A. Florian Pahlke
Die Schmuddelecke der Literatur(wissenschaft)
Johannes Franzen, Indiskrete Fiktionen. Theorie und Praxis des Schlüsselromans 1960–2015. Göttingen: Wallstein 2018. 456 S. [39,90 EUR]. ISBN: 978-3-8353-3217-1.
Johannes Franzen hat mit seiner Dissertationsschrift Indiskrete Fiktionen eine Monographie vorgelegt, welche sich der, wie er es wohl nennen würde, eher verpönten und somit schmuddeligen Sphäre der Skandalliteratur widmet. Der Band mit dem Untertitel »Theorie und Praxis des Schlüsselromans 1960–2015«, erschienen beim Wallstein-Verlag in Göttingen, macht es sich zum Anspruch, mittels ausgewählter Schlüsselromane und von ihnen ausgelösten Skandalen danach zu fragen, was Literatur darf, welche Verantwortung ein Autor[1] trägt, wie man eigentlich richtig liest und wie gerade die Gattung der Schlüsselromane sich für die Beantwortung solcher Fragen eignet. Das Anrüchige, was dem Schlüsselroman dabei aufgrund seiner Wirklichkeitsreferenz auch zum intim-privaten Bereich realer Personen anlastet, möchte Franzen dabei nicht literaturwissenschaftlich rehabilitieren. Vielmehr geht es ihm darum, das Produktive in diesem Irritationspotenzial hervorzuheben und zu analysieren. Die Grundproblematik – und somit auch Schwierigkeit für die Korpusbildung –, die alle Schlüsselromane eint, besteht darin, nicht einfach nur definitorisch unter dem Begriff gefasst zu werden, sondern immer auch einem damit einhergehenden denunziatorischen Vorwurf ausgesetzt zu sein. Sie wird somit zum Prüfstein, um fiktionstheoretische, gattungstheoretische und literatursoziologische Fragen in Anschlag zu bringen. Gleichzeitig versucht er damit auch, einen »Teil der Konfliktgeschichte des literarischen Feldes seit den 1960er Jahren zu rekonstruieren« (22). Die Arbeit changiert daher notwendigerweise zwischen expliziten Aussagen über einzelne Bücher und allgemeinen Fragestellungen literaturtheoretischer Natur. Dieser Anspruch, beides miteinander zu verweben, hebt die Arbeit deutlich von einer bloßen und sicherlich fleißigen Literaturgeschichtsschreibung ab, auch weil Theorie und Praxis hier ganz dem Titel gemäß miteinander verknüpft werden.
In sechs größeren Kapiteln nähert sich der Autor der Gattung des Schlüsselromans an. Nachdem er zu Beginn (Kapitel 1) die allgemeinen Schwierigkeiten herausgestellt hat, geht er spezifischer auf Probleme ein, die Schlüsselromane für Fiktionstheorien (Kapitel 2) und Gattungstheorien (Kapitel 3) bereithalten. Daraufhin widmet sich Franzen vor allem dem Schlüsselroman als literarischem und sozialem Ereignis (Kapitel 4), welches sich immer aus der divergierenden Perspektive vom Autor als Täter (Kapitel 5) und dem Leser als Opfer (Kapitel 6) betrachten lässt und sich gerade deshalb auch als literarisches Kampfmittel (Kapitel 7) einsetzen lässt. Allen Kapiteln gemein ist, dass Franzen mit vielen Beispielen arbeitet und einen umfangreichen Fundus an Schlüsselromanliteratur einfließen lässt, um seine jeweilige argumentative Linie zu unterfüttern.
