Janina Jacke
Narrative Unzuverlässigkeit erklärt
Robert Vogt, Theorie und Typologie narrativer Unzuverlässigkeit am Beispiel englischsprachiger Erzählliteratur. Berlin/Boston: de Gruyter 2018. Series: Narratologia; 63. [99,95 Euro]. ISBN: 978-3-11-055761-9.
In seiner Monographie Theorie und Typologie narrativer Unzuverlässigkeit am Beispiel englischsprachiger Erzählliteratur leistet Robert Vogt in unterschiedlichen Bereichen Beiträge zur Theorie narrativer Unzuverlässigkeit: Er schlägt eine neue Typologie für unzuverlässiges Erzählen vor, entwickelt unter Rückgriff auf die possible worlds theory ein Modell zur verfeinerten Beschreibung der narrativen Konstellationen bei Unzuverlässigkeit, liefert unter Hinzuziehung der Erkenntnisse der kognitiven Rezeptionswissenschaft eine Erklärung der besonderen Funktionsweise unzuverlässigen Erzählens und diskutiert schließlich das metakognitive Potenzial dieser Erzähltechnik als (eine) zentrale Funktion. Modelle und Thesen testet Vogt darüber hinaus im Rahmen umfangreicher Analysen von insgesamt sieben englischsprachigen Romanen.
Nach einer kurzen Darstellung zentraler Elemente und Desiderate der Forschungsdiskussion zu unzuverlässigem Erzählen (Kapitel I) stellt Vogt in Kapitel II seine eigene Typologie narrativer Unzuverlässigkeit vor. Er weist zu Recht darauf hin, dass in der bisherigen Debatte sehr unterschiedliche Phänomene als ›unzuverlässiges Erzählen‹ bezeichnet worden sind, und schlägt selbst eine dreigliedrige Typologie vor, mit der er die begriffliche Unklarheit beheben will. Zu unterscheiden seien demnach ironische, ambige und alterierte Unzuverlässigkeit.
Ironische Unzuverlässigkeit betreffe das kognitive Zentrum eines Textes (d.h. einen homodiegetischen Erzähler oder eine Fokalisierungsinstanz) und liege immer dann vor, wenn sich ›hinter dem Rücken‹ dieser Instanz eine verfälschte Darstellung, Wahrnehmung oder Bewertung des Geschehens offenbare. Ambige Unzuverlässigkeit setze zwar ebenfalls die Existenz eines kognitiven Zentrums im Text voraus, bezeichnet laut Vogt aber ein Merkmal des narrativen Diskurses und liegt dann vor, wenn der Leser nicht entscheiden kann, ob ein kognitives Zentrum das Geschehen adäquat oder verfälscht darstellt, wahrnimmt oder bewertet. Alterierte Unzuverlässigkeit versteht Vogt ebenfalls als mögliches Merkmal des Erzähldiskurses, das in einer Irreführung des Rezipienten durch manipulative Informationsvergabe besteht.
Obwohl Vogt fraglos recht hat mit seiner Feststellung, dass bisher unzureichend zwischen verschiedenen Unzuverlässigkeitstypen differenziert worden ist, weist sein eigener Unterscheidungsvorschlag einige Schwächen auf. Zum einen scheint seine Typologie schief zu sein: Sein Typ der ambigen Unzuverlässigkeit ist eng an ironische Unzuverlässigkeit gekoppelt, denn ambige Unzuverlässigkeit liege vor, wenn unklar ist, ob der Erzähler oder Fokalisierer ›ironisch-unzuverlässig‹ ist oder nicht. Allerdings sind auch Fälle narrativer Unzuverlässigkeit möglich, in denen unklar ist, ob alterierte Unzuverlässigkeit vorliegt oder nicht. So macht Vogt selbst an späterer Stelle deutlich, dass der Leser im Falle eines für alterierte Unzuverlässigkeit typischen plot twist noch einmal prüfen müsse, ob die hier angebotene neue Lesart des Textes der erneuten Lektüre standhält (vgl. 271). Es müsste dementsprechend also denkbar sein, dass ein Text gegen Ende nahelegt, dass die bisherige Darstellung täuschend war, sich dieser Verdacht aber nicht eindeutig verifizieren lässt. Sollte Vogt sich bewusst dagegen entschieden haben, derartige Fälle als Unzuverlässigkeit zu verstehen bzw. in seine Basistypologie aufzunehmen, müsste er dies deutlich machen und begründen.
