Andreas Mauz
Gut aufs Ganze gegangen
Andrea Albrecht, Lutz Danneberg, Olav Krämer, Carlos Spoerhase (Hg.), Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens, Berlin: de Gruyter 2015, 639 S. [Preis: EUR 129,95]. ISBN: 978-3-11-030764-1.
Zu den Binsenwahrheiten des akademischen Rezensionswesens gehört die Einsicht: Finger weg von Sammelbänden! Sie zu besprechen, bedeutet regelmäßig zu leiden – sei es am Sammelsurium, das da wenig abgestimmt einen Gegenstandsbereich zu erschließen vorgibt, sei es an den Niveaudifferenzen, die zwischen den Einzelbeiträgen auszumachen sind, sei es, im positiven Fall, nur an der Schwierigkeit, die inhaltliche Fülle des betreffenden Bandes innerhalb der gewünschten (und mitunter grotesk kleinen) Zeichenzahl in Darstellung und Kritik zur Geltung zu bringen. Wer sich daher dennoch zur Besprechung eines Sammelbandes bereit erklärt – noch dazu eines sehr umfangreichen –, muss seine Gründe haben. Im vorliegenden Fall sind diese leicht namhaft zu machen: Es scheint derzeit keinen anderen deutschsprachigen Band zu geben, der derart umfassend und auf durchgängig hohem Niveau Grundprobleme des literaturwissenschaftlichen Interpretierens diskutiert. Wo etliche Publikationen auf diesen oder jenen Aspekt dieser zentralen Aufgabe fokussieren, geht der vorliegende Band in Anspruch wie Durchführung aufs Ganze: Er thematisiert das Interpretieren innerhalb eines dreigliedrigen Perspektivenmodells, nämlich – wie der Titel sagt – orientiert an Interpretationstheorien, Interpretationsmethoden und Interpretationspraktiken. Diese Trias stellt denn auch den ersten von vielen weiterführenden Unterscheidungsvorschlägen dar, die der Band zur Debatte stellt.[1] Und wie immer lassen erst diese Unterscheidungen die Beziehungen zwischen dem Unterschiedenen hervortreten: Wo Theorien grundlegende Prämissen des Interpretierens klären (etwa »Annahmen über Sprache und Bedeutung, […] Autor- und Leserkonzepte« oder die »Spezifika, die literarische von nicht-literarischen Texten unterscheiden«; Einleitung, 1), betreffen die Methoden, komplementär, die verfahrensbezogenene Seite, die theoriegeleitete »Verknüpfung von Verfahren etwa des Paraphrasierens, der rhetorischen und stilistischen, narratologischen oder metrischen Analyse, der Kontextbildung und Kontextverwendung« (1f.). Während Theorien und Methoden zu den üblicherweise thematisierten Aspekten der Thematik gehören, sind die Praktiken des Interpretierens erst in den vergangenen zehn Jahren in den Fokus der Forschung geraten, dies allerdings mit beträchtlicher Intensität. Wie der dichten Einleitung des Herausgeberquartetts zu entnehmen ist, werden die drei Perspektiven daher auch nicht gleich gewichtet. Der Akzent liegt im Bereich der Praxisforschung; was angestrebt wird, ist gerade eine »Anbindung der praxeologischen Perspektive an theoretische und methodologische Fragen« (8).
