Vincenz Pieper

Zurück zur Phänomenologie?

Jørgen Sneis: Phänomenologie und Textinterpretation. Studien zur Theoriegeschichte und Methodik der Literaturwissenschaft. Berlin/Boston 2018 (Historia Hermeneutica. Series Studia 17). 326 S. [Preis: EUR 89,95]. ISBN: 3110561840.

Die Phänomenologie entstand philosophiegeschichtlich als ein Versuch, den Gefährdungen, die von einer »Flutwelle des Positivismus und des [...] Pragmatismus«[1] auszugehen schienen, durch eine strenge, wissenschaftlich anmutende Analyse des eigenen Bewusstseins zu begegnen. Husserl, der Begründer dieser Denkrichtung, stellte nicht ohne Bedauern fest, dass die ruhige Zuversicht, nach »Normen von absoluter Geltung« urteilen zu können, »durch Skepsis bedroht und verspottet«[2] wurde. Der vom Positivismus geforderte Verzicht auf absolute Geltungsansprüche hätte für ihn einen unerträglichen Verlust an intellektueller Sicherheit und Orientierung bedeutet. Er bemühte sich also, den zur »geistige[n] Not unserer Zeit«[3] generalisierten Zustand zu überwinden, indem er sich »in Sphären direkter Intuition«[4] zurückzog, wo er grundlegende Einsichten zu gewinnen glaubte. Die ›Einklammerung‹ der objektiven Welt sollte das reine Bewusstsein zugänglich machen; im Strom der intentionalen Erlebnisse meinte er, invariante Gestalten zu erschauen. Mit Wesensbehauptungen, die den »Stempel Ewigkeit«[5] tragen sollten, glaubte Husserl, die Positivisten in die Schranken weisen zu können.

Bietet Husserls Lehre brauchbare Ansätze für die heutige Literaturwissenschaft? Vorsichtig bejaht wird diese Frage in der Arbeit Phänomenologie und Textinterpretation. Studien zur Theoriegeschichte und Methodik der Literaturwissenschaft von Jørgen Sneis. Überzeugt von der »Problemlösungskapazität« (268) phänomenologischen Denkens will Sneis einen »Beitrag zur aktuellen [...] Hermeneutik [...] leisten« (5). Zwar ist es nicht seine Absicht, »eine eigene phänomenologisch fundierte Literaturtheorie oder Methode der Textinterpretation zu entwerfen« (3), doch glaubt er, dass von früheren Bestrebungen dieser Art immer noch eine »Revitalisierung« (268) der Interpretationstheorie ausgehen könne. Statt also direkt für die Phänomenologie Partei zu ergreifen, stellt Sneis mit offener Sympathie dar, wie Roman Ingarden, Nicolai Hartmann, Emilio Betti, Emil Staiger, René Wellek, Wolfgang Iser und Eric Donald Hirsch »phänomenologische Theoreme und Begriffe« für ihre jeweiligen »Problemlösungsstrategien« (4) nutzten. Nicht nur »Stationen der literaturwissenschaftlichen Appropriation phänomenologischen Gedankenguts« (3) will Sneis nachzeichnen, sondern auch zeigen, dass die Autoren »ein hohes Reflexionsniveau« erreichen und Ideen vorschlagen, die »anschlussfähig für heutige Debatten« (268) sind. Indem er seine Vorgehensweise als »rationale Rekonstruktion« bezeichnet, bekundet er den Willen, die untersuchten Theorien »zu aktualisieren und zu verbessern« (12). Da man etwas immer nur relativ auf die Erfolgskriterien einer Bezugsgruppe aktualisieren und verbessern kann, ist es wichtig zu wissen, dass sich Sneisʼ Interesse vor allem auf die »Entwicklung von wissenschaftsfähigen Interpretationskonzeptionen« richtet, insbesondere auf die Formulierung von »Normen der Rechtfertigung von Interpretationen« (4). Im Verlauf der Arbeit wird immer wieder deutlich, dass er »die Autorintention als Richtschnur für die Analyse und Interpretation« (258f.) für unabdingbar hält.