Zum anderen wird in Vogts Darlegungen nicht vollständig klar, nach welchem Kriterium sich entscheidet, ob ironische oder ambige Unzuverlässigkeit vorliegt. Dies scheint nicht zuletzt an Vogts kognitiv-rezeptionstheoretischem Ansatz zu liegen, der mit dem ›informierten Leser‹ arbeitet (vgl. 17f.). Liegt ambige Unzuverlässigkeit dann vor, wenn der Text keine eindeutige Lesart zulässt? Oder geht es möglicherweise doch darum, wie konkrete Leser den Text verstehen? Schließlich legt Vogt an mehreren Stellen nahe, dass er es als Evidenz für ambige Unzuverlässigkeit betrachtet, wenn gegensätzliche Thesen bezüglich der Unzuverlässigkeit die Forschungsdebatte prägen.
Auch an Vogts Terminologie sei noch eine kleine Kritik erlaubt: Einen Erzähler oder Fokalisierer als ›ironisch-unzuverlässig‹ zu bezeichnen, wie dies bei Vogt an mehreren Stellen geschieht, legt etwas anderes nahe, als gemeint ist. Denn der Erzähler bzw. Fokalisierer ist hier nicht das Subjekt der Ironie, sondern ihr Objekt.
Nach Einführung der Basistypologie wendet Vogt sich der Frage zu, nach welchen Kriterien die drei Typen jeweils feiner bestimmt bzw. subklassifiziert werden können. Dabei berücksichtigt er insbesondere zwei Aspekte, die an anderen Stellen in der Unzuverlässigkeitsforschung häufig vergessen werden: Zum einen untersucht Vogt die Kombinierbarkeit von Typologien – denn nicht alle Basistypen lassen sich nach denselben Kriterien feiner klassifizieren. Zum anderen macht Vogt deutlich, dass die Antwort auf die Frage nach dem Anwendungsbereich unzuverlässigen Erzählens (»Bei welchen Instanzen kann Unzuverlässigkeit vorkommen?«) für die verschiedenen Typen unterschiedlich ausfällt. Unter Einbeziehung dieser Besonderheiten kommt Vogt zu folgenden Ergebnissen:
Ironische Unzuverlässigkeit könne danach weiter unterschieden werden, ob Erzähler oder Fokalisierer bzw. Darstellung oder Bewertung des Geschehens betroffen seien, ob sich die Unzuverlässigkeit statisch oder dynamisch gestaltet, welchem Figurentyp die betroffene Instanz zuzuordnen ist (›Verrückter‹, ›Naiver‹ etc.) und ob von einer (anderen) Erzählinstanz explizite Korrektivinformationen geliefert werden oder nicht. Nur wenn die Unzuverlässigkeit einem Erzähler zukommt, kann außerdem gefragt werden, ob die Darstellung intentional oder nicht-intentional verfälscht ist.
Ambige Unzuverlässigkeit lässt sich laut Vogt ebenfalls danach differenzieren, ob Erzähler oder Fokalisierer bzw. Darstellung oder Bewertung des Geschehens betroffen sind. Zusätzliche Kriterien sind die Fragen, ob es sich um eine lokale oder um eine globale Erzählstrategie handelt und wie stark der Text selbst die Frage nach der Unzuverlässigkeit des kognitiven Zentrums thematisiert.
Alterierte Unzuverlässigkeit lasse sich schließlich danach weiter unterscheiden, ob die Erzählinstanz homo- oder heterodiegetisch ist, ob die Irreführung durch falsche oder unterschlagene Informationen hervorgerufen wird und ob es sich um eine lokale oder eine globale Strategie handelt. Ist ein homodiegetischer Erzähler betroffen, kann außerdem gefragt werden, ob die Irreführung intentional oder nicht-intentional erfolgt. Weitere Differenzierungsmöglichkeiten ergeben sich aus der Frage, auf welche Aspekte der Erzählung sich die Irreführung bezieht.
