Lasker-Schülers. Babka untersucht überwiegend (fiktionale) Erzähltexte; aber auch das essayistische Gespräch Über das Marionettentheater und dramatische Texte von Jelinek werden analysiert. Dem Schaffen von Josef Winkler und Barbara Frischmuth werden nicht nur ein, sondern je zwei Kapitel gewidmet. Sieben der zehn Analysen befassen sich mit österreichischen Literat*innen. Insgesamt wurden drei Autorinnen und fünf Autoren ausgewählt. Auf diese Weise entsteht ein gewisser Schwerpunkt: Erzähltexte, Österreich, Autoren und die Gegenwart sind etwas stärker repräsentiert als etwa Dramen, andere deutschsprachige Literaturen, Autorinnen und das neunzehnte und frühe zwanzigste Jahrhundert.

In der Summe aus Theorie- und Praxisteil versammelt der Band siebzehn eigenständige Aufsätze der Verfasserin aus zehn Jahren, die »leicht bis grundlegend überarbeitet, aktualisiert und neu kontextualisiert« (301) wurden. Der diskontinuierliche Entstehungsprozess und die ursprünglich sehr unterschiedlichen Adressierungen (autor*innenzentrierte Sammelbände, Handbuchartikel, Zeitschriftenbeiträge, Unveröffentlichtes) sorgen trotz der Überarbeitung für eine deutliche Heterogenität der Bestandteile. Diese Tatsache hat für die Zugänglichkeit des Textes naheliegende negative wie auch positive Konsequenzen: Bisweilen erscheint es, als seien die Prämissen der Analysen nicht aus einem Guss. Mal erscheint ›sex‹ beinahe als biologische Kategorie (vgl. 166), mal – mit Butler – als ebenso diskursive Kategorie wie ihr Gegenstück ›gender‹ (vgl. 37 u. 166). Mal werden Zugänge über weibliche Differenzparadigmen (»écriture féminine«, 228, Hervorhebung im Original) gewählt, gleichzeitig und andernorts jedoch überwiegend queertheoretische. Analytische Tiefe und Breite variieren stark: Die Untersuchung von Else Lasker-Schülers Der Prinz von Theben. Ein Geschichtenbuch (1914) umfasst knapp neun Seiten und lässt etwa formale Aspekte gezielt außer Acht (vgl. 165). Heinrich von Kleists Über das Marionettentheater wird auf 25 und Semier Insayifs Roman Faruq auf 29 Seiten diskutiert. Die Varianz der stilistischen Niveaus reicht von biographisch motivierten Essays (»Wunderbar, dachte ich, ein guter Beginn, das [post-]imperiale Narrativ, Balkanismen zum Frühstück«, 134) bis zum Anspruch einer textorientierten Einzelstudie, die das Konzept der »postkolonial-queeren Lektüre« (172) erproben soll. Andererseits erlaubt der additive Charakter des Bandes es, sich an beinahe jeder beliebigen Stelle mit einem Kapitel zu befassen und eine geschlossene Analyse vor dem Hintergrund der übergreifenden Prämissen postkolonial- und queertheoretischer Konzepte zu rezipieren. Gegenüber den ursprünglichen, verstreut publizierten Beiträgen ergibt sich so auch die Möglichkeit, die analytische Perspektive zunächst an bereits bekannten Gegenständen kennenzulernen, um sie sodann in der Applikation auf Entfernteres zu beurteilen.

2. Termini und Konzepte

Sowohl der Terminus ›queer‹ als auch der Begriff ›postkolonial‹ ist notorisch vieldeutig. Die vorliegende Untersuchung verfolgt nicht den Anspruch, begrifflich zu sortieren, sondern nutzt überwiegend das Potenzial dieser Termini, sowohl deskriptiv als auch normativ verwendbar, sowohl Gegenstandseigenschaft als auch Beschreibungsmodus zu sein, um durch die Transgression dieser Grenzen ein kritisches Potenzial in die Analysen zu überführen: Die Begriffe seien »theoretische[r] Kristallisationspunkt und zugleich […] Ort der Entfaltung und transdisziplinären Perspektivierung« (11). Im Folgenden werden verschiedene Beispiele dafür angeführt, was die Termini ›queer‹ und ›postkolonial‹ bedeuten können und wie Babka mit dieser Vieldeutigkeit verfährt. Vorab sei angedeutet: Jede der möglichen Verwendungsweisen sowohl von ›queer‹ als auch von ›(post‑)kolonial‹ findet eine Entsprechung im Band. Eine terminologische Differenzierung aus heuristischen Gründen, wie sie hier vorgeschlagen wird, wird von Babka eher nicht angestrebt.