Die fiktionstheoretische Sicht (Kapitel 2) auf das Phänomen Schlüsselroman greift Franzen einerseits unter der großen Fragestellung auf, welche Rezeptionserwartungen mit fiktionaler Literatur einhergehen. Diese Betrachtung spitzt er jedoch schnell und problemorientiert auf sein Erkenntnisinteresse zu: Er rückt insbesondere die Frage nach der Herausforderung für fiktionstheoretische Debatten in den Fokus, wenn es darum geht, Schlüsselromane als eigentlich fiktionale Texte mit allerdings vermeintlich faktualen Figuren zu beschreiben. Die Fiktionsunsicherheit, die entsteht, wenn hinter den Figuren deutlich reale Vorbilder erkennbar werden und somit sogar die Fiktivität der Figuren in Frage steht, sorgt auf Leserseite für eine deutlich erschwerte Rezeption, ermöglicht es aber auch, das Potenzial fiktionaler Literatur in ihren Grenzbereichen auszuloten. Franzen wägt dabei vorsichtig ab zwischen Leserinteressen, die boulevardesk daherkommen, und Autorinteressen, die allzu leicht hinter den Begriffen der Literarizität und Fiktionalität versteckt werden können, um eventuelle moralische Grenzverletzungen zu rechtfertigen. Deutlich wird vor allem die Schwierigkeit, die Grenze zwischen Verschlüsselung realer Personen und Ereignisse und deren literarischer Verarbeitung zu verorten und zu beschreiben. Diese Grenzziehung wird letztlich zum Leitfaden für die gesamte Arbeit. Auf der fiktionstheoretischen Ebene versucht Franzen die eng damit verbundene Unterscheidung von Fiktionalität und Faktualität weder in einen Autonomismus aufzulösen und die Unterscheidung als absolute zu rechtfertigen, noch die Grenze im Sinne eines Panfiktionalismus zu nivellieren. Stattdessen etabliert Franzen mit dem Begriff des ›pseudo-fiktiven Objekts‹ eine Beschreibungsmöglichkeit, um solche verschleierten Referenzen wie in Schlüsselromanen vorkommend zu bezeichnen. Der Begriff eignet sich im Kontext der institutionellen Theorie von Fiktionalität äußerst gut, um zu erklären, dass Schlüsselromane aufgrund dieser Objekte die Grenze zwischen Fiktionalität und Faktualität ständig neu in Frage stellen und unter Umständen auch verschieben, ohne sie dabei letztgültig zu negieren. Die Wahl für eine solche Theorie als Grundlage seiner Erklärung des Schlüsselromans ist nachvollziehbar und funktioniert auf Mikroebene der Fiktionalitätstheorie ebenso gut wie auf narrativ-semantischer, wie Franzens Ausführungen im Detail belegen. Allerdings spart Franzen die fiktionstheoretische Perspektive auf Makroebene aus und deutet lediglich eine kompositionalistische Sichtweise an. Das ist einerseits plausibel, da die Arbeit gerade keinen fiktionstheoretischen Beitrag leisten möchte, sondern vorwiegend eine Analyse der Gattung des Schlüsselromans mit Hilfe des dafür gegebenen Instrumentariums liefern möchte, andererseits positioniert sich Franzen dabei notwendigerweise innerhalb einer fiktionstheoretischen Sichtweise. Dies ist jedoch kein Problem, welches für Franzens Arbeit im Speziellen gilt, sondern eine grundsätzliche Schwierigkeit einer Arbeit auf der Grenze zwischen Theorie und Empirie. Für die vorliegende Arbeit hat dies zur Folge, dass einige Passagen das verwendete fiktionstheoretische Vokabular recht knapp abhandeln. Für die Ziele der Arbeit ist das an den meisten Stellen auch völlig ausreichend. Die damit einhergehenden fiktionstheoretischen Implikationen stärker auszuführen wäre dennoch eine Überlegung wert gewesen. So zeigt Franzen deskriptiv beispielsweise mehrfach gut auf, welche Ebenen von Anspielungen, Inspiration und verschlüsselter Referenz im Schlüsselroman ihren Platz finden. Diese Differenzierungen ließen sich in der Terminologie kritischer einfangen. Es hätte sich beispielsweise angeboten, die Arten der Referenz weiter aufzuschlüsseln und Anspielungen als eine Form von Quasi-Referenz auszuzeichnen. So würde die starke Postulation und somit theoretische Festlegung aufgrund der Verbindung von Referenz und Faktualität zumindest etwas abgeschwächt werden und es böte sich dennoch die Möglichkeit zu weiteren theoriegeleiteten Anschlussfragen, die dann legitimerweise in anderen Arbeiten abgehandelt werden dürfen.