Auch bezüglich dieser Ausführungen zu Subklassifikation und Anwendungsbereich gilt wieder: Vogt erkennt treffend die Desiderate der Unzuverlässigkeitsdebatte, aber sein Theorieangebot ist an einigen Stellen angreifbar. Zunächst einmal unterscheidet Vogt bei seiner Diskussion des Anwendungsbereichs nicht ausreichend zwischen unterschiedlichen Erzählertypen: Homodiegetische Erzähler werden beispielsweise mit personalisierten Erzählern gleichgesetzt, heterodiegetische mit allwissenden und stipulierenden (also solchen Erzählern, die selbst als Urheber ihrer fiktionalen Erzählung auftreten). Dadurch bleiben Vogts Überlegungen oft ungenau und unterkomplex. Ein weiteres Problem liegt darin, dass unklar bleibt, warum Vogt manche Subklassifikationsoptionen bei einigen seiner Basistypen anwendet und bei anderen nicht. Warum, beispielsweise, kann das Ausmaß der Unzuverlässigkeit (›lokal‹ vs. ›global‹) nicht auch bei der ironischen Variante bestimmt werden? Warum wird im Rahmen der Subklassifikation bei alterierter Unzuverlässigkeit der Gegenstand der Täuschung so detailliert abgedeckt – der Gegenstand der Unzuverlässigkeit bei den anderen Typen aber gar nicht? Und warum ist nur bei alterierter Unzuverlässigkeit die Frage nach inkorrekten oder unterschlagenen Informationen (mis- vs. underreporting) als Unterscheidungskriterium vorgesehen?
In den Kapiteln III bis VIII widmet Vogt sich dem Hauptanliegen seiner Arbeit: der Entwicklung eines Beschreibungs- und eines Erklärungsmodells für narrative Unzuverlässigkeit. In diesem Kontext macht er zunächst darauf aufmerksam, dass zwischen dem Maßstab und der Erklärung narrativer Unzuverlässigkeit unterschieden werden müsse (Kapitel III). Während der Maßstab durch die Frage adressiert wird, wovon Darstellung, Wahrnehmung oder Bewertung des kognitiven Zentrums bei unzuverlässigem Erzählen abweichen (z. B. von der fiktiven Welt oder dem Normensystem des impliziten Autors), geht es bei der Erklärung darum, die Funktionsweise narrativer Unzuverlässigkeit klarzumachen bzw. das Dilemma aufzulösen, dass im Falle unzuverlässigen Erzählens die fiktive Welt durch den Erzähler vermittelt wird, dessen Aussagen aber zugleich auf die adäquate Darstellung derselben geprüft werden sollen.
Im Hinblick auf den Maßstab konstatiert Vogt, dass die fiktive Welt des jeweiligen Werks den einzigen obligatorischen Maßstab bei unzuverlässigem Erzählen darstellt, denn sowohl die Darstellungen/Wahrnehmungen als auch die Bewertungen des kognitiven Zentrums müssten immer an eben dieser gemessen werden. Eine darüber hinausgehende moralische Bewertung der Erzähl- oder Fokalisierungsinstanz, die sich beispielsweise an den Normen des impliziten Autors bemisst, sei dagegen fakultativ.
Während Vogt hier eine wichtige und zuvor wenig beachtete Unterscheidung thematisiert und richtig damit liegt, dass die fiktive Welt auch bei wertebezogenen Fällen unzuverlässigen Erzählens eine wichtige Größe darstellt, sind seine weiteren Ausführungen nicht an jeder Stelle plausibel. Vogt scheint ohne weitere Erläuterungen davon auszugehen, dass es (in fiktiven Welten) moralische Fakten gibt, die als Maßstab der Bewertungen des kognitiven Zentrums dienen können (vgl. 76). Dadurch legt Vogt sich aber auf die Position des metaethischen Realismus fest, d.h. auf die Position, dass auch in unserer realen Welt gut und schlecht als objektive Eigenschaften in der Welt existieren – oder aber er geht davon aus, dass es nur in fiktiven Welten moralische Fakten gibt, sich diese Welten also in dieser Hinsicht generell von unserer Welt unterscheiden. Beide Annahmen erscheinen mir nicht plausibel. Berücksichtigt man diese Einwände, liefert Vogts Kommentar zum Maßstab unzuverlässigen Erzählens keine ausreichenden Antworten für wertebezogene Unzuverlässigkeitsvarianten.