Ingardens Beziehung zum Intentionalismus

Unabhängig davon, wie man zu einer möglichen Rückbesinnung auf die Phänomenologie steht, muss man dankbar dafür sein, dass Sneis viel Energie darauf verwendet, die Schriften von Roman Ingarden zu untersuchen. Er behandelt nicht nur die umfangreichen literaturtheoretischen Arbeiten Das literarische Kunstwerk und Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, sondern berücksichtigt auch das philosophische Hauptwerk Der Streit um die Existenz der Welt. Ingardens Vorhaben, unter den Voraussetzungen einer (von Husserl erneuerten) cartesianischen Auffassung des Geistes die Intersubjektivität des literarischen Werks und die Möglichkeit seiner objektiven Erkenntnis sicherzustellen, bringt eine komplexe Theorie hervor, die auch für die gegenwärtigen Debatten wichtige Anregungen bietet. Sneis ist für den intellektuellen Reiz von Ingardens Schriften aufgeschlossen und so liest man seine Ausführungen mit großem Gewinn. Schwierigkeiten bereiten allerdings die wohlgemeinten Aktualisierungsversuche. Ingarden soll »auf den neuesten Stand gebracht« (13) werden, auch wenn das bedeutet, ihn »gegen den Strich« (14) zu lesen. Diese Methode führt zu anregenden Ergebnissen, geht jedoch zuweilen mit einem beträchtlichen Verlust an philologischer Genauigkeit einher.

Sneis will klären, wie sich Ingardens Auffassung vom Wesen des literarischen Werks »zur Textinterpretation als einer regelgeleiteten Bedeutungszuweisung an einen Text verhält« (19). Dieser Interpretationsbegriff, der sich in den 1970er Jahren etabliert hat, wird derzeit von vielen Literaturwissenschaftlern für selbstverständlich gehalten. Ihn mit Ingardens Position in Beziehung zu setzen, ist unbedenklich, solange man die Unterschiede berücksichtigt. Bei Sneis führt der wohlwollende Versuch, den Phänomenologen mit der neueren Literaturwissenschaft zu verknüpfen, allerdings zu einigen unnötigen Verwechslungen. Der Vorschlag etwa, »den Text schlicht als den vorgefundenen Gegenstand zu betrachten, dem man Bedeutung zuweist« (57), entfernt sich von Ingardens Annahme, dass die vom Autor verliehenen Bedeutungen eine besondere Schicht des Werks bilden, die beliebig oft »vermeint bzw. erfaßt«[6] werden kann. Auch die Behauptung, »dass die Bedeutung eines Textes nicht etwa in den sprachlichen Zeichen selbst enthalten ist, sondern [...] stets dem Text zugewiesen wird« (57), ist mit Ingardens Denkweise schwer zu vereinbaren. Immerhin betont er, dass das Werk Intentionalität »in sich birgt«[7] und legt großen Wert darauf, dass Bedeutungen »etwas Objektives«[8] sind. Sneisʼ Verfahren der aktualisierenden Rekonstruktion überschreitet die Grenze zur entschiedenen Umdeutung, wo Ingarden für eine inferenzbasierte Auffassung des Textverstehens in Anspruch genommen wird:

Ingarden [...] würde [...] sich vermutlich einigen von diesen Überlegungen [die Sneis zuvor mit Bezug auf Fotis Jannidis und andere Literaturwissenschaftler formuliert hat] anschließen, beschreibt er doch z. B. den intentionalen Bewußtseinsakt ausdrücklich als einen bedeutungsverleihenden Akt und die Psyche des Autors als ganz und gar unzugänglich. Dementsprechend lässt sich literarische Kommunikation nach Ingarden nur sinnvoll als inferenzbasierte Kommunikation beschreiben. (59)