Nach Festlegung der Basis der Beschreibungsmöglichkeiten widmet sich Franzen im gattungstheoretischen dritten Kapitel der Frage, was ein Schlüsselroman sei. Seine Antwort findet sich in der Einteilung von Schlüsselromanen in die Kategorien ›satirisch-öffentliche‹ und ›autobiografisch-private‹, die er somit am Personal des Romans festmacht. Erstere haben bekannte und in der Öffentlichkeit stehende Personen zum Inhalt, der autobiografische Roman spielt dahingehend im näheren und nächsten Umfeld des Autors. Die Definition greift dabei auf alle größeren und wichtigen Arbeiten zurück, die bislang zum Schlüsselroman erschienen sind und setzt sich aufgrund der stärkeren Ausdifferenzierung deutlich von diesen ab. Franzen merkt dabei zurecht an, dass es sich bei den beiden Formen nur um zwei Extreme auf einer Linie handelt. Beiden Formen ist es gemein, dass der romanhafte Charakter den Autor einerseits zwar rücksichtslos mit dem vermeintlich fiktiven Personal umgehen lassen kann, wobei eine nähere Betrachtung andererseits in Frage stellt, ob es sich wirklich um fiktive Figuren handelt oder nicht doch eine referenzialisierende und mit Anspruch auf Wahrheit verbundene Lektüre angemessen ist. Die Schwierigkeit liegt nun gerade darin begründet, dass es ein äußerst komplexes Spiel zwischen Autor, Text und Rezipienten ist, was ein solches Werk überhaupt erst zum Schlüsselroman macht. Gerade aufgrund seines eher pejorativen Charakters gehört es beispielsweise dazu, dass Autoren sich von dem Vorwurf distanzieren, einen solchen Roman geschrieben zu haben. Gleichzeitig bedarf es aber bestimmter Facetten auf textueller Ebene und im Kontext des Romans, die einen Vorwurf der Art legitimieren. Die Frage, was also einen Schlüsselroman ausmacht und wie er zu beschreiben ist, lässt sich weder fiktions- noch literaturtheoretisch einfach beantworten, sondern muss von verschiedenen Seiten aus betrachtet werden. Aus diesen Überlegungen heraus ist es nur nachvollziehbar und konsequent, den Schlüsselroman aus Autoren- und Lesersicht und dabei nicht nur als Kunstobjekt zu betrachten, sondern auch als soziales Ereignis.
Ein Schlüsselroman wird, das macht Franzen im vierten Kapitel deutlich, nicht einfach geschrieben. Er muss als solcher auch erkannt werden und der Sachverhalt, dass es sich um einen Schlüsselroman handelt, muss Bekanntheit erlangen. Eine verschlüsselte Person, die nicht entschlüsselt wird, wirft schließlich keine Fragen auf, wie es beispielsweise um den persönlichen Schutzraum der realen Personen bestellt ist, und ob dieser durch einen Roman angegriffen werden kann. Franzen zeigt anhand mehrerer Beispiele auf, welche Voraussetzungen es braucht, damit ein Schlüsselroman als solcher publik wird, und dass er dabei äußerst kontextabhängig und zeitsensitiv ist. Der Autor muss beispielsweise einen gewissen Insiderstatus oder Bekanntheitsgrad haben, er muss also Informationen und Wissen besitzen, das er teilen kann, an dem aber auch ein gemeinschaftliches Interesse besteht. Dieses Interesse kann äußerst divergent ausfallen, so kann es etwa um interne Prozesse bei Verlagen gehen, oder darum, dass private Details der Ex-Freundin ausgeplaudert werden. Das Interesse an solchen Geschichten, an der vermeintlich journalistischen Neugier hinter dem Roman, bringt diesem auch den Vorwurf der Schmuddelliteratur, des Boulevardmediums ein. Dementsprechend wichtig ist für die Platzierung eines Schlüsselromanskandals auch die Rolle der Medien und der Leser. Die Rolle des Rezipienten ist dabei auch durchaus problematisch. Einerseits wird eine Reaktion aufgrund der (moralischen) Grenzverletzungen als notwendig erachtet, andererseits ist jegliche offensichtliche Auseinandersetzung mit dem Text gleichzeitig auch Reproduktion dessen Wirkungsmacht. Der Schlüsselroman benötigt also gerade die Leser, die ihm vorwerfen, Schlüsselroman zu sein. Immer wieder hebt Franzen dabei auch die Frage hervor, was eigentlich einen guten Leser ausmacht und wovon die richtige Rezeptionshaltung abhängig ist und bindet seine Betrachtungen somit an genuin literaturwissenschaftliche Fragen an. Diese Fragen wiederum stellt er nicht nur aus Sicht der Rezipienten, sondern auch aus Autorensicht.