Für die Entwicklung eines Beschreibungs- und Erklärungsmodells für narrative Unzuverlässigkeit stellt Vogt zunächst textzentrierte, leserzentrierte und Text-, Autor- und Leserseite kombinierende Ansätze vor (Kapitel III) und wählt sodann Ansgar Nünnings kognitivistisches Modell als Basis für seinen eigenen Ansatz, da dieses bereits die für Vogt wichtigen Faktoren des Rezeptionsverhaltens sowie des Wechselspiels zwischen Text und externem Wissen einbezieht. Um genauere Aussagen darüber treffen zu können, wie die Konstruktion bzw. Rekonstruktion fiktiver Welten durch den Leser – und damit auch das Erkennen narrativer Unzuverlässigkeit – vonstattengeht, kombiniert Vogt im Folgenden die Erkenntnisse der Kognitionswissenschaft und der kognitiven Narratologie mit der possible worlds theory, worin zugleich die wichtigste Neuerung seines Ansatzes besteht.
Hier widmet sich Vogt zunächst der Entwicklung eines Beschreibungsmodells (Kapitel IV). Die zentrale Idee besteht darin, fiktive Universen als aus unterschiedlichen Welten bestehende Systeme zu betrachten, die aus der textual actual world (TAW) und zahlreichen possible worlds (PW) – den subjektiven, mentalen ›Welten‹ der Figuren – bestehen. Figurenwelten spalten sich in unterschiedliche Teilwelten: knowledge worlds (was eine Figur weiß, nicht weiß oder glaubt), intention worlds (die Handlungsziele einer Figur), wish worlds (Wünsche, Bedürfnisse, Triebe), obligation worlds (Normen- und Wertesysteme) und fantasy universes (Träume, Phantasien oder intradiegetische Fiktionen). Neben den mentalen Welten gewöhnlicher Figuren kommen in Vogts Modell Erzähler-, Fokalisierer- und Adressatenwelt vor, die Sonderrollen einnehmen.
Die ›intrauniversen Relationen‹, d.h. die Relationen zwischen den genannten Welten, dienen Vogt nun als Beschreibungsmodell für narrative Unzuverlässigkeit. Er erachtet Konflikte zwischen Weltmodellen als konstitutiv für unzuverlässiges Erzählen, da diese auf eine mögliche Diskrepanz zwischen Erzählerwelt und TAW hindeuten (vgl. 82). Indem mithilfe der neuen Terminologie deutlich gemacht wird, welche Welten miteinander in Konflikt stehen oder innerhalb welcher (Einzel-)Welten Konflikte erkennbar sind, kann narrative Unzuverlässigkeit in konkreten Werken exakter beschrieben und analysiert werden. Vogt dekliniert dies für die unterschiedlichsten Konfliktmöglichkeiten ausführlich durch.
Tatsächlich – und dies zeigen später auch die in den Kapiteln VI, VII und VIII stattfindenden Werkanalysen – entwickelt Vogt hier ein hilfreiches Beschreibungsmodell, mit dessen Hilfe sich interessante Konstellationen bei narrativer Unzuverlässigkeit detailliert analysieren lassen. Zwei kleine kritische Anmerkungen seien aber dennoch erlaubt: Zum einen wird der Weltbegriff bei Vogt (– und auch insgesamt oft bei der literaturwissenschaftlichen Adaption der possible worlds theory –) inflationär genutzt. Ist es wirklich plausibel, beispielsweise die Absichten einer Figur als eigene ›(intention) world‹ zu bezeichnen? Zum anderen fehlt es Vogts Theorie an einer klaren Unterscheidung zwischen Indikatoren für Unzuverlässigkeit und der Unzuverlässigkeit selbst. Vogt schreibt:
In dem hier vorgeschlagenen Modell sollen Konflikte zwischen Weltmodellen konstitutiv für narrative Unzuverlässigkeit sein, da diese auf eine mögliche Diskrepanz von Erzählerwelt zu TAW deuten. (82)
Dies erscheint allerdings widersprüchlich: In Vogts Definitionen der drei Basistypen wird die (im Falle ambiger Unzuverlässigkeit in Frage stehende) Diskrepanz zwischen Erzählerwelt und TAW als notwendig für unzuverlässiges Erzählen herausgestellt. Wenn dies der Fall ist, können allerdings nicht beliebige Weltkonflikte konstitutiv für Unzuverlässigkeit sein, da viele nur auf die Möglichkeit dieser Diskrepanz hindeuten.