Dass die ›Praxis‹ zu einem Programmbegriff, zum Fokus einer eigenständigen Reflexionssphäre namens ›Praxeologie‹ oder ›Praxistheorie‹ werden konnte, verdankt sich gerade der Annahme ihrer Eigenlogik, dem Umstand, dass Praktiken eben nicht in theoretisch-methodischen Regulativen aufgehen. Eine bottom up bei den Vollzügen einsetzende Betrachtung bringt, so die Intuition, mehr und anderes ans Licht als eine top down an Theorien oder Methoden orientierte. Nicht zuletzt aufgrund ihrer Bindung an die körperliche Dimension ist die routinemäßig eingespielte Praxis eng mit dem Konzept des ›impliziten Wissens‹ (tacit knowledge) assoziiert, dem Phänomen, dass wir – mit Michael Polanyis klassischer Wendung – »mehr wissen, als wir zu sagen wissen«[2]. Oder wie die Herausgeber mit Bezug auf die literaturwissenschaftliche Interpretationspraxis reformulieren:
[Man kann] relativ einfach einige Teilaktivitäten des Interpretierens identifizieren, deren Vollzug nicht oder nicht vollständig durch explizite Methoden angeleitet wird, die aber von professionellen Literaturwissenschaftlern […] nicht in je zufälliger, sondern in routinierter und damit auch bis zu einem gewissen Grad regelmäßiger Weise vollzogen werden. Dazu gehören etwa das Finden von Fragestellungen und die Auswahl relevanter Textstellen, die Einschätzung der Begründungsbedürftigkeit einzelner Deuteschritte, der zitierende und argumentierende Umgang mit der Forschung, die Disposition, die rhetorische Gestaltung und das ›Aufschreiben‹ des Interpretationstextes. (2)
Das Interesse, das die Untersuchung des lockeren Gefüges von Theorien, Methoden und Praktiken befeuert, ist denn in erster Stelle auch das einer »Selbstaufklärung« (10). Diese kann, von Fall zu Fall, auch kritisch-normativ akzentuiert werden, also ausgerichtet am Ziel, »Defizite festzustellen und Vorschläge zu ihrer Korrektur zu entwickeln« (ebd.). Und schließlich entspricht die Themensetzung auch einem wissenschaftsgeschichtlichen Erkenntnisinteresse. Mit Blick auf die Dynamiken der Forschungsgeschichte lässt sich etwa fragen, »ob die Zäsuren der ›Theoriegeschichte‹ mit denen der ›Praxisgeschichte‹ zusammenfallen und wie sich gegebenenfalls das Verhältnis zwischen Brüchen auf der einen und Kontinuitäten auf der anderen Ebene modellieren lässt« (ebd.).
Das derart ausgespannte Arbeitsfeld wird durch fünf unterschiedlich umfangreiche Abteilungen vermessen. Der eröffnende Abschnitt fragt nach der literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis in Hinsicht auf das maßgebliche theoretische Vorbild der Science Studies (Martus, Spoerhase, Zittel); der zweite und mit acht Beiträgen umfangreichste Abschnitt gilt der Interpretationspraxis in historischer Perspektive (Vogt-Spira, Richter, Güthenke, Krämer, Bulang, Willand, Albrecht, Lepper); der schmalste dritte fragt nach den Praktiken der Vermittlung von Interpretationswissen (Werle, Sittig); die vierte Einheit gilt den Theorien und Methoden des Interpretierens in historischer Perspektive (Schmitt, Danneberg, Sneis), der in der fünften und letzten fünf Aufsätze zur Systematik folgen (Winko, Gittel, Büttner, Petraschka, Schilling).
Mit diesen Hinweisen zur Architektur des Bandes wird zugleich offenkundig, dass das letztgenannte Grundproblem bei der Besprechung von Sammelbänden hier akut werden muss. Selbst innerhalb einer vergleichsweise sehr großzügigen Zeichenzahl lässt sich die Fülle der dichten Argumentationen der (einschließlich der Einleitung) 22 und nicht selten um 30-seitigen Aufsätze unmöglich befriedigend abbilden. Ein Wechsel zwischen panoramatischer und exemplarischer kleinteiligerer Betrachtung ist unumgänglich.
Fokus Praxeologie
Mit Steffen Martus und Carlos Spoerhase wird der Band durch die Autoren eröffnet, die 2009 durch einen gemeinsamen Aufsatz die noch junge Forschungsgeschichte derexplizit unter diesem Label arbeitenden literaturwissenschaftlichen Praxeologie auf den Weg gebracht haben.[3] Mit diesem Sachverhalt ist die in der Abschnittsüberschrift formulierte Frage – »Die Science Studies als Vorbild?« – in einem schlichten Sinn denn auch bereits beantwortet. Für die beiden Autoren steht fest: Die Science Studies taugen als Vorbild; die Frage ist vielmehr, in welcher Hinsicht bzw. wie unmittelbar sie das tun.