Aus deren Perspektive liegt die Verteidigungsstrategie nah, darauf hinzuweisen, dass der Leser die gebotene Literatur nicht als das wahrnähme, was sie eigentlich sei: fiktionale Aussage ohne Wahrheitsanspruch. Gleichzeitig – so wurde es in der Arbeit äußerst prägnant aufgezeigt – unterminiert der Autor jedoch gekonnt all das, was Romane ansonsten ausmacht. Die Verschlüsselung der Figuren, die Präsentation der eigenen Autorschaft und teilweise auch das eigene poetologische Verständnis lassen immer wieder Zweifel daran aufkommen, ob es sich tatsächlich um fiktionale Literatur handelt. Franzen spielt im fünften Kapitel die gesamte Bandbreite der Möglichkeiten durch, die der Autor in seinem Versteckspiel hinter der Fiktion nutzen kann und wie er dessen Brüchigkeit gleichermaßen perpetuiert: Sowohl textinterne Strategien der Verschlüsselung als auch öffentliche Äußerungen im Nachhinein, biographische Lektüreangebote und das Hinweisen auf diese bei gleichzeitiger Ablehnung, Fiktionen als Aussagen über die reale Welt zu verstehen, finden dabei ihre Betrachtung. Dafür analysiert Franzen nicht nur einzelne Fälle von Schlüsselromanen hinsichtlich der Frage, wie der Autor die Fiktionsunsicherheit gleichermaßen nährt wie abzustreiten versucht, sondern wirft insbesondere mit Billers ›radikalem Realismus‹ auch einen Blick auf einen gänzlich anderen und oftmals wenig betrachteten Aspekt: Die dahinterstehende »Poetologie der Rücksichtslosigkeit« (245), wie Franzen sie nennt, beruft sich gerade auf das Credo, dass gute Literatur nur dort entstehen könne, wo wahre Ereignisse ihr zum Material dienten und nicht nur zur Inspiration. Eine solche Prämisse lässt den Vorwurf, das Leben Anderer zu verarbeiten, gerade als Bestätigung aufscheinen, gute Literatur geschrieben zu haben. Billers Literatur und Literaturverständnis nimmt Franzen zufolge dabei eine Mittelposition zwischen ›verarbeiten‹ und ›verschlüsseln‹ ein. Das Kapitel ist damit nicht nur eine Abhandlung über Autorenstrategien im Kontext von Schlüsselromanen, sondern diskutiert insbesondere das Konzept der Autorschaft und was der Autor sich zum Material nehmen darf.