Die These, dass schöpferische Bewusstseinsakte das ›Seinsfundament‹ des literarischen Werks sind, scheint in der Tat auf einen Intentionalismus hinzudeuten. Ingarden distanziert sich jedoch ausdrücklich von dieser Auffassung, vernachlässigt sie doch, dass »zwischen« Autor und Leser ein »identisches Sinngebilde« vorhanden ist, das nicht nur als »Stimulans«[9] für eine inferenzbasierte Bedeutungskonstitution dient. Ingarden stellt sich vor, dass beim richtigen Lesen »das Werk selbst in seiner eigenen Gestalt adäquat zur Enthüllung gelangt«[10]. Die Rekonstruktion des Werks erfolgt nach seiner Auffassung ›direkt‹: Man muss also nicht die bedeutungsverleihenden Bewusstseinsakte des Verfassers erschließen, die ihm vorausgegangen sind.[11] Mit der seltsamen Aussage, dass Leser die Bedeutungen ›reaktualisieren‹, soll der Eindruck vermieden werden, dass die verstandene Bedeutung und die gemeinte Bedeutung zwei Bedeutungen sind, die zur Übereinstimmung gebracht werden müssen. Es ist also etwas irreführend, wenn Sneis Ingardens Verstehensbegriff als »exakte Nachbildung von Bedeutung« (46) erläutert, denn damit wird nahegelegt, dass eine Art Ersatz für die ursprüngliche Bedeutung erzeugt werden muss. Zu der Annahme »idealer Begriffe«[12], die garantieren sollen, dass dieselbe Bedeutung von verschiedenen Subjekten vergegenwärtigt werden kann, sieht sich Ingarden wohl auch deswegen genötigt, weil er behaupten möchte, dass die Erfassung eines literarischen Werks nicht den Weg über das Erraten der inneren Vorgänge des Autors nehmen muss. Die von Sneis vorausgesetzte Zielvorstellung, dass »die verliehene Intentionalität des Autors mit derjenigen des Lesers [...] zusammenfällt« (ebd.), ist also vermutlich nicht diejenige des Philosophen.

Obwohl er Ingardens »anti-psychologistische [...] Stoßrichtung« (81) durchaus anerkennt, versucht Sneis, ihn für den hermeneutischen Intentionalismus zu retten. Die Schwierigkeiten, die sich aus der Ergänzung einer cartesianischen Konzeption des Geistes durch eine anti-psychologistische Bedeutungs- und Begriffstheorie ergeben, werden nur am Rande diskutiert. Sneis beobachtet, dass die »Entsubjektivierung des Werks« (70) bei Ingarden zu einer Trennung des Produkts vom Produzenten führt, beeilt sich jedoch hinzuzufügen, dass sich daraus keine »anti-intentionalistische Interpretationskonzeption« (33) oder ein »Plädoyer für so etwas wie eine werkimmanente Interpretation« (35) ableiten lasse. Nun gibt es aber Äußerungen Ingardens, die ein solches Plädoyer recht deutlich ausformulieren: »[N]otwendig ist eine radikale Rückkehr zu den literarischen Werken selbst, der entschiedene Bruch mit den Tendenzen, sich bei literarischen Forschungen – als deren eigentlichem Forschungsgegenstand — mit irgendetwas anderem als den literarischen Werken zu befassen.«[13] Sneis würde hier vielleicht hinzusetzen, dass man die Absichten ›hinter‹ dem Werk erschließen muss, um das ›Werk selbst‹ richtig erklären zu können, doch für Ingardens Denkart ist nun einmal kennzeichnend, dass er diesen Weg nicht geht. Er hält wenig davon, »eine Wissenschaft vom literarischen Kunstwerk mit Hilfe psychologischer Erwägungen zu betreiben« und beruft sich darauf, dass es »neben der genetischen Erkenntnis auch eine deskriptive Erkenntnis gibt, die sich auf die Bestimmtheiten des Phänomens oder Gegenstandes bezieht, die unmittelbar in der Erfahrung gegeben sind«[14]. Beeindruckt von Ingardens Ausführungen über ›verliehene Intentionalität‹ unterschätzt Sneis seine Nähe zur strukturalistischen Literaturwissenschaft, die in ganz ähnlicher Weise die Textanalyse von der Beschäftigung mit dem Sprachgebrauch des Verfassers abgrenzt. Die folgenreiche Annahme, die Ingarden mit den Anhängern des literaturwissenschaftlichen Strukturalismus verbindet, wird affirmativ rekonstruiert: Ingarden verweise lediglich auf den »ontologischen Sachverhalt, [...] dass das Schreiben mit dem Geschriebenen [...] nicht identisch ist« (35). Um die Probleme zu erfassen, in die Ingarden mit seiner Theorie des literarischen Werks gerät, muss man wohl einen Standpunkt außerhalb der Phänomenologie einnehmen. Von dort aus könnte man sich zum Beispiel fragen, was Ingarden eigentlich ausschließt, wenn er erklärt, dass der Autor kein Teil des Werks ist. In welchem Sinn lässt sich das ›Werk selbst‹ von den satzbildenden Operationen trennen? Beziehen sich die von Ingarden nur oberflächlich diskutierten satznachbildenden Operationen lediglich auf die Genese des Werks?