Entsprechend widmet sich Steffen Martus den »Epistemische[n] Dinge[n] der Literaturwissenschaft?« (23–51). Er exploriert, wie der genannte Begriff – eingeführt durch die Arbeiten des Wissenschaftshistorikers Hans-Jörg Rheinberger – angeeignet werden kann und formuliert eine Reihe von »Empfehlungen« für dessen nuancierten Gebrauch innerhalb der Literaturwissenschaft. Das »epistemische Ding« ist ein entscheidendes Konzept in Rheinbergers historisch-epistemologischen Studien zur Funktion von »Experimentalsystemen«, konkret v. a. demjenigen der Proteinsynthese.[4] Epistemische Dinge sind, in allgemeinster Bestimmung, Dinge, denen »die Anstrengung des Wissens gilt«[5]. Sie sind Gegenstände, die aufgrund vielfältiger Faktoren in den Bereich der Forschungsrelevanz geraten. Martus verfolgt diesen Status nun durch seine diversen Aspekte (den »legitimatorischen«, den »prozessualen«, den »hybriden«, den »praktischen«, den »poietischen«, den »multinormativen«, den »regulativen«, den »sozialen«, den »räumlichen«, den »medialen« und schließlich den »organisatorischen«, 25–49), wobei er durchgängig prüft, welche Justierungen möglich und nötig sind, wenn ein Transfer in den literaturwissenschaftlichen Kontext gelingen soll. Innerhalb der genannten Reihe ist wiederum der Aspekt der Praktik von besonderem Interesse, weil Martus hier noch einmal deutlich formuliert, weshalb die Trias von Theorie, Methode und Praxis nicht symmetrisch zu modellieren ist. Er begründet das »Primat der Praxis« (31) bei der wissenschaftsgeschichtlichen wie hermeneutischen Selbstreflexion des Faches durch den Verweis auf drei Probleme, die »konventionelle Beschreibungen der Literaturwissenschaft« (ebd.) (an dieser Stelle eine Leerformel, die durch ihre Explikation noch plausibler hätte werden können) »nicht oder nicht besonders erfolgreich in den Griff bekommen« (ebd.): (1.) die »krisenhafte[n] Erfahrungen im Bereich der Lehre« (ebd.), (2.) »die eigentümliche Folgenlosigkeit von Theoriedebatten« (ebd.) und (3.) die »bemerkenswerte Diskrepanz zwischen programmatischen Äußerungen und konkreter Textarbeit« (31f.). Die Praxis muss diese systematische Erststellung einnehmen, weil Theorien und Methoden zwangsläufig mit der Eigenschaft ausgestattet sind, dass sich ihre Anwendung »nicht ihrerseits wieder mit Theorien und Regeln regeln lassen. Theorien und andere explizite Normen, Anweisungen etc. steuern die Praxis (z. B. die der Interpretation) nicht direkt und nicht ausschließlich.« (32) Auf dieser Grundlage kann Martus vorschlagen, auch die Theoriebildung als literaturwissenschaftliche Praxis zu begreifen, der prinzipiell »keine höhere Dignität« zukomme (eine Auffassung, die in anderen Beiträgen implizit handlungsleitend ist, ohne jedoch programmatisch artikuliert zu werden). Gewichtige Fragen ergeben sich ferner in Hinsicht auf den letztgenannten »organisatorischen« Aspekt: Für Rheinberger steht fest, dass epistemische Dinge (anders als »technische«, dies der weiter aufzuführende Gegenbegriff) nicht etwa in »Disziplinen« ihren Ort haben, sondern – eben – in »Experimentalsystemen«. Auch wenn man nicht ohne Zögern von »Experimentalsystemen der Literaturwissenschaft« sprechen wird, stellt sich damit doch die Frage nach den praktisch relevanten »Arbeitseinheiten« gegenwärtiger Literaturwissenschaft. Martus akzentuiert diese nun, was vielleicht überraschen wird, in normativer Richtung. Rheinbergers Statusrelativierung der Diskurseinheit »Disziplin« gilt ihm »als Beitrag zur Entspannung für zu hoch gesteckte und daher nicht selten frustrierte Erwartungen: Immer wieder wird der Literaturwissenschaft ein Mangel an methodischer Schärfe und Präzision nachgesagt. Man vermisst explizite Normen und Standards.« Gegen diese »hohe[n] Homogenitätserwartungen« ließen sich eben die durchaus existenten Normen und Standards ›lokalerer‹ Forschungskollektive namhaft machen. Auch deren Praxis lasse sich dann im Sinne Rheinbergers daraufhin befragen, ob sie »jung« sind, d. h. fähig, »Differenzen zu produzieren, die als unvorwegnehmbare Ereignisse gelten und in ihrer Rückwirkung auf das System die Maschinerie in Gang halten«[6], oder eben alt und zu dieser Dynamik begrenzt oder gar nicht fähig.[7]