Vogts ›Welten-Konflikt‹-Modell und die damit einhergehende Terminologie können nicht nur als Beschreibungsmodell, sondern auch als Basis eines Erklärungsmodells für narrative Unzuverlässigkeit dienen. Dafür muss allerdings zunächst unter Hinzuziehung kognitionswissenschaftlicher Erkenntnisse deutlich gemacht werden, wie die Konstruktion bzw. Rekonstruktion fiktiver Welten durch den Leser vonstattengeht (Kapitel V). Vogt erläutert, wie Leser bei der Rezeption literarischer Texte mentale Modelle des Geschehens (›Situationsmodell‹) und der intratextuellen und extratextuellen Kommunikationssituation (›Kontextmodelle‹) bilden. Hier interessiert sich Vogt primär für die Frage, wie textuelles Wissen und textexterne Informationen bei der Bildung mentaler Modelle zusammenspielen: Die Inferenzbildung des Lesers ist besonders durch das Bestreben geleitet, Kohärenz herzustellen und Erklärungen für textuelle Phänomene zu finden. Generell greift dabei in den meisten Fällen zunächst das principle of minimal departure, d.h. der Leser operiert so lange mit textexternem Wissen und greift auf bekannte Schemata zurück, wie der Text dies erlaubt. Erst wenn dies nicht (mehr) möglich ist, funktionieren Kohärenzbildung und Verstehen primär (text-)datengesteuert, was um einiges aufwendiger ist.
Bei der Rekonstruktion des Situationsmodells, also der TAW, geht es zum einen um deren ›physisch-physikalische‹ Beschaffenheit (d.h. die Ereignisse inklusive Figuren und räumlicher Ausgestaltung), zum anderen um die abstrakte Beschaffenheit (d.h. ihre Regeln bzw. die story world logic) – auch hier greift meist das principle of minimal departure. Bei der Bildung mentaler Modelle von Figuren spielen ebenfalls äußere, physikalische Eigenschaften und ›innere‹ Eigenschaften eine Rolle – letztere spalten sich in langfristige Eigenschaften und kurzfristige mentale Zustände, die Figurenwelten. Für die Rekonstruktion dieser Aspekte durch den Leser sind allgemeine Persönlichkeitstheorien und das Wissen um bestimmte Figurentypen relevant. Die Zuschreibung von mentalen Zuständen (Figurenwelten) funktioniert unterschiedlich bei nicht-fokalisierten, fokalisierten und erzählenden Figuren. Bei nicht-fokalisierten Figuren spielt mind reading eine zentrale Rolle, d.h. es werden aufgrund des situativen Verhaltens und des äußeren Erscheinungsbildes der Figuren Hypothesen über Überzeugungen, Intentionen etc. aufgestellt. Mind reading beeinflusst auch die moralische Bewertung von Figuren durch den Leser. Bei fokalisierten Figuren erhält der Leser direkten Einblick in die Psyche und kann nachverfolgen, wie die Figur die fiktive Außenwelt und die Intentionen und Motive anderer Figuren rekonstruiert. Bei der Rekonstruktion von Erzählerwelten muss der Leser den situativen und intratextuellen Kontext, also Ort, Zeit und Adressaten, mit einbeziehen. Schließlich bildet der Leser sich auch noch ein mentales Modell vom extratextuellen Kontext, also u.a. den Intentionen des Autors. Auch hier werden Textdaten und extratextuelles Wissen herangezogen. Besonders zentral ist die Frage nach den Autorintentionen bei der Einordnung textueller Widersprüche (s.u.).
Informationen, die der Text liefert, werden nicht direkt in mentale Modelle übersetzt, sondern der Leser bildet zunächst ›Metarepräsentationen‹, bei denen im Text gelieferte Informationen einer Informationsquelle zugeordnet werden. Je nach Glaubwürdigkeit der Informationsquelle werden den Propositionen im Rahmen des sogenannten source monitoring Wahrheitswerte bzw. Sicherheitswerte zugeschrieben und laufend geprüft.
Mentale Modelle werden im Verlauf der Rezeption überprüft und gegebenenfalls revidiert. Dabei ist jedoch der primacy effect zu beachten, d.h. erste Entwürfe sind oft langlebig, da die Revision einen hohen Aufwand für den Leser bedeutet. Durch strategischen Einsatz der Informationsvergabe können beim Leser affektive Reaktionen wie Spannung und Neugier hervorgerufen werden, die seine Aufmerksamkeit beeinflussen. Dadurch lassen sich bestimmte Effekte unzuverlässig erzählter Texte erklären.