Spielarten des Strukturalismus

Die Annahme, dass sich die Literaturtheorie von Wolfgang Kayser aus der Rezeption phänomenologischen Denkens erklären lasse, wird von Sneis vehement in Frage gestellt. Zweifel an vereinfachenden Herleitungen sind angebracht, doch Sneis gerät hier von einem Extrem ins andere und erklärt nachdrücklich, dass »ein unmittelbarer Einfluss von Ingarden auf die werkimmanente Interpretation bislang nicht nachgewiesen worden ist« (115). Ingarden, so lautet die überraschende These, werde von Kayser »an einer eher marginalen Stelle« (120) erwähnt. Die Stelle, die hier als ›marginal‹ bezeichnet wird, ist immerhin die Einleitung, in der Kayser das ›Werk selbst‹ – im Gegensatz zum Autor ›außerhalb‹ des Werks – als vorrangigen Gegenstand der Literaturwissenschaft definiert. Diese Begriffsbestimmung ist von weitreichender Bedeutung: Sie prägt Kaysers gesamte Auffassung vom literarischen Werk und beeinflusst in der Folge auch seine Roman- und Erzähltheorie. Kayser mag ein »Eklektiker« (ebd.) sein, der kein konsequent phänomenologisches Programm vertritt, aber Ingardens gedankliche Trennung des literarischen Werks vom Verfasser spielt für ihn trotzdem eine sehr wichtige Rolle.

Viel überzeugender sind Sneis‘ Darlegungen über Emil Staiger. Er kann zeigen, dass die Herauslösung des Werks aus seinen Kausalzusammenhängen mit Bezug auf Husserl und Heidegger legitimiert wird. Staiger bezeichnet seine »deskriptive Vorgehensweise« (118), die in einem Gegensatz zur Kausalerklärung steht, selbst als eine ‚Phänomenologie der Literatur‘. Den »anti-positivistischen Grundzug« (ebd.) der Herangehensweise, die sich auf den ›unmittelbaren Eindruck‹ beruft und von der realen Textproduktion mit ihren spezifischen Problemen nichts Genaueres wissen will, stellt Sneis deutlich heraus. Bei der abschließenden Beurteilung wird die fortdauernde Relevanz der ästhetischen Würdigung betont: »Die Vorstellung, dass ein literarisches Werk vor allem ein ästhetisches Gebilde sei, ist [...] keineswegs passé.« (132) Mit der Feststellung, dass einige Texte ästhetische Ansprüche erheben und nach einer antizipierenden Unterstellung ästhetischer Eigenschaften verlangen, ist freilich noch nichts über Staigers Verfahren der Wesensschau oder seine Kunstwerkideologie gesagt.

In einem besonders gelungenen Kapitel, das eingehend über die historischen Zusammenhänge informiert, widmet sich Sneis der Position René Welleks. Seine Hauptthese, dass Welleks Literaturtheorie sich als »Synthese aus dem Prager Strukturalismus und der Phänomenologie Husserls und Ingardens« (171) verstehen lasse, soll keinen Gegensatz zwischen Ingarden und der strukturalistischen Literaturwissenschaft nahelegen. Denn der Prager Strukturalismus ist, wie Sneis erhellend darlegt, selbst von Husserl beeinflusst oder wurde durch seine Schriften zumindest in bestimmten Grundauffassungen bestärkt. Auf der anderen Seite wurden die strukturalistischen Grundideen (cartesianische Auffassung der Autor-Psyche, Antipsychologismus mit Bezug auf die sprachliche Bedeutung, Behauptung einer Trennung des Produkts von seiner Genese) in Ingardens Das literarische Kunstwerk deutlich ausformuliert. Der Strukturalismus war also keine Zutat, die Wellek aus anderen Traditionen übernehmen musste. Der seltsame Gedankensprung von der Normativität der Interpretation zu der Behauptung, dass das Werk selbst ein System von Normen sei, wird von Sneis nicht weiter problematisiert. An dieser Stelle hätte sich eine genauere Betrachtung von Ingardens Kritik an Wellek angeboten.

Unstimmigkeiten der Rezeptionsästhetik

Die Schriften Wolfgang Isers werden von Sneis mit weniger Nachsicht beurteilt. Der allgemeine Eindruck ist, dass es dem bekannten Anglisten »weniger auf Argumentation denn auf rhetorische Überzeugungskraft ankommt« (141). Das Feindbild der ›Interpretation‹, von dem sich Iser abgrenzt, wird von Sneis als unzureichend beurteilt. Im Übrigen komme Iser der Position Staigers, die er mit großem Aufwand zurückweise, unbeabsichtigt nahe, wenn er behaupte, dass die Struktur des Textes nicht kausal erklärbar, sondern nur als Wirkung erfahrbar sei. Mit der vieldiskutierten Konzeption des ›impliziten Lesers‹ kann Sneis wenig anfangen. Seine Diskussion führt zu dem ernüchternden Ergebnis, dass sie »mehr Probleme generiert, als [sie] zu lösen vermag« (152). Auch am Beispiel des Werkbegriffs kann Sneis die Unstimmigkeit der Theoriebildung verdeutlichen: Zunächst bestimme Iser das Werk als Konstituiertsein des Textes im Bewusstsein des Lesers, dann sei aber mehrfach von der ›Konkretisation des Werks‹ die Rede, was auf die absurde Annahme einer »Konkretisation der Konkretisation« (151) hinauslaufe. Mit Verweis auf solche Begriffskonfusionen erklärt Sneis, warum es Iser »nur bedingt gelungen« (167) ist, eine brauchbare Theorie der Textrezeption zu entwickeln.

Keine Schwierigkeiten hat Sneis, wie schon deutlich wurde, mit der Vorstellung, »dass die Bedeutung eines Textes erst durch den Leser hervorgebracht wird« (137). Er stellt diese für Iser grundlegende Annahme im Gegenteil als zeitgemäß und anschlussfähig dar: Wird die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke nicht auch von »psycholinguistischen und kognitionswissenschaftlichen« (273) Theorien als Vorkommnis im Geist des Sprachbenutzers aufgefasst? An dieser Stelle empfiehlt Sneis der Literaturwissenschaft eine Rückbesinnung auf die Gewissheiten der Phänomenologie: »Die interpretationstheoretisch relevante Annahme, [...] dass es sich beim Lesen und Interpretieren um Bedeutungszuschreibungen an den Text handelt [...], haben phänomenologische und empirisch orientierte Ansätze gemeinsam« (274). Es ist nicht unpassend, den phänomenologischen Neu-Cartesianismus mit der kognitionswissenschaftlichen Literaturforschung in Beziehung zu setzen, die ebenfalls intrinsisch bedeutungsvolle Geisteszustände postuliert; aus der Konzeption der Arbeit ist auch schlüssig begründbar, dass alternative Erklärungsansätze (z. B. von Neurath, Wittgenstein, Ryle, Quine) keine Beachtung erfahren; weniger verständlich ist, dass Ingardens Versuch, die Psychologisierung sprachlicher Bedeutung zu vermeiden, in diesem Zusammenhang keine Erwähnung findet.