Die Lesehaltung, die Rezipienten von Schlüsselromanen annehmen, lässt sich insbesondere anhand der betroffenen Personen auf den Punkt bringen: Einerseits proklamieren sie für sich, die dargestellte Person in der Romanfigur zu sein, weisen aber gleichzeitig darauf hin, dass die (negative) Darstellung nicht mit ihrer Person übereinstimme. Es herrscht also eine gewisse Ambivalenz auf Leserseite vor, die zwischen Indiskretion und Verleumdung durch den Autor angesiedelt ist. Anhand verschiedener historischer Beispiele zeigt Franzen die Topik und Bildersprache dieser »Opfer der Literatur« (305) auf, die sich um die Kälte des Autors und die Instrumentalisierung der angeeigneten Erfahrungen anderer dreht. Unter dem Begriff der ›narrativen Enteignung‹ widmet er sich im sechsten Kapitel der literaturwissenschaftlichen Frage, wie innerhalb der Literaturberichtserstattung mit der literarischen Verwertbarkeit eines Lebens umgegangen wird. Die juristische Perspektive spart Franzen dabei explizit und zurecht aus, da es dazu schon genügend Material gibt. Stattdessen stellt er unter anderem heraus, wieso eine fiktionale Umsetzung der realen Ereignisse und Personen oftmals von den Rezipienten als Opfern als besonders destruktiv wahrgenommen wird: Aufgrund des fiktionalen Kontextes fällt die Option auf Leserseite aus, sich auf Ebene des Faktualen zu verteidigen – es gibt schlicht keine Falschaussage, die zu revidieren ist, obwohl dieses Gefühl fortwährend präsent ist. Gleichzeitig hat die Abbildung der eigenen Person in einem Schlüsselroman ganz reale Konsequenzen auf das reale Leben – indem beispielsweise Freunde und Bekannte Intimes über einen erfahren oder zumindest fragen, ob es sich dabei um wahre Behauptungen handelt. Insbesondere stellt Franzen dabei auch heraus, wie schmal der Grat zwischen der Angemessenheit einer literarischen Verarbeitung und der unangemessenen Aneignung eines Themas oder Lebens ist. Es zeigt sich auch hier, dass die Akzeptanz der Verarbeitung in einem hohen Maße von anderen Faktoren abhängig ist und unter anderem auch davon abhängt, ob die verschlüsselte Person eine Privatperson oder eine Person des öffentlichen Interesses ist. Der Autor muss auf jeden Fall in gewisser Weise legitimiert sein, den gewählten Stoff niederzuschreiben – indem er die Person beispielsweise kennt –, obwohl er gerade auch deshalb Grenzen überschreitet. Am Beispiel der Aktualität der behandelten Themen in Schlüsselromanen zeigt Franzen auf, dass historische Romane hingegen unproblematisch erscheinen, weil die Personen historischer Natur sind und somit keine moralischen Konflikte vorzuliegen scheinen. Schlüsselromane sind somit immer tagesaktuelle Werke. Das Kapitel zeigt dabei eindrucksvoll auf, dass selbst geübte Leser, die um Konzepte wie den Fiktionspakt wissen, sich in der Grauzone eines Schlüsselromans zu verlieren scheinen. Besonders spannend – und durchaus auch humorvoll – kann das zudem werden, wenn die Problematik durch einen Roman selber gespiegelt und reflektiert wird. Franzen führt als Beispiel die Satire Small World von David Lodge an, welche in humoristischen Dialogen aufzeigt, was passiert, wenn zwei Menschen aufeinandertreffen, die sowohl Leser als auch Autor von Schlüsselromanen sind und somit mit der ständigen Erwartung konfrontiert sind, dass das eigene Leben zum literarischen Motiv gemacht werden könnte.
