Anja Schonlau

Die Affect Studies werden handlich – Ein neues US-Handbuch zeigt das Potential des poststrukturalistischen Dialogs zwischen ›Affekttheorien‹ und Text

Donald R. Wehrs / Thomas Blake (Hg.): The Palgrave Handbook Of Affect Studies And Textual Criticism. Cham (Schweiz): Palgrave Macmillian 2017. 881 S. [Preis: EUR 120,44]. ISBN: 978-3-319-63302-2.

Emotionen werden in Bezug auf Begriff, Phänomen und Theoretisierung von zahlreichen natur-, geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen als genuiner Forschungsgegenstand beansprucht. In den einzelnen Fachdisziplinen konkurrieren zusätzlich einander ausschließende Zugangsmethoden. Diese heterogene Ausgangslage lässt es als besonders komplexes Unterfangen erscheinen, den Forschungsgegenstand ›Emotion‹ für ein Handbuch adäquat zu erfassen und ihn in einem derartigen geordneten, repräsentativen Wissens-Kompendium mit Nachschlagefunktion darzustellen. Handbücher gehören momentan zu den populärsten Textgattungen des wissenschaftlichen Schreibens – im Gegensatz etwa zu den wenig geschätzten Sammelbänden. Die Emotionsforschung ist ein vergleichsweise junges, aber etabliertes Forschungsfeld. Mit der Aktualität der Gattung ›Handbücher‹ und dem Stand der Emotionsforschung mag es zusammenhängen, dass Handbücher in der deutschen wie internationalen Emotionsforschung auffallend prosperieren. In den USA ist im Dezember 2017 ein Handbuch mit einer besonders relevanten Ausrichtung für die literaturwissenschaftliche Forschung zu Emotionen erschienen. Der 881 Seiten starke Band der renommierten Reihe ›Palgrave Handbooks‹ nimmt das Verhältnis von »affect studies« und »textual criticism« in den Blick. Als Affect studies versteht sich eine poststrukturalistische Forschungsrichtung aus dem angloamerikanischen und kanadischen Raum. Sie grenzt sich seit der Jahrtausendwende innerhalb des Forschungsfeldes ab, das in der deutschen Literatur- und Kulturwissenschaft seit den 90er Jahren als ›Emotionsforschung‹ bezeichnet wird.

Konstitutiv für die ›Affekttheorie‹ ist seit Brian Massumi der Begriff ›Affekt‹ selbst. Der Ansatz des Handbuchs ist darum (1.) von einer starken Auseinandersetzung mit dem Begriff affect geprägt, der poststrukturalistisch verstanden wird. Der aktuelle kulturpolitische Abgrenzungsprozess im Forschungsfeld geht – wie in solchen Fällen naheliegend – mit einem starken Innovationsanspruch einher. Die Herausgeber Donald R. Wehrs und Thomas Blake streben (2.) deutlich eine Abgrenzung und Positionierung innerhalb des großen, inter- und transdisziplinär ausgerichteten Forschungsfeldes der Emotionen an. Und (3.) versucht die Publikation den genuinen Anspruch eines Handbuchs zu erfüllen, nämlich das zentrale Wissen zu einem Gegenstand in einer mehr oder weniger handlichen Veröffentlichung der geneigten Leserschaft zur konzentrierten Aufnahme bzw. zum sporadischen Nachschlagen anzubieten.

Vor diesem Hintergrund betont Wehrs in der Einleitung die dem Handbuch zugrunde gelegten Begriffsdefinitionen: Das Verständnis des Begriffs affect studies orientiere sich an der affect theory der Geisteswissenschaften unter Bezugnahme auf Gilles Deleuzesʼ durch Nietzsche geprägten Poststrukturalismus und Eve Sedgwicks Queer-Theorie (3). Affect entspricht gerade nicht dem deutschen Begriff ›Affekt‹, der in der deutschen Emotionsforschung der Frühen Neuzeit häufig im historischen Verständnis als Oberbegriff verwendet wird. Er entspricht auch nicht seiner gegenwärtigen (emotionspsychologischen) Verwendung als plötzliches, starkes und kurzzeitiges Auftreten von Emotionen. Das poststrukturalistische Verständnis spinozistisch-deleuzianischer Prägung versteht Affekt vielmehr als Phänomen der Zustandsveränderung und des Übergangs. Körper werden nicht als abgegrenzte Einheiten einer ›fixen‹ Person aufgefasst, sondern als veränderliche Arrangements, die durch wechselseitige Affizierungen interagieren. Massumi sieht affect als Gegenbegriff zu emotion und verbindet letzteren Begriff mit fixity and closure (98). Affect hat für die affect theory eine ähnliche Funktion wie ›Sprache‹ für den Postrukturalismus der 70er Jahre. »Affect is treated as the prime site or engine of liberating subversion, or as place where oppressive ›nurturing‹ does its work« (3). Im Handbuch soll die Beziehung zwischen Affekt und Text aus der Perspektive ›neurokognitiv-evolutionärer‹ Theorien und auf der Grundlage poststrukturalistischer Philosophie erörtert werden (viii).