Intentionalismus mit platonisierender Tendenz

Besonders großes Wohlwollen bringt Sneis der Position Eric Donald Hirschs entgegen. Zwar werden »Fehler« (209) und »terminologische[] Unstimmigkeiten« (234) nicht verschwiegen, aber der Ansatz wird insgesamt mit großer Aufgeschlossenheit beurteilt. Korrigiert werden sollen die »fundamentalen Fehleinschätzungen« (202), die sich aus der Missachtung des Umstands ergeben, dass Hirsch die »hermeneutische Tradition von Schleiermacher und Boeckh über Dilthey bis hin zu Emilio Betti« (ebd.) mit Husserls Phänomenologie verbinde und ihr dadurch eine respektable Grundlage verleihe. Die Annahme, dass jeder Autor ein »unzugängliches Innenleben« (203) besitze, das einen »fließenden Bewusstseinsstrom« (212) umfasse, der nur dem Subjekt unmittelbar gegenwärtig sei, wird als unstrittig dargestellt. Gesetzt ist auch, »dass die Bedeutung des Textes nicht in den sprachlichen Zeichen selbst, sondern im menschlichen Bewusstsein ihren Sitz hat« (218). Damit sind die Voraussetzungen für die Alternative geschaffen, die Hirsch präsentiert: „Die Verortung der Bedeutung im Bewusstsein des einzelnen Lesers hat [...] zur Konsequenz, dass Relativismus nur durch eine intentionalistische Interpretationskonzeption vermieden werden kann.“ (219) Entweder akzeptiert man demnach die Beliebigkeit der Interpretation oder versucht, den Zeichen die Bedeutungen zuzuweisen, die den Bedeutungen gleichkommen, die der Autor intendiert hat. Die »Reproduzierbarkeit der Textbedeutung« ist für Hirsch eine »notwendige Bedingung für die Möglichkeit der Interpretation« (220). Richtige Interpretationen erfordern folglich eine »Korrespondenz zwischen der vom Autor intendierten und der vom Leser zugeschriebenen Bedeutung« (219).

Was sind nun die Fehlurteile, die Sneis korrigieren will? Besonders wichtig ist ihm, dass Hirsch ›Intention‹ nicht im üblichen, sondern im phänomenologischen Sinn verwendet. Der Ausdruck beziehe sich auf »eine intentionale Akt-Gegenstand-Beziehung« (224). Daraus ergebe sich eine grundsätzlich andere Auffassung von Hirschs Hermeneutik. Sie werde von den Einwänden, die man gegen sie vorgebracht habe, nicht getroffen. Hirsch sei es gelungen, sich durch die Übernahme von Husserls Phänomenologie »gegen [...] [den] Vorwurf zu immunisieren [...], [...] dass die Intention des Autors unzugänglich sei« (221). Indem er Bedeutungen als intentionale Objekte definiere, nehme er sie aus dem flüchtigen Bewusstseinsstrom heraus und sichere ihre intersubjektive Zugänglichkeit. So »erübrigt sich [...] für Hirsch die ganze Frage nach dem sogenannten ›intentionalen Fehlschluss‹« (ebd.). Zwar sei das Wollen einer Bedeutung ein Bewusstseinsakt, aber die gewollte Bedeutung liege jenseits davon. Die gravierenden Probleme dieser Theorie bleiben unerwähnt. Hirsch definiert Bedeutungen als Typen, ein Vorschlag, der schon deswegen seltsam ist, weil man nicht fragen kann: Typen von was? Bedeutungen ähneln Typen in dem Punkt, dass man sie nicht sehen und nicht introspektiv identifizieren kann – aber damit hören die Ähnlichkeiten schon auf. Begriffe wie ›Typ‹, ›Gattung‹, ›Sorte‹, ›Art‹ gehören in eine andere Kategorie als ›Bedeutung‹, ›Sinn‹, ›Zweck‹ und ›Funktion‹.

Angenommen, Hirsch könnte zeigen, dass Bedeutungen abstrakte Einheiten sind: Ließe sich auf diese Weise »die ganze Debatte [...] umgehen« (224), die ja nicht zuletzt von Roman Ingarden mitverursacht wurde? Manches spricht gegen diese Einschätzung: So steht die Behauptung, dass die Bedeutung ein losgelöstes Objekt sei, das von mehr als einem Bewusstsein erfasst werden könne, im Widerspruch zur Lokalisierung der Bedeutung im Bewusstsein einzelner Leser. Wenn die Bedeutung ein ominöses Objekt ist, das nicht dem Innenleben der Leser angehört, sondern in irgendeiner Weise zwischen ihnen vorhanden ist, wie soll man dann Ausdrücke wie ›Reproduzierbarkeit der Bedeutung‹ oder ›Korrespondenz der Bedeutungen‹ verstehen, die eine Mehrzahl gleichartiger Bedeutungsvorkommnisse voraussetzen? Abgesehen davon kann das Problem der Zugänglichkeit des Innenlebens durch die Herauslösung der Bedeutung aus dem Bewusstseinsstrom auf Dauer nicht vermieden werden. Denn bei der Aufgabe, einen Zugang zum richtigen Sinngebilde zu bekommen – was auch immer das heißen mag –, stellt sich erneut die Frage, wie man die »bedeutungsverleihenden psychischen Akte eines [...] Subjekts« (215) erschließen und im eigenen Bewusstsein reproduzieren kann. Hirschs Versuch, eine Antwort zu formulieren, ist verworren und zirkulär: »Um als Leser den ›richtigen‹ intentionalen Gegenstand intendieren zu können, sind [...] lediglich intentionale Akte der richtigen Art erforderlich, nicht aber der Zugriff auf die konkreten psychischen Akte des Autors.« (232) Letztlich wiederholt Hirsch die alten Denkmuster: Der Interpret soll Bewusstseinsakte in sich vollziehen, die denen gleichkommen, die der Autor vollzogen hat. Zwar beansprucht er für die ›psychologische Rekonstruktion‹ des Seelenlebens keine absolute Gewissheit, diese Bescheidenheit distanziert ihn jedoch kaum vom herkömmlichen Intentionalismus. Ungewöhnlich an seiner Position ist vor allem die platonisierende Behauptung, dass die im Bewusstsein ablaufenden Akte auf schattenhafte Gebilde gerichtet sind, die von mehr als einem Bewusstseinssubjekt erfasst werden können.

Sneis gibt zu verstehen, dass er den hermeneutischen Intentionalismus unabhängig von Hirschs speziellen Thesen für die richtige Sichtweise hält: »Seit etwa zweieinhalb Jahrzehnten steht bekanntlich die Autorintention sowohl in der (englischsprachigen) analytischen Ästhetik als auch in der (deutschsprachigen) Literaturwissenschaft wieder hoch im Kurs.« (259) Vom Erfolg des Intentionalismus zeuge die »kaum mehr zu überblickende Fülle an Büchern und Aufsätzen [...], die sich [...] mit der Autorinstanz befassen« (ebd.). Viel hängt hier davon ab, was mit ›Autorinstanz‹ und ›Autorintention‹ gemeint ist. Diejenigen, die für den Intentionalismus Partei ergreifen, gehen üblicherweise davon aus, dass das Wort ›Absicht‹ einen inneren Zustand bezeichnet, der die Textproduktion anleitet und den Sinn von Textstellen festlegt. Diese Annahme wird längst nicht von allen Literaturwissenschaftlern geteilt, die das Schreiben und das sonstige Verhalten von Autoren studieren. Auch innerhalb der ›analytischen‹ Philosophie der Geisteswissenschaften gibt es in diesem Punkt verschiedene Ansichten. Literaturforscher, die man mit Otto Neurath als ›Sozialbehavioristen‹ bezeichnen könnte, halten Aussagen über Absichten für relevant und diskutierbar, sie widersprechen jedoch den Auffassungen vom menschlichen Geist und den damit zusammenhängen Auffassungen vom Sprachverstehen, die man bei Eric Hirsch, John Searle, Axel Bühler, Peter Tepe oder Wolfgang Detel findet.