Mit den skizzierten Erkenntnissen aus possible worlds theory und kognitiver Rezeptionstheorie lassen sich nun die Rezeptionsprozesse genauer fassen, die bei den drei von Vogt unterschiedenen Unzuverlässigkeitstypen ablaufen. Im Falle ironischer Unzuverlässigkeit kann der Leser unterschiedliche Welten erkennen und unterscheiden, Konflikte zwischen diesen identifizieren und die Konflikte zulasten des Erzählers oder Fokalisierers auflösen. Die erkannten Weltkonflikte können explizit oder implizit sein. Explizite Weltkonflikte werden Vogt zufolge nur als solche verstanden, wenn der Leser davon ausgeht, dass der Autor die Konflikte intentional im Text untergebracht hat. Implizite Weltkonflikte können beispielsweise durch mind reading erkannt werden (– die subjektiven Welten anderer Figuren stehen dann in Konflikt zu denjenigen von Erzähler oder Fokalisierer) oder durch Diskrepanz zur vom Leser angenommenen story world logic. Bei der Auflösung dieser Konflikte greift der Leser auf die Kompetenzen zurück, die er den unterschiedlichen Instanzen zuordnet. Dabei spielen shared actual worlds (also Welten, die mehrere Figuren teilen) eine wichtige, oft autoritative Rolle. Zudem werden Erzähler Fokalisierern gegenüber grundsätzlich privilegiert – und bei Normen werden diejenigen, die dem Autor zugeschrieben werden, als autoritativ verstanden.
Bei ambiger Unzuverlässigkeit kann der Leser zwar verschiedene Welten unterscheiden, das eindeutige Erkennen und Auflösen von Weltkonflikten bereitet ihm allerdings Probleme – er kann also kein kohärentes Situationsmodell und kein kohärentes mentales Modell der relevanten Instanz bilden. Bei expliziten Weltkonflikten sei oft unklar, ob es sich um vom Autor intentional gesetzte handelt. Potenzielle implizite Weltkonflikte können häufig nicht eindeutig identifiziert werden, da das Verhalten von Figuren unterschiedlich gedeutet werden kann, die Ergebnisse des mind reading also uneindeutig sind. Das Auflösen erkannter Konflikte fällt dem Leser beispielsweise dadurch schwer, dass es keine shared actual world gibt oder dass sich die Vertrauenswürdigkeit der Informationsquellen nicht klar bestimmen lässt.
Im Falle alterierter Unzuverlässigkeit schließlich kann es unterschiedliche Ursachen dafür geben, dass der Leser zunächst falsche Annahmen über die fiktive Welt aufstellt: Er erkennt subjektive Welten nicht oder ordnet diese falschen Figuren zu, er erkennt keine Konflikte, er löst die Konflikte falsch auf oder er findet falsche Erklärungen für die Konflikte. Dabei kann eine zunächst fehlende Markierung dafür sorgen, dass eine homodiegetische Erzählsituation oder das Vorhandensein eines Fokalisierers nicht bemerkt wird. Durch zurückgehaltene Informationen kann es geschehen, dass Weltkonflikte nicht wahrgenommen werden, wodurch Fehler beim mind reading auftreten können. Noch wichtiger erscheint hier aber die Möglichkeit, durch Sympathielenkung und Spannungsaufbau den Leser die Konflikte ignorieren oder alternativ auflösen zu lassen. Falsche Auflösungen von erkannten Konflikten können dadurch zustande kommen, dass mehrere Figuren sich irren (falsche ›shared actual world‹).
Die Kapitel V bis VIII stellen den stärksten Teil von Vogts Arbeit dar. Die Ausführungen darüber, wie Leser fiktive Welten rekonstruieren und narrative Unzuverlässigkeit erkennen können, sind aufschlussreich und überzeugend. Obwohl auch hier nicht immer vollständig klar wird, ob dem Leser eine autoritative Rolle bei der Zuschreibung narrativer Unzuverlässigkeit (z. B. bei der Unterscheidung zwischen ironischer und ambiger Unzuverlässigkeit) zukommt bzw. inwieweit Unzuverlässigkeitsurteile dem Text angemessen sein müssen, übersteigen Vogts Ausführungen andere kognitivistische Beiträge bei weitem an Klarheit, Informativität und Plausibilität. Auch mithilfe der praktischen Werkanalysen liefert Vogt so, wie angekündigt, eine umfangreiche Erklärung des Phänomens Unzuverlässigkeit.
Auch in Bezug auf diesen Teil der Arbeit lassen sich allerdings zwei kritische Anmerkungen anbringen – beide beziehen sich auf die Rolle der (vom Leser unterstellten) Autorintention für Unzuverlässigkeit. Obwohl Vogt mit vielen Unzuverlässigkeitstheoretikern auf einer Linie liegt, wenn er es als notwendiges Kriterium für Unzuverlässigkeit versteht, dass ›Weltkonflikte‹ vom Autor intentional angebracht worden sein müssen, um als Unzuverlässigkeit zu gelten, scheint mir hier mehr Begründungsaufwand geboten. Narratologische Kategorien sind gemeinhin nicht konzeptuell an interpretationstheoretische Auffassungen (– wie diejenige, dass Autorintentionen für das Verstehen literarischer Texte relevant sind –) gekoppelt, sondern haben den Vorteil, dass sie im Rahmen unterschiedlicher Interpretationsansätze genutzt werden können. Wenn ein bestimmtes erzähltheoretisches Konzept per Definition an Autorintentionen gekoppelt werden soll, dann wird ihm dadurch zum einen eine Sonderrolle unter den narratologischen Kategorien zugeschrieben, zum anderen wirkt diese Entscheidung aktiv der flexiblen Anwendbarkeit des Konzepts entgegen. Warum narrativer Unzuverlässigkeit so eine Sonderrolle zukommt, ist nicht unmittelbar ersichtlich und muss – besonders vor dem Hintergrund der eingeschränkten Anwendbarkeit – besonders gut begründet werden.
Zum anderen erscheint es merkwürdig, es als Fall ambiger Unzuverlässigkeit zu werten, wenn die Autorintention sich nicht eindeutig feststellen lässt, ist dieser Fall doch den typischen Fällen ambiger Unzuverlässigkeit zu unähnlich.
Bevor Vogt seine Arbeit in Kapitel X mit Fazit und Ausblick beschließt, diskutiert er noch eine zentrale Funktion unzuverlässigen Erzählens, die bei allen drei Typen in unterschiedlicher Ausformung auftritt (Kapitel IX). Vogt spricht hier vom ›metakognitiven Funktionspotenzial‹ narrativer Unzuverlässigkeit: Das Erzählphänomen diene oft dazu, den Fokus auf kognitive Prozesse zu richten bzw. darauf, wie (fiktive) Realität konstruiert wird. Dabei geht es bei ironischer Unzuverlässigkeit darum, wie das kognitive Zentrum des Textes (also der homodiegetische Erzähler oder der Fokalisierer) die Welt wahrnimmt und wie es mind reading und source monitoring betreibt. Bei ambiger Unzuverlässigkeit stehen sowohl die mentalen Prozesse des kognitiven Zentrums im Fokus (»Ist es zuverlässig oder unzuverlässig?«) als auch diejenigen des Rezipienten, da dieser Schwierigkeiten hat, eindeutige mentale Modelle bezüglich des Textes zu bilden. Bei alterierter Unzuverlässigkeit liegt schließlich der Fokus auf dem Rezipienten, der durch den Text in die Irre geführt wurde.
Obwohl Vogt sich dem bisher wenig systematisch adressierten Funktionsaspekt unzuverlässigen Erzählens hier nur kursorisch widmet, sind seine Überlegungen ebenso überzeugend wie elegant in ihrer Einfachheit.
Insgesamt lässt sich sagen, dass Vogts Arbeit als eine der wenigen, die sich in Monographielänge der Theoriebildung zu unzuverlässigem Erzählen widmen, eine durchaus lohnende Lektüre darstellt, die sich vor allem durch ihre ausführliche kognitionswissenschaftliche Erklärung der Funktionsweise unzuverlässigen Erzählens auszeichnet und zudem interessante Anknüpfungspunkte für die weitere Erforschung der Funktion des Phänomens liefert.
2019-05-20
JLTonline ISSN 1862-8990
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