Nicht nur eine fiktionale Satire, sondern eine reale Umsetzung einer solchen Konstellation findet sich dann, wenn zwei Romane als miteinander verbunden, als Antwort oder Replik gelesen werden. So lässt sich beispielsweise der Roman Nachtgeschwister von Natascha Wodin als Antwort auf Das Provisorium von Wolfgang Hilbig lesen, indem jeweils die eigene Sicht auf die vergangene Beziehung der beiden Schriftsteller miteinander geworfen wird. Franzen zeigt neben solchen tatsächlich stattgefundenen Konversationen mittels Schlüsselromanen im siebten Kapitel seiner Arbeit auch innerliterarische Überlegungen auf, die von Schriftstellern in ihren Büchern selbstreflexiv dazu durchgeführt wurden. Es zeigt sich dabei, dass Schlüsselromane als vermeintlich fiktionale Texte nicht von der Faktualität aus angreifbar sind, von der selben Ebene des Schlüsselromans allerdings eine adäquate Antwortmöglichkeit bieten. Wo es auf Ebene der Faktualität unmöglich ist, sich einer Darstellung durch einen Roman zu erwehren, scheinen literarische Alternativen somit als interessante Option auf, die eigene Sicht auf die dargestellte Welt zu zeigen und somit den Problemen einer faktualen Richtigstellung zu entgehen. Schlüsselromane weisen somit nicht nur die harte Grenze des juristischen Publikationsverbotes auf, mit dem gedroht werden kann, ihnen kann zumindest auf literarischer Ebene auch ein Gegenentwurf entgegengesetzt werden, der deutlich spielerischer mit der moralischen Fragwürdigkeit der Indiskretion umgeht, indem er sie weiterspielt und umschreibt – und ihr somit die Schärfe nimmt, anstatt sie gänzlich anzuerkennen.
Insgesamt leuchtet Franzen in seiner Dissertationsschrift das Konfliktpotenzial von Schlüsselromanen in seiner produktiven Qualität für die Literaturwissenschaft und die Literatur selber aus. Dabei versucht er weder über das Ziel hinauszuschießen und Schlüsselromane als Gattung neu zu etablieren, noch bleibt es bei einer rein deskriptiven Beschreibung verschiedener Schlüsselromanfälle. Viel mehr zeigt er auf, dass Schlüsselromane mehr sind als der Ausdruck boulevardesker Interessen im Gewand der Literatur. Sie stellen einen Spielplatz verschiedenster Möglichkeiten zur Auslotung der Spielregeln der Institution Fiktionalität dar. Ausgehend von diesen Betrachtungen lassen sich entsprechend weiterführende literaturtheoretische Fragen verfolgen, die nicht nur das Skandalöse einer referenzialisierenden Lektüre in fiktionalen Kontexten zum Thema haben, sondern das Verständnis eben solcher Konzepte wie Autorschaft und adäquater Lektürehaltung. Ein deutliches Verdienst der Arbeit liegt somit darin begründet, aufzuzeigen, dass Schlüsselromane nicht einfach eine Gattung ausmachen, sondern als komplexes literatursoziologisches Ereignis eine ganze Bandbreite an Fragen aufwerfen, die als Prüfsteine für verschiedenste Bereiche der Literaturwissenschaft herangezogen werden können. Franzens Arbeit ist somit als Betrachtung zu verstehen, die aufzeigt, dass auch heute noch vermeintlich grundlegende Konzepte keine abgeschlossenen und unumstrittenen Konzepte darstellen, insbesondere sobald sie mit komplexen Fällen wie Schlüsselromanen konfrontiert werden. Die Ergebnisse der Arbeit können somit auch als Appell verstanden werden, dass insbesondere vermeintlich niedrige Literatur bei solchen Betrachtungen nicht ausgespart werden sollte. Nicht unerwähnt gelassen werden soll an dieser Stelle auch noch, dass jedes Kapitel der Arbeit sich unabhängig gut lesen lässt. Franzen schafft es, dass die vorkommenden Wiederholungen dem bloß schlaglichtartig ins Buch blickenden Leser als hilfreiche Unterstützung an die Hand gegebenen werden, ohne dem stringenten Leser dabei langatmige Passagen zuzumuten. Geglückt ist das deshalb, weil jede Wiederholung sich als letztlich doch leicht unterschiedliche Exemplifikation, als neue Ausbuchstabierung eines theoretischen Phänomens des Schlüsselromans präsentiert, das aufgrund seiner Beispielhaftigkeit sowohl die voyeuristische Neugierde des Lesenden befriedigt, als auch zum Erkenntnissinteresse des Literaturwissenschaftlers einen Beitrag leistet.
[1] Die Verwendung des generischen Maskulinums erfolgt in diesem Text ausschließlich aus Gründen der Lesbarkeit, wo möglich wurde sich zudem um eine genderneutrale Formulierung bemüht. [zurück]
2018-08-19
JLTonline ISSN 1862-8990
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