2.1 Queer

›Queer‹ kann erstens (1.) eine Subjekteigenschaft literarischer oder realer Personen sein (vgl. 18). Zweitens ist ›queer‹, genauer ›queer reading‹, ein dekonstruktiv-analytischer Zugang (2.), also eine Methode, und drittens ein Modus politischer Kritik an sozialen Gegebenheiten (3., und so nicht trennscharf von der Methode zu unterscheiden, vgl. »Kulturanalyse als Kulturkritik«, 13, Hervorhebung im Original).

Was ›queere‹ Subjekte (1.) sind, ist ebenfalls mehrdeutig: ›Queer‹ kann die Geschlechts-Eigenschaft einer Person sein (1.1 gender-queer) und meint dann jede Geschlechts-Performance, die die historisch wirkmächtigen binären Konzepte (Mann vs. Frau) unterläuft. Wenn ›queer‹ als Begehrens-Eigenschaft verstanden wird (1.2 queer desire), dann verweist dies auf Performances, die eine relationale Dimension zwischen Subjekt und Objekt beschreiben: Das Subjekt begehrt außerhalb oder performt Praktiken jenseits normativer Ordnungen wie ›Heterosexualität‹. Queere gender- und desire-Performances hängen untrennbar zusammen, weil die entsprechenden Normen miteinander verkoppelt sind (Heterosexualität ist das Begehren eines Mannes gegenüber einer Frau und umgekehrt), sie sind jedoch nicht dasselbe. Der vorliegende Band verunklart diese beiden Nachbarkonzepte gezielt, indem er unter ›queer‹ möglichst viele deviante Subjektperformances subsummiert, auch solche, die weder mit gender noch mit desire notwendig verbunden, sondern vielmehr partikular verschränkt sind (vgl. 19, 39). Diese Vermischung ähnlicher, aber keineswegs gleicher Konzepte geschieht im vorliegenden Band unter vorgeblich intersektionalen Vorzeichen. Offen bleibt jedoch, wie man kritisch die Spezifika einzelner intersektional verbundener Machtphänomene zeigen will, wenn man dieserart generalisiert: Bedeutet es etwas anderes, ein queer begehrender Mann in kolonialen Zusammenhängen zu sein als ein heterosexuell begehrender? Muss z.B. die koloniale Fetischisierung eines Gegenübers anders verhandelt werden, wenn ein Mann einen anderen Mann begehrt, als wenn ein Mann eine kolonisierte Frau zum Objekt degradiert (vgl. die Thesen zu Erzählungen Josef Winklers im Band)? Und wenn ja, wie will man diese Unterschiede zeigen, wenn der extrem weite Begriff von ›queer‹ zuvor alle Differenzen nivelliert?

Eine wichtige praktische Ambivalenz besteht auch in Bezug auf ›queer‹ als Methode der Textanalyse (2.) und/oder Modus der Kritik (3.). Ist ›queer reading‹ eine dekonstruktive Praxis mit universellem Anspruch, dann muss sie auf jeden Gegenstand anwendbar sein und entfaltet automatisch ein kritisches Potenzial, insbesondere aber dort, wo sie Unsichtbares hervorkehrt. In diesem Sinne geht es der Methode gerade nicht darum, was ein Text wirklich bedeutet, sondern darum, wie man in kritischer Absicht mit ihm verfährt. Namen für solche Verfahrensweisen sind: ›Re-Lektüre‹ (vgl. 16), ›Rekonstruktion‹ (vgl. 17), ›Weiterschreiben‹ (vgl. 98), »écriture« (99, Hervorhebung im Original) u.v.a.m. Wenn hingegen ›queer reading‹ nur dort verfängt, wo (reale oder fiktive) queere Subjekte (1.) sich als solche artikulieren, dann kann sie deskriptiv bleiben und muss sich zugleich an den konkreten historischen und kulturellen Diskursrahmen messen lassen.

Zu diesen beiden Prämissen (man könnte sagen, einer hermeneutischen gegenüber einer dekonstruktivistischen, vgl. dazu auch 16) verhält sich die Sammlung in der Summe ambivalent. Das gilt sowohl für das Konzept ›queer‹ als auch für ›postkolonial‹ und die mögliche Kombination beider Konzepte: Auf der einen Seite kann Babka mit offenem Ausgang danach fragen, ob angesichts eines bestimmten Gegenstandes eine postkoloniale/queere Lektüre überhaupt möglich ist: »Die grundlegende Frage wird sein, ob und wenn ja wie der Text postkolonial und auch queertheoretisch gelesen werden kann.« (164, Hervorhebung im Original) Hier zeigt sich also einerseits als Prämisse im Hintergrund: Potenziell kann es Gegenstände geben, die tatsächlich keinen postkolonialen/queeren Bedeutungshorizont besitzen. Andererseits ist es ein dezidierter Anspruch von postkolonialen/queeren Lektüren, in jedem Gegenstand im Vollzug der Lektüre entsprechende Perspektiven zu eröffnen. Vor dem Hintergrund dieser Prämisse gäbe es keine Texte, die sich nicht postkolonial/queer lesen ließen. Das Aufzeigen von Unsichtbarem wäre dann keine notwendige Unmöglichkeit, sondern das adäquate methodische Pendant zu den vorgängigen machtvollen Mechanismen des Unsichtbarmachens.

2.2 Postkolonial

Die drei Grundbedeutungen von ›queer‹ finden eine Entsprechung in den Semantiken des Begriffs ›postkolonial‹: Erstens kann postkolonial der Zustand eines historischen Gegenstandes sein (1.), zweitens ein Analyseinstrument (2.) und drittens ein Modus der Kritik (3.). Postkolonial kann demnach erstens die Eigenschaft eines gesellschaftlichen, kulturellen, staatlichen Gefüges, einer Teilgruppe oder eines Subjekts meinen. Die Vorsilbe ›post-‹ verweist in einem rein temporalen Sinn darauf, dass es sich um Staaten, Gruppen oder Menschen in einer Zeit nach dem Ende kolonialer Herrschaft handelt (1.1). ›Postkolonial‹ kann aber in einem stärkeren und nicht allein zeitlichen Sinn (1.2.) auch bedeuten, dass die kolonialen Machtstrukturen auf eine spezifisch post-koloniale Weise noch immer wirken (1.2.1) oder dass sie durch ebenso spezifische Mechanismen überwunden wurden (1.2.2). Entsprechend dieser Differenzierung kann der Gegenbegriff ›kolonial‹ dann eine historische Zuordnung oder eine bestimmte Herrschaftsform meinen.

Der Umgang mit ›post-kolonial‹ als Beschreibungs- (2.) bzw. Kritik-Paradigma (3.) verhält sich analog zu ›queer‹. So, wie der vorliegende Band die beiden Geschwister-Konzepte gender und desire vermischt, verfährt er auch mit verwandten Phänomenen oder Rezeptionsmodi im Fokus der postkolonialen Lektüre: Es geht um »das Themenspektrum dessen, was hier interessiert, nämlich (post)imperiale bzw. (post)koloniale Narrative« (135). Und bestimmte koloniale Denkmuster (Orientalismen und Balkanismen) werden zunächst unterschieden, dann aber anhand des Textmaterials zusammengedacht (z.B. »Balkanismus als Orientalismus«, 140, Hervorhebung im Original). Auch hier kann man nach der analytischen Tragfähigkeit für machtkritische und gerade für intersektional verfahrende Lektüren fragen: Wenn Balkanismen, Rassismen, Orientalismen, Kolonialismen und Imperialismen en gros dasselbe sind, wie soll man dann deren spezifische Machtphänomene (und ihre Wechselwirkung mit anderen Faktoren wie gender) kritisch betrachten? Dass sich auf der Gegenstandsebene solche Phänomene vermischen, wenn Karl May den Balkan als Orient inszeniert oder Josef Winkler junge Männer aus ganz verschiedenen Ländern gleichermaßen fetischisiert, spricht dies nicht dafür, sondern dagegen, auch auf der Beschreibungsebene die entsprechenden Machtstrategien gleichzusetzen. Es ist ein zweifelhaftes Privileg der Machtinhaber*innen, nicht unterscheiden zu müssen, und eine Notwendigkeit sowohl deskriptiver Wissenschaft als auch kritischer Analyse (2. und 3.), Unterdrückungsmechanismen zu differenzieren, um sodann Allianzen und Gemeinsamkeiten besser verstehen zu können.