Nach und neben Martus’ Beitrag lesen sich Carlos Spoerhases Überlegungen als eine prägnante Probe aufs Exempel. Unter dem Titel »Das ›Laboratorium‹ der Philologie?« thematisiert er »[d]as philologische Seminar als Raum der Vermittlung von Praxiswissen (circa 1850-1900)« (53–80). Seine textnahen Untersuchungen zu Schriften Wilhelms Scheres, Julius Zachers und Wilhelm Diltheys illustrieren die große Rolle, die der Organisationsform des Seminars in der Konstitutionsphase des Faches zukam. Spoerhase entfaltet insofern genauer, was in Martus’ Aufsatz genereller als räumlicher Aspekt der Praxeologie zur Diskussion steht. Dieser Raum – von Scherer per analogiam ausdrücklich als »Laboratorium« bezeichnet –, kommt durchgängig als epistemologischer in den Blick, dies aber mit wahrnehmbaren Differenzen: Steht für Scherer die »handwerkliche Dimension der Auffindung und Anwendung von Wissen« im Vordergrund, ist es für Zacher die »Beschreibung der personalen Dimension der Wissensübertragung« und für Dilthey »der Charakter der institutionellen Dimension der Ausbildung eines Habitus« (53). Unabhängig von diesen Nuancen zeigt Spoerhases Untersuchung selbst das akute und auch von ihm eingeschärfte methodische Problem der Praxeologie: Wie, anhand welcher Quellen, kann man welcher Praktiken überhaupt habhaft werden, zumal der historischen? Seine Analyse der Institution des Seminars stützt sich ja nicht auf Praxispraxis (die heute etwa per Video dokumentiert und analysiert werden könnte), sondern auf vermittelte Praxis in Gestalt praxisadministrativer oder -interpretierender Texte.
Wenn die beiden genannten Autoren den Vorbildcharakter der Science Studies im Ganzen affirmieren, übernimmt es der dritte Beiträger, Claus Zittel, das Fragezeichen in negativer Richtung auszuarbeiten. Sein trockener Titel – »›Close reading‹ in den ›science studies‹« (81–99) – lässt nicht erahnen, dass der Aufsatz die fragliche Vorbildrolle von einer einzigen Ausnahme abgesehen mit Vehemenz in Abrede stellt. Die Standardvorstellung, nach welcher die »methodische Avantgarde […], der die Geisteswissenschaften hinterherhinken« (81), in den Science Studies zu finden sei, wird klar verworfen. Argumentationspraktisch dreht Zittel die Perspektive also gerade um: Die Interpretationsstandards der Science Studies werden »mit Hilfe der geisteswissenschaftliche[n] Methodenreflexion« (82) einer Prüfung unterzogen. Konkret befragt er zwei einschlägige Beiträge der älteren Wissenschaftsgeschichtsschreibung (Shapin und Dear) auf ihren – defizitären – Umgang mit Darstellungsformen naturwissenschaftlicher Arbeiten, die zur Geltung zu bringen sie gerade angetreten waren. Im Vollzug dieser Prüfung fallen verschiedenste Befunde an, welche die Transferreflexion noch einmal substanziell anreichern. Zentral scheint etwa die kritische Stoßrichtung, die die Praxisforschung in unterschiedlicher Weise begleitet:
Die Einbettung von Forschungspraktiken in soziale Kontexte erfolgte in den science studies mit dem kritischen Impetus, durch das Aufzeigen der sozialen Faktoren bei der Wissensproduktion die Geltungsansprüche naturwissenschaftlicher Aussagen und Theorien zu relativieren. In den Geisteswissenschaften wird mit dem Nachzeichnen der Genese von Forschungsresultaten in der Regel kein vergleichbarer Prozess der Selbstaufhebung in Gang gesetzt, allein schon deshalb nicht, weil von vornherein keine objektiven Geltungsansprüche erhoben werden. Mir scheint, dass dies die Relevanz einer Selbstkritik via practical turn erheblich mindert. (83)