Vertreter kognitionstheoretischer und evolutionsgeschichtlicher Ansätze haben auch in der Vergangenheit Affinitäten durch die gleichermaßen ahistorische Qualität der Modelle und Begriffe gezeigt, die sie auf literarische Texte anwenden. Bei dem Kompositum »neurocognitive-evolutionary« (S. 39) scheint es sich allerdings um einen Neologismus zu handeln. Mit Sedgwicks Queer-Theorie entscheiden sich die Herausgeber gegen das Modell der Sektionalität der Gender Studies und für eine Infragestellung von Identitätskategorien, was mit der Qualität der Veränderlichkeit dieses spezifischen Affektbegriffs harmoniert.

Ursprünglich hat sich die poststrukturalistische Affekttheorie um 2000 nicht nur aus der Unzufriedenheit mit der Vernachlässigung des Körpers entwickelt, sondern auch als Kritik an der Forschungsdominanz des Textuellen und der Repräsentation. Der programmatisch textorientierte, noch dazu die Literatur präferierende Ansatz des Handbuchs erscheint darum als starke Positionierung in einem kritischen Feld. Die einzelnen Beiträge des Bandes sollen zeigen, wie sich das Potential von (modernen) Emotionstheorien (»affect theory«) vor allem für die literatur-, z.T. für die auch film- und musikwissenschaftliche Forschung nutzen lässt. Eine Kontextualisierung der literarischen Texte mit Emotionstheorien bzw. ›Affektheorien‹ erfolgt größtenteils ahistorisch unter Bezug auf die gegenwärtigen philosophisch-naturwissenschaftlichen Modelle (u.a. Brian Massumi, Antonio Damasio). Eine mögliche Problematik der ahistorischen Übertragung wird nicht thematisiert.

Das Handbuch ist nach der Einleitung in drei Teile gegliedert: Der erste Teil zu ›Kontexte und Fokusse‹ stellt die philosophischen und wissenschaftlichen Grundlagen der aktuellen Emotionstheorien vor und gibt einen Überblick über ihre Varietäten. Der zweite Teil befasst sich mit dem Verhältnis von ›Affektivität (affectivity) und Textualität‹, was vorrangig emotionsbezogene Rezeption meint. Und der dritte Teil ›Variationen des Affektiven (affective) / Textuelle Wechselbeziehungen‹ zeigt die ›Dynamiken‹ von ›Affekten‹ und Texten exemplarisch in verschiedenen Epochen und Text- bzw. Kunstgattungen auf.

In der Einleitung referiert und interpretiert Herausgeber Wehrs theoretische Positionen und literarische Darstellungen von den ältesten schriftlichen Überlieferungen bis zur Gegenwart in chronologischer Folge. Die Einleitung bietet damit Material zur Kontextualisierung an. Ihre Textbreite beginnt mit dem Gilgamesch-Epos und seiner Darstellung von männlicher Freundschaft und reicht bis zur Konsolidierung neurokognitiv-evolutionärer Forschung und der affect theory in der Gegenwart, die als aktueller Zielpunkt dargestellt wird. Von den drei Haupteilen mit jeweils acht bis 13 Beiträgen können im Folgenden nur einige Thesen angerissen werden:

Der erste Teil ›Kontexte und Fokusse‹ vermittelt die philosophischen und wissenschaftlichen Grundlagen zu Emotionen und zeigt eine Übersicht ihrer Varietäten. Die ersten beiden Aufsätze erörtern unterschiedliche Auffassungen von affect und emotion im 21. Jahrhundert. Kate Stanley erläutert in »Affect and Emotion« Jamesons Bedeutung für Massimos poststrukturalistischen Affektbegriff (Aufsatz 2). Brook Miller diskutiert mögliche Beziehungen zwischen Affect Studies, Kognitionstheorie und Literatur (Aufsatz 3). Im Anschluss widmet sich Bruce McConachie der These, dass prosocial emotions gleichzeitig mit Entwicklung von Sprache entstanden seien (Aufsatz 4). Julia Reinhard Lupton diskutiert ›affektive‹, körperliche und auf die Umwelt bezogene Facetten des Vertrauens im Theater. Sie zeigt u.a. zur Dover-Szene in König Lear, dass Theater ein Experimentierfeld für die Entwicklung von Vertrauen darstellt (Aufsatz 5). In ihrem Beitrag zu »Affect and Narratology« betont Claudia Breger, dass seit 2000 mit den Spiegelneuronen Kognitionstheorien Eingang in die Narratologie gefunden haben (Aufsatz 8). Richard C. Sha versteht affects als Emotionen ohne Subjekt und Kausalität (Aufsatz 9). Marshall Alcorn fasst emotion als Bezeichnung für Basisemotionen nach Tomkins auf. Er wendet sich gegen die Opposition von Vernunft und affect, wie sie Aristoteles einflussreich vertreten hat (Aufsatz 11).

Der zweite Teil ›Affektivität und Textualität‹ führt emotionsbezogene Rezeptionsphänomene vor. Zunächst betont Dana LaCourse Munteanu, dass Paradigmenwechsel in der Darstellung romantischer Gefühle kulturelle Grenzen verschieben können: »Literary love fosters copycat tendencies in the readers« (335) (Aufsatz 12). Florian Cova, Julien Deonna und David Sander gehen vom paradox of tragedy aus und untersuchen die Bedeutung der Gefühle (feelings) für die Wertschätzung ›ernster‹ Literatur (Aufsatz 13). Im Anschluss betrachtet Jeff Pruchnic Burke als nützliches Korrektiv gegen problematische Tendenzen der Emotionsforschung und sieht Brücken zwischen mind und body (385) (Aufsatz 14). Howard Sklar erläutert, wie Erzählungen Sympathielenkung betreiben (Aufsatz 17). W.B. Gerard kann eindrucksvoll zeigen, dass Sternes Figur der psychischen kranken Maria (poor Maria) durch eine empathische Rezeption den Diskurs über psychisch Kranke geändert hat (Aufsatz 18). Abschließend erläutert Jaimey Fisher am Beispiel des Kriegsfilms Saving Private Ryan, wie der kognitive Ansatz mit der Deleuzianischen Theorie in Bezug auf Körperlichkeit und Kollektivität harmoniert (Aufsatz 19).

Der dritte Teil ›Variationen des Affektiven / Textuelle Wechselbeziehungen‹ zeigt die Wechselbeziehungen zwischen affect und literarischem Text in verschiedenen Epochen und Textgattungen exemplarisch in chronologischer Ordnung auf. Im Vordergrund stehen angloamerikanische Texte. Mit vier Beiträgen ist die spanische Nationalliteratur besonders präsent; weitere europäische Literaturen werden nicht berücksichtigt. Durch gleichfalls vier Beiträge ist auch die Epoche des Mittelalters besonders gut vertreten. Außerdem ergänzt ein Beitrag zur Filmmusik und zu amerikanischer Filmgeschichte den dritten Teil. Ausgehend von einem kognitionstheoretischen Verständnis nimmt Antonia Harbus Wortanalysen in literarischen Texten des old und middle Englisch vor (550) und erläutert, wie Emotionen bei modernen Lesern erzeugt werden (Aufsatz 20). Nicholas Myklebust zeigt zur mittelalterlichen Sammlung der ›Harley lyrics‹, »that the conflicting cues drawn from alliterative and accentual-sylabic prosodies interfere with the surprise response that rhythmic entrainment exploits in order to charge the reader with an affective stance toward the text« (578) (Aufsatz 21). Von den vier Beiträgen zur spanischen Literatur sei Howard Mancings Beitrag zu Don Quichotes ›affektiven Gedanken‹ hervorgehoben, der Forschern wie Damasio in Bezug auf die Emotionalität von Gedanken zustimmt und von der Theory of Mind ausgeht. Er führt vor, dass bei Don Quichote der Leser Transferleistungen erbringen muss, um die Textsignale zu ›affektiven Gedanken‹ der Hauptfigur mit Inhalt zu füllen (Aufsatz 23). Marta Figlerowicz’ Beitrag zu Kierkegaards ›hässlichen Gefühlen‹ (Aufsatz 26) und Cecilia Sjöholms Beitrag zu Descartes’ Emotionsverständnis (Aufsatz 24) beziehen sich nicht auf literarische Texte, sondern exemplifizieren die entsprechende Theorie. So diskutiert Sjöholm grundlegende Aspekte wie den Affektbezug des Urteilens und der Einbildungskraft. Sie weist auf die Übersetzungsproblematik hin, wenn Descartes’ im Gehirn verorteter Seelenbegriff im Englischen mit mind übersetzt wird (664). Einen kurzen, aber instruktiven Abriss der Geschichte der Affekte und der Filmmusik gibt William Wehrs, wobei er die Bedeutung der Musik für die ›affektive‹ Reaktion und damit den nachhaltigen Erfolg der Bilder betont (Aufsatz 28).