2.3 Postcolonial-queer

Schon im ersten Satz des Bandes wird deutlich, dass die Verknüpfung von postkolonial und queer keine allzu enge ist, der Band verfahre vielmehr »meist verschränkt, manchmal auch auf einen der Begriffe fokussierend« (11) mit den Konzepten, sodass der Terminus eher als Dach für verschiedene machtkritische Analysen Babkas fungieren dürfte, denn als systematisch relevantes Einzelkonzept. Zumindest für die Analysen, die beide Teilmengen fokussieren, ist es jedoch angesichts der Vieldeutigkeit der beiden Komponenten des Kompositums eine für den Band relevante Frage, ob die Zusammenfügung ›postcolonial-queer‹ das Bedeutungsspektrum verdoppelt oder verringert. Möglich wäre immerhin auch, dass durch die Verbindung eine Reduktion der Möglichkeiten in Form einer konkreten Schnittmenge aus beiden Begriffsspektren stattfindet. Zur Frage danach, was ›postcolonial-queer‹ genau bedeutet, verhält sich der Band jedoch unklar. In einem weiten Sinn lassen sich ›postcolonial-queere‹ Befunde natürlich dort machen, wo sich Diskurse aus beiden Teilmengen kreuzen. Dies geschieht eigentlich immer dann, wenn ein Text sowohl koloniale als auch gender- oder desire-Konzepte nebeneinander thematisiert.

In einem engeren Sinne könnte man sich zusätzlich aber fragen, ob – etwa im Sinne intersektionaler Ansätze – ein postcolonial-queerer Zugang sowohl als Subjekt- und Textstrategie (1.) als auch als kritischer oder analytischer Rezeptionsmodus (2. und 3.) spezifische eigene Verfahren ausbildet. Angesichts der Verschränkung etwa von patriarchaler und kolonialer Macht, die so alt und so einflussreich wie der Kolonialismus selbst ist, könnte man diese erstens als solche entlarven und zweitens annehmen, dass es entsprechende genuin postcolonial-queere Subversions- und Emanzipationsstrategien in der Literatur gibt. Diese ließen sich dann mit analytischen Mitteln dort aufzeigen, wo die Textperspektive mit der Sicht Marginalisierter korreliert. Die Perspektive mehrfach diskriminierter Subjekte, deren Realität gerade nicht aus der schlichten Addition des einen und des anderen Unterdrückungsmodus verstanden werden kann, sondern die z.B. als »weibliche[] Subalterne[]« (nach Spivak, 45) ganz spezifischen Marginalisierungsstrategien ausgesetzt sind, trägt der Band jedoch nur ungenügend Rechnung: Kein*e einzige*r Autor*in, dessen*deren Texte Babka heranzieht, ist ein postcolonial-queeres Subjekt und nur in vereinzelten Texten können die Erkundungen solche intersektional relevanten Perspektiven aufzeigen. Häufiger sind die Analysen auf eine entweder queere oder postkoloniale Perspektive beschränkt, wenn sie normierte Körperlichkeit dekonstruieren (Kleist), Kolonialismen kritisieren (May), hybride Orient-Okzident-Entwürfe nachzeichnen (erstes Kapitel zu Frischmuth), emanzipierte Figuren begleiten (zweites Kapitel zu Frischmuth), feministische Schreibverfahren rekonstruieren (Jelinek) und postmoderne Kolonialkritik im Roman umgesetzt finden (Insayif).

Lediglich die Auseinandersetzungen mit Robert Michels Die Verhüllte, mit Else Lasker-Schülers Der Prinz von Theben und Josef Winklers Friedhof der bitteren Orangen sowie seinem Domra. Am Ufer des Ganges zeigen eine Verwobenheit von orientalistischen, rassistischen, gegenderten und begehrensabhängigen Projektionen. Allerdings sind alle Autor*innen (außer Insayif) und alle Figuren (außer Frischmuths Figur Lami) keine post-kolonisierten und queeren Subjekte, die die Texte hier repräsentieren, sondern aus einer mehr oder weniger machtvollen westlichen Perspektive gemachte Objekte (vgl. dazu treffend 194): indische und afrikanische Straßenjungen als Begierdeobjekt bei Winkler und Phantasien von faszinierenden Haremsbewohner*innen bei Lasker-Schüler und Michel. Auf diese Weise bleiben die blinden Flecken der Autor*innen bestehen und die versuchten Nachweise intrinsischer Subversionsstrategien innerhalb der entlarvten Projektionen gehen angesichts des unhintergehbaren sozialen Machtgefüges, das die empirische Autorschaft mit sich bringt, fehl.

3. Analysen

Mit der oben beschriebenen Frage nach dem Ziel einer Lektüre gehen unterschiedliche Arten, Texte zu behandeln, einher. Vor dem Hintergrund einer rezeptionsseitigen Dekonstruktion jedweden Gegenstandes mit dem Anspruch, marginalisierte Perspektiven einzubringen, vollkommen unabhängig davon, was die historische Bedeutung eines Textes ausmacht, können alle denkbaren Schlüsse, auch Assoziationen und Analogien zielführend sein. Einen Text auf diese Art postcolonial-queer zu lesen, heißt, mit kritischem Anspruch einen neuen Text zu erschaffen. Solche Verfahren kann man nicht dafür kritisieren, dass sie intersubjektiv nicht vermittelbar, weil a-historisch, widersprüchlich oder wenig naheliegend sind – denn dies zu vermeiden, ist nicht ihr Anspruch. Solche Zugangsweisen finden sich vielfach bei Babka, in Reinform in der den Band beschließenden fünfseitigen Coda mit dem Titel »Blau/schwarz – eine Durchdringung«. Aber auch viele Einzeltextlektüren leben vom Assoziativen und Nicht-Belegbaren:

Der Konfusionen gibt es viele in Kleists Text, sie durchziehen und durchwandern ihn als Signifikanten, Tropen und Gewebe und brechen Grenzen auf, wie die des Geschlechts und des Genres. Die Wege der Seele, des Geistes des Kleist’schen Gliedermanns kreuzen sich mit dem Ghost in the Shell. Ghost in the Shell ist ein Animationsfilm, basierend auf dem gleichnamigen Manga […]. Was hat dies mit Kleist zu tun? Es geht um die Frage, was ein Mensch ist und was ihn ausmacht. (128)

In denjenigen Passagen jedoch, in denen Babka sich tendenziell und – nimmt man ihre verstreuten methodologischen Aussagen (vgl. z.B. 16 u. 171) ernst – unfreiwillig einem hermeneutischen Paradigma verschrieben hat, werden diese assoziativen, metaphorischen und behauptenden Rezeptionsvorgänge angreifbar. Wenn etwa in Lasker-Schülers Der Prinz von Theben in einem textnahen Zitatverfahren nachgewiesen werden soll, wie dieser selbst stereotype orientalistische Dichotomien aufbreche, dann muss die Lektüre sich die Nachfrage gefallen lassen, welche kulturellen und historischen Vorannahmen Sätze wie die beiden folgenden enthalten: »Hier fällt die klischeehafte kulturelle Differenz auseinander und bricht das binäre Muster auf. Nicht auf Eseln sitzen die vornehmen Araber, sondern auf hochmütigen Pferden.« (165) Wieso nämlich ist davon auszugehen, dass Araber auf Eseln sitzen und Der Prinz von Theben durch die dargestellten Pferde einen subversiven Bruch mit dem Stereotyp ausstellt? Auch die ebenfalls vergleichsweise textnahen Lektüren von Josef Winklers Friedhof der bitteren Orangen und dessenDomra. Am Ufer des Ganges können sich aufgrund ihres quasi-hermeneutischen Impetus durchaus an den Maßstäben literaturwissenschaftlicher Analysen (nicht: dekonstruktiver écriture-Performances) messen lassen. Hier formuliert Babka konkrete Thesen wie diese:

Das Orientalische, das Dunkle – im Gegensatz zum ›einheimischen‹ Subjekt des Begehrens und der Liebe, dem blonden verstorbenen Geliebten – bilden einen prägnanten metaphorischen Horizont für das Erzählen von Sex, Leidenschaft und Tod. In Winklers Text wird, so meine These, die Konstruktion und Produktion geschlechtlicher und kultureller Identitäten und Alteritäten zugleich beschrieben, performiert und dekonstruiert. (172, Hervorhebung im Original)

Trotz der metaphorischen Sprechweise vom »Horizont für das Erzählen« befasst sich die Lektüre mit der These und kann daraufhin geprüft werden, ob sie diese stichhaltig belegen kann. So kann man den beiden Kapiteln zu den Erzähltexten Winklers in vielen Punkten recht geben: in den narratologischen Auswertungen, in der Figurenbeschreibung, den Analysen der Bildsprache, der Farbsymbolik sowie der Räume. Beide Analysen überzeugen aber nicht in der Bewertung der Textstrategien als subversiv und postkolonial (hier: im Sinne einer kritischen Überwindung kolonialer Schemata 1.2.2). Sowohl eine textnahe hermeneutische als auch eine ergänzend historisierend-machtkritische Sicht auf Winklers Werk könnten vermutlich zeigen, dass Winklers Texte die von Babka sorgfältig herausgearbeiteten kolonialen Muster, aber auch die Wirkweisen sexueller Objektivierung in ihrer intersektionalen Verschränkung mit rassistischen Strategien reiterieren und gerade nicht unterlaufen. Babkas gegenüber diesem Befund zu wohlwollenden Interpretationen könnten vermieden werden, indem eine auf die ganz spezifischen Verschränkungen etwa von gender und race, Kaste und Alter, Begehren und kultureller Identität fokussierten Methode gewählt und geeignete Gegenstände ausgesucht würden. Interessant ist ein postcolonial-queerer Fokus dann, wenn in der Literatur genau diese doppelten Unterdrückungsmechanismen entweder performt (Welche unikalen sexuellen Projektionsflächen bieten kolonisierte Körper?) oder subvertiert werden (hier böten sich zum Beispiel queere afrodeutsche Autorinnen wie Guy St. Louis oder Peggy Piesche an).

4. Fazit

In der Zusammenschau kann der explizit gewählte dekonstruktive Zugang sowohl seine Schwachstellen als auch sein Potenzial zeigen. Diejenigen Analysen, die dagegen textnah und mit hermeneutisch-historisierendem Anspruch argumentieren, machen sich angreifbarer als schöpferische Re-Lektüren vor dem Hintergrund ausgewählter Theoriehorizonte, können aber bisweilen besonders nachvollziehbar postkoloniale und queere Textverfahren aufzeigen.

Der vorliegende Band ist vielleicht insbesondere dazu geeignet, sich mit zentralen Konzepten poststrukturalistischer Analyse und Kritik vertraut zu machen. Der Zugang über ›Denkfiguren und -räume‹ und ihre ungezwungene Kombination im Theorieteil erlauben es, in allen Kulturwissenschaften verwandte Schlüsselkonzepte kennenzulernen. Der Band läse sich dann wie ein angewandtes Handbuch der Kulturwissenschaften von D wie différance über écriture feminine, Hybridität, Hymen, Liminalität, Mimikry, Othering, Performance, Phallogozentrismus, strategischen Essentialismus und Subalternität bis zu T wie Third Space.

Die Studie ist dann ein symptomatisches Werkstück, das sowohl die kreativ-kritischen Potenziale als auch die systematisch-lückenhaften Problemzonen solcher dekontextualisierender Verfahren zu erkennen gibt. Nicht nur der jeweilige Theoriekontext verschwindet und Widersprüche und Entwicklungen zwischen Theorien werden ausgeblendet, auch der historische Horizont der Kunstwerke wird irrelevant. Dafür entsteht eine eigenständige Re-Lektüre.

Wenn sich dieserart analytische und kritische Ebene, historische und gegenwärtige Diskurse, Objekt- und Wissenschaftssprache vermischen, dann ist das aus der Perspektive der Studie jedoch nicht unbedingt ein Nachteil: Schon der Untertitel »Erkundungen in Theorie und Literatur« verweist darauf, dass hier erkundet und nicht expliziert, sortiert, klassifiziert wird. Das Ergebnis dieser Vorgehensweise ist die Möglichkeit, Marginalisiertes sichtbar zu machen und so einen analytischen Blick auf die Texte in eine kritische Auseinandersetzung zu überführen. Wer eine Trennung von Gegenstands- und Beschreibungsebene für unverzichtbar hält, wird sich auf die Ergebnisse dieser aus einer programmatischen Vermischung entstandenen Analysen nur dann einlassen können, wenn eine historische und/oder kulturelle Ähnlichkeit gegeben ist. Das gilt im Grunde nur für Texte der Gegenwart, denen die Theorien schon eingeschrieben sind. Wer dieses ›Erkunden‹ gar nicht für ein wissenschaftliches Verfahren hält, kann in den Einzelstudien immerhin politische Akte des Sichtbarmachens von Marginalisiertem erkennen.

2020-01-19

JLTonline ISSN 1862-8990

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