Alles in allem bietet Sneis‘ Buch einen kompetenten, in acht anspruchsvolle Kapitel gegliederten Überblick über die literaturwissenschaftliche Rezeption phänomenologischen Gedankenguts. Die Schwerpunktsetzung ist angemessen – auch wenn man gerne erfahren hätte, was Sneis über Georges Poulet und die Genfer Schule denkt. Der Entschluss, die Gegner der Phänomenologie nicht zu Wort kommen zu lassen, ist nachvollziehbar begründet. Unbeeinflusst von dem anti-positivistischen Affekt, der unter Husserl-Anhägern verbreitet ist, referiert Sneis die Positionen in einer angenehm klaren Sprache und berücksichtigt eine beeindruckende Menge an Forschungsliteratur. Auch wenn man seinen Vorschlag, die Phänomenologie zu aktualisieren, für wenig erfolgversprechend hält, führen die Bemühungen immer wieder zu instruktiven, diskussionswürdigen Resultaten. Eine Darstellung, die das Wagnis eingeht, die Stimmigkeit und Brauchbarkeit vergangener Theoriebildung zu beurteilen, ist in jedem Fall besser geeignet, weiterführende Diskussionen anzuregen, als eine uninspirierte Historisierung. Forscher, die sich – sei es konstruktiv, sei es kritisch – mit der literaturwissenschaftlichen Phänomenologie befassen wollen, sollten diese reichhaltige Arbeit unbedingt lesen.

Anmerkungen

[1] Edmund Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft [1911], in: Husserliana. Edmund Husserls Gesammelte Werke, Bd. XXV: Aufsätze und Vorträge (1911-1922). Hg. von Thomas Nenon u. Hans Rainer Sepp. Dordrecht 1987, 3-62, 10. [zurück]

[2] Ebd., 56. [zurück]

[3] Ebd., 56. [zurück]

[4] Ebd., 61. [zurück]

[5] Ebd., 57. [zurück]

[6] Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk [1931]. Tübingen 1972, 132. [zurück]

[7] Ebd., 116, 121. [zurück]

[8] Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks [1937/1968]. Hg. von Rolf Fieguth und Edward M Swiderski. Tübingen 1997, 25. [zurück]

[9] Ebd., 176. [zurück]

[10] Ebd., 395. [zurück]

[11] Vgl. ebd., 27f., 397. [zurück]

[12] Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk, 389, vgl. 16. [zurück]

[13] Roman Ingarden: Anhang. Gegenstand und Aufgaben des ‚Wissens von der Literatur‘ [1937], in: ders.: Gegenstand und Aufgaben der Literaturwissenschaft. Aufsätze und Diskussionsbeiträge (1937-1964). Hg. und übersetzt von Rolf Fieguth. Tübingen 1976, 1-28, 5. [zurück]

[14] Roman Ingarden: Über die Poetik [1941/42], in: ders.: Gegenstand und Aufgaben der Literaturwissenschaft. Aufsätze und Diskussionsbeiträge (1937-1964). Hg. und übersetzt von Rolf Fieguth. Tübingen 1976, 29-89, 80. [zurück]

2019-05-12

JLTonline ISSN 1862-8990

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