Was die Qualität dieser Neuerscheinung als Exemplar der Gattung ›Handbuch‹ betrifft, so wurde eingangs auf die Schwierigkeit hingewiesen, einen so schwer fassbaren Gegenstand wie Emotionen – ›Affekte‹ – handlich darzubieten. Hinzu kommt, dass die Nachschlagefunktion eher zu einem deutschen bzw. europäischen Handbuch-Verständnis gehört als zu einer anglo-amerikanischen Auffassung. Martin von Koppenfels und Cornelia Zumbusch zeigen dies im derzeit neusten deutschen Handbuch zu ›Literatur und Emotionen‹ (2016), nicht zuletzt durch ein Glossar am Ende des Kompendiums.[1] Hingegen ist es der erklärte Anspruch eines Palgrave Handbook, »an unparalleled overview of a specific field of research, while also setting the agenda for future directions of the discipline« zu bieten.[2] Sowohl den Überblickscharakter als auch die richtungsweisende Positionierung im Forschungsfeld erfüllt das Handbuch in reichem Maße. Überraschende und seltene Einblicke in die Affektkonzepte der indischen und islamischen Ästhetik schon in der Einleitung dokumentieren den Anspruch der Herausgeber (10). Und die evolutionstheoretischen und/oder kognitionstheoretischen Ansätze stellen durchweg den Bezug zu historischen Affektheorien her und zeigen konkrete Möglichkeiten der Anwendung am (vorzugsweise literarischen) Text auf. Dabei überrascht, dass eine mögliche Problematik der ahistorischen Übertragung evolutions- und kognitionstheoretischer Ansätze nicht thematisiert bzw. begründet zurückgewiesen wird. Deutlich verfolgt der Band die Agenda, die Weichen im Bereich der Emotionsforschung zu stellen. Denn eigentlich ist es nicht mehr möglich, vom großen Feld der Emotionsforschung zu sprechen, wenn die affect studies ›Emotionsforschung‹ als das Andere begreifen. Was den hohen Innovationsanspruch betrifft, so hat die Theory of Mind ebenso wie die Evolutionstheorien längst Eingang in die deutschen Literatur- und Kulturwissenschaften gefunden, wenn auch nur teilweise unter poststrukturalistischen Vorzeichen. Aus der Perspektive eines Handbuchs mögen rund 20 Jahre Forschung als vergleichsweise neu erscheinen.

Allerdings bleibt nach der Lektüre der konzentrierten Darstellung des Verhältnisses zwischen Affect Studies und Textual Criticism auch folgende Einsicht: Ursprünglich waren die Affect Studies gerade gegen den Ansatz angetreten, den das Handbuch jetzt vorstellt, nämlich die Analyse der emotionsbezogenen Darstellung im Text. Daran ändert auch die kognitions- und evolutionstheoretisch aufwendig fundierte Analyse nichts. Wenn Harbus fragt, »in which way […] literary texts imagine and represent emotions« (546), verfolgt sie die bekannten, allerdings nicht notwendig schlechteren Ziele. Aber der poststrukturalistisch nicht an ein Subjekt gebundene Affektbegriff, mit dessen Hilfe ein Diffundieren der Affekte in der Gesellschaft gedacht werden kann, zeigt seinen höchsten Innovationswert auf der politisch-sozialen Ebene. Die Literaturwissenschaftlerin und Genderforscherin Ann Cvetkovich hat 2012 die These aufgestellt, dass eine vermeintlich private Depressionserfahrung politisch sein kann, wenn sie im Kontext der durch (als nicht abgegrenzt verstandene) Körper diffundierende Affekte als Element einer gesamtgesellschaftlichen Depression gesehen wird. Diese Position erhielt nicht nur in akademischen Kreisen viel Resonanz. Eine Textanalyse kann eine derartige gesellschaftliche Breitenwirkung nicht entfalten.[3]

Anmerkungen

[1] Martin von Koppenfels, Martin von/Cornelia Zumbusch: Handbuch Literatur & Emotionen, Berlin 2016. (Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie) [zurück]

[2] Anonym: [Verlagstext]. In: https://www.palgrave.com/gp/palgrave-handbooks; 26.11.2018. [zurück]

[3] Ann Cvetkovich: Depression: A Public Feeling. Durham (NC) 2012. [zurück]

2019-03-20

JLTonline ISSN 1862-8990

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