Zittel artikuliert seine Zweifel an dieser Relevanz, am »Idealismus« der Selbstaufklärungshoffnung, bis zur tatsächlich entscheidenden Frage, wie genau die Einsicht in die eigenen Routinen denn »Effekte auf die Bewertung des bisherigen und den Fortgang der weiteren Forschungspraxis« haben soll – nicht zuletzt im Blick auf Praktiken, die den Betrieb offensichtlich nicht nur am Rand prägen, aber dennoch verdeckt bleiben: »Kollegenneid, Intrigen, Moden, Seil- und Liebschaften, Verwandtschafts- und Patronagebeziehungen, Zitier- und Berufungskartelle, institutionelle Normierungsmechanismen, aber auch die ungeprüfte Indienstnahme von Hilfskraftsarbeiten für Recherchen und Korrekturen und die Ausbeutung von Assistenten etc.« (84) – Dieser Hinweis auf die privateren und/oder dunkleren Seiten des Betriebs ist durchaus ernst zu nehmen, wenn das Spektrum der in Betracht gezogenen Praktiken (wie auch die Beiträge des Bandes zeigen) bevorzugt einbricht auf »Tugenden, Routinen, Schulen, Argumentationslinien« – und insofern doch auf methodennahe Phänomene. Hier kann immer der metakritische Verdacht erhoben werden, die angezielte Selbstaufklärung setze doch nur die »Selbstidealisierung des Faches unter dem Deckmantel der Praxeologie mit anderen Mitteln fort« (ebd.). Vor diesem im Ganzen düsteren Panorama wird schließlich der von Zittel edierte Ludwik Fleck als einzig satisfaktionsfähige Orientierungsgestalt installiert. In seinem »anti-hermeneutischen« Zugriff (98), der sich konzeptionell verdichtet in der Rede vom »Denkkollektiv«, »Denkstil« oder von der »Stimmungskameradschaft« realisiere dieser meisterhaft die Tugend des close reading.[8] Den detaillierten Nachweis der Produktivität einer an Fleck orientierten Praxeologie bleibt er an diesem Punkt freilich schuldig. Doch der Stachel der Selbstanwendung der Stimmungskameradschaft sitzt: »Die Suggestivkraft wissenschaftlicher Schlagworte, die wie Karotten vor den Augen der Forscher hängen, lässt ganze Gruppen […] in eine gemeinsame Richtung marschieren: practical turn wäre hier ein Beispiel.« (94)
Die zweite der historischen Praxeologie gewidmete Abteilung verfolgt, was ihre Besetzung betrifft, offensiv das Anliegen, dieses Historische möglichst breit zu fassen. Die acht Beiträge gelten nicht nur Problemlagen der neueren Literaturwissenschaft, sondern auch der Mediävistik und der Altphilologie. Thematisch bewegen sie sich zwischen eher breiten Orientierungsmarkern (etwa Gregor Vogt-Spira über die »Form und Stellung von ›Interpretation‹ im alten Rom« oder Marcel Lepper über »Hermeneutische Heuristiken«) und spezifischer ausgerichteten Fragestellungen (etwa Tobias Bulang über die mediävistische Auslegungspraxis an Beispiel der Interpretationsgeschichte einer Walther-Strophe[9] oder Marcus Willand mit einem »praxeologischen Belastungstest« von Isers »implizitem Leser«). Zwei Schlaglichter müssen genügen, um die anvisierten Zusammenhänge genauer anzudeuten:
Olaf Krämers Aufsatz (159–203) kann stellvertretend stehen für eine beiläufig bereits erwähnte Fragerichtung, die in verschiedenen Beiträgen in Varianten wiederkehrt. Wissenschaftsgeschichtliche Darstellungen, zumal einleitende, präsentieren die Geschichte als Gänsemarsch von »Theorien, Methoden, Schulen oder Forschungsrichtungen« (159), wobei jeweils impliziert wird, dass diese während ihrer jeweiligen Konjunkturphase auch maßgeblich die Interpretationspraxis bestimmten. Dieser naheliegenden und auch leicht nachweisbaren Konkordanz muss allerdings eine ausgeprägte Diskordanz an die Seite gestellt werden. Denn selbst bei orthodoxen Angehörigen dieser oder jener Strömung oder Schule ist nicht zwingend damit zu rechnen, dass sie die betreffenden theoretisch-methodischen Optionen »tatsächlich konsequent befolgen« (ebd.); ein Sachverhalt, der umso mehr einleuchtet, wenn man die kurzatmigen turns der jüngsten Wissenschaftsgeschichte als Zäsuren einbezieht. Diesen potentiellen »›Unreinheiten‹ der interpretatorischen Praxis« – und genauer der Frage, »ob sie nicht bloß idiosynkratische Abweichungen darstellen, sondern Regelmäßigkeiten aufweisen« (160) – widmet sich Krämer anhand von Interpretationen von Goethes Wahlverwandtschaften »von der Geistesgeschichte bis zum Poststrukturalismus«. Seine detaillierten Befunde bestätigen in summa in aller Deutlichkeit die These von der Eigenlogik der Praxis: Ungeachtet der sehr diversen Richtungen, denen das Quellenmaterial entstammt, lassen sich starke Kontinuitäten ausmachen. Und diese betreffen ebenso die Interpretationsziele wie die Argumentationsweisen, die zu ihrer Gewinnung in Anspruch genommen werden – Aspekte also, die üblicherweise gerade als Ausdruck elementarer Perspektivendifferenzen gehandelt werden. Dieser Negativbefund, die Wahrnehmung einer Kluft zwischen Theorie- und Praxisgeschichte, lässt sich nun unterschiedlich bewerten. Bei Krämer wie bei anderen BeiträgerInnen des Bandes wird eine gewisse Genugtuung deutlich, eine positive Wahrnehmung der Kluft. Das Beharrungsvermögen der Praxis erscheint als willkommenes Korrektiv einer Theorieeuphorie, die leicht dem schlichten Muster der Innovationslogik folgt. Einer zur Überhitzung neigenden Sonntagstheorie stehen wohltemperiert die »robuste[n] Einheiten« (Martus, 32) der Alltagspraxis entgegen.
Eigens zu erwähnen ist auch der Beitrag Andrea Albrechts. Sie fragt nach den »Analogieschlüsse[n] und metaphorische[n] Extensionen in der interdisziplinären wissenschaftlichen Praxis« (271–299). Wenn auch unklar bleibt, weshalb er an dieser Stelle eingereiht wurde – der Aufsatz diskutiert den genannten Sachaspekt am ziemlich zeitgenössischen Beispiel der »chaostheoretisch beeinflussten Literaturwissenschaft« –, gehört er zu den methodisch anregendsten der Abteilung. Mit dem Analogie-Denken thematisiert Albrecht eines der potentesten und lange bewährten Instrumente der innovativen Verschaltung heterogener Wissensbestände (weshalb Novalis denn auch prägnant vom ›Zauberstab der Analogie‹ spricht). Wissenschaftstheoretisch reformuliert handelt es sich beim analogical reasoning um »eine vielfältig einsetzbare Übertragung von etablierten Konzepten, Strukturen und Verfahren aus einem Forschungsbereich in den anderen, um sie dort heuristisch zu nutzen und eine bereits realisierte Problemlösung womöglich auch innerhalb des neuen Bereichs erfolgreich anwenden zu können« (275). Und auch in der Literaturwissenschaft kann das Analogie-Denken mit Recht als »meist genutztes Verfahren interdisziplinärer Brückenschläge« (280) bezeichnet werden. Analogische Übertragungen verbinden sich hier wie generell allerdings regelmäßig mit ›metaphorischen Extensionen‹. Diese Erweiterungen treten vor allem dann auf, wenn die Übertragung zwischen Sphären erfolgt, in denen die ›strukturellen Ähnlichkeiten‹ mit ›entscheidenden Unähnlichkeiten‹ einher gehen; hier erfordert die funktionierende Übertragung eine Modifikation in Gestalt metaphorischer Extension, exemplarisch greifbar etwa im ›Fließen‹ des elektrischen ›Stroms‹. Abgesehen von der typologischen Entfaltung des analogischen Denkens ist an Albrechts Theorietableau insbesondere auch der Verweis auf eine (wiederum in Anschluss an Knorr-Cetina formulierte) funktionale Differenz relevant: Im Kontext der experimentellen Naturwissenschaften eignet dem Analogie-Denken üblicherweise ein »opportunistischer Charakter«: »Es handelt sich […] nicht um ex ante-Vermutungen, sondern um post hoc-Übertragungen, die einem in der Tendenz konservativen Kalkül der Wissensbestätigung statt der Wissensinnovation [folgen]. Die gelingende Analogiebildung begründet somit eine Subsumption […].« (276). Dieses opportunistisch-konservative Kalkül spielt, wie Albrecht im Einzelnen zeigt, aber auch innerhalb des anvisierten Forschungsdiskurses eine Rolle: Der literaturwissenschaftliche Rekurs auf chaostheoretische Denkfiguren habe »weniger eine Fragen und Problemen aufwerfende […] als vielmehr eine argumentative Abschluss-Funktion« (297). Da gerade die metaphorischen Extensionen die analogisch zu gewinnenden Inter-Momente tendenziell auslöschen, müssen die fraglichen Publikationen der interdisziplinaritätstheoretischen Kritik verfallen. Die heuristische Funktion – etwa eine produktiv irritierende »chaostheoretische Neubeschreibung eingefahrene[r] literaturwissenschaftliche[r] Beschreibungsroutinen«, die bestenfalls »tatsächlich zu neuen Fragestellungen und Strukturbildungen Anlass gäbe« (ebd.) – bleibt unerfüllt.
Nicht weniger instruktiv sind die beiden Beiträge, die – dem Vermittlungsaspekt geltend – die ausdrückliche Praxisreflexion beschließen: Dirk Werle widmet sich anhand von Daten, die im Rahmen eines Seminars erhoben wurden, dem »unvollständigen Verstehen« einer Goethe-Parodie in Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt. Claudius Sittigs Interesse gilt dem kardinalen Vermittlungsgenus der »Modellinterpretation«. Innerhalb eines anspruchsvollen theoretischen Settings zeigt er dessen unterschiedliche Ausprägungen angesichts des bestimmenden »doppelten Bezugskontext[s] zwischen didaktischen Ansprüchen und grundlegenden fachinternen Verständigungsprozessen über Gegenstand und Methode der Literaturwissenschaft« (373). Hier ergeben sich durch die gattungskonstitutive Verpflichtung auf diesen oder jenen ›Ansatz‹ wiederum interessante Verbindungen zum praxeologisch signifikanten Aspekt der Reinheit bzw. Unreinheit des Theorien- und Methodengebrauchs.
Fokus Theorie und Methode
So reichhaltig der Abschnitt zur historischen Praxeologie, so divers und instruktiv sind auch die historischen Perspektiven auf Theorien und Methoden: Arbogast Schmitt über »die Unterscheidung einer der Literatur angemessenen Form der Rationalität durch Aristoteles«, Lutz Danneberg über den Beitrag der »kontrafaktischen Imaginationen zur Ausbildung der hermeneutica sacra und profana im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts« und Jørgen Sneis zu »Roman Ingardens Versuch einer erkenntnistheoretischen Grundlegung der Literaturwissenschaft«. Nähere Hinweise seien aber eingeklammert zugunsten der systematischen Problemlagen, die den Band beschließen: Kai Büttner reflektiert auf das kardinale Moment des »Methodenpluralismus« bzw. der »Beliebigkeit der Literaturwissenschaft« und zeigt – noch einmal – im Detail, weshalb eine Pluralismusakzeptanz keinesfalls mit einer »Plädoyer für Regellosigkeit oder Verzicht auf methodisch geleitetes Vorgehen« einhergehen muss (584). Thomas Petraschka unterzieht die heuristisch-hermeneutische Kategorie des »Takts«, d. h. des intuitiven Gespürs für die möglichen und fälligen Verstehenswege, mit Donald Davidson einer genauen Rekonstruktion – ein wichtiger Beitrag, weil damit wiederum eine methodologisch nicht einholbare ›Methode‹ im Fokus steht. Erik Schilling lenkt die Aufmerksamkeit auf den Chiasmus »Literatur als Theorie – Theorie als Literatur« und entwirft v. a. anhand der kanonischen ›postmodernen‹ Exempel (Eco, Muschg) ein allgemeines Modell zur Untersuchung der fraglichen Wechselverhältnisse. Neben diesen mehr oder weniger spezifischen Fragestellungen bietet die Abteilung aber auch zwei Aufsätze, die noch unmittelbarer systematische Grundprobleme adressieren.
Unter den vielfältigen Dimensionen, die das Interpretieren ausmachen, nimmt die normative fraglos eine Zentralstellung ein. Dass Interpretationen, zumal wissenschaftliche, mehr sein wollen als bloße persönliche Meinungsäußerungen, zeigt sich exemplarisch am »Streit der Interpretationen« (Ricœur). Hier werden im Namen bestimmter normativer Vorstellungen von der Güte und Geltung einer Interpretation andere (und/oder anders ausgelegte) normative Vorstellungen kritisiert. Der klassische »epistemische Wertbegriff« (so die Hg., 7), der hier zur Debatte steht, ist die ›Wahrheit‹, die freilich im spätmodernen Wissenschaftsalltag nicht nur der Literaturwissenschaft durch eine Reihe anderer und philosophiegeschichtlich weniger stark befrachteter Wertprädikate ersetzt wurde. Geisteswissenschaftliche Interpretationen werden eher selten gerade heraus als »richtig«, »korrekt« oder eben »wahr« bezeichnet, sondern vielmehr und schwächer als »interessant«, »anregend«, »überzeugend« oder – und diesem Begriff gilt Simone Winkos Interesse – »plausibel« (483–511). Dass sie gerade das »Beurteilungskriterium« der Plausibilität privilegiert, hat quantitative wie funktionale Gründe. Der Ausdruck erscheint aufgrund der Dichte seines Auftretens in der mündlichen wie in der schriftlichen Fachkommunikation als ein starker Kandidat für ein potentiell ansatzübergreifend konsensfähiges Gütekriterium (was für die insofern zu wenig normativen Prädikate ›interessant‹ oder ›anregend‹ eben nicht gilt).[10] Tatsächlich genießt die Rede von Plausibilität offensichtlich selbst eine derart hohe Vorschuss-Plausibilität, dass sie bislang kaum Gegenstand ausdrücklicher Bestimmung wurde. Winko wählt für ihre insofern verdienstvolle Explikation den charmanten methodischen Kniff, aus dem mehrdeutigen Begriffsgebrauchs bestimmter Quellentexte Kapital für das eigene Unternehmen zu schlagen: Im Rückgriff auf Material aus dem Kontext der Theorie des abduktiven Argumentierens stellt sie fest, dass die Zuschreibung von Plausibilität zumindest drei verschiedene Bezugsgrößen kennt, die ihr entsprechend als analytische Matrix dienen: ›Plausibel‹ genannt werden (1.) »Gegenstände (im weiten Sinne)«, (2.) »Art[en] von Eigenschaft[en]«, aber (3.) auch der »Geltungsanspruch, den das Wertprädikat haben kann« (489).[11] Im Bereich der Gegenstände lässt sich dabei auf der Grundlage eines geläufigen argumentationstheoretischen Dreierschemas entweder das Argument (das hypothesenstützende Element), die Hypothese oder die Argumentationshandlung (sei es die Schlussregel oder der gesamte Argumentationszusammenhang) als plausibel oder eben bedingt oder nicht plausibel prädizieren. Auch im Bereich der Eigenschaften, denen Grade von Plausibilität zugeschrieben werden, bietet Winko eine dreigliedrige Systematik an. Plausibilität lasse sich in dieser Hinsicht (1.) als »Begründetheit« (etwa im Sinn eines korrekten Schlusses oder eines hohen Wahrscheinlichkeitsgrades), (2.) als »Grad des Überzeugtseins« und (3.) als »Passung« (im Sinn einer zwanglosen »Stimmigkeit« mit anderen Daten bzw. Hintergrundannahmen) explizieren (494–501). Der dritte Aspekt des Geltungsanspruchs von Plausibilität verbindet sich schließlich mit Beobachtungen zur Gewichtung der Überzeugtheitskomponente (entweder mit Akzent auf Subjektivität, ›für mich plausibel‹, oder auf Objektivität, ›an sich plausibel ‹) und der zeitlichen Indexierung (Plausibilität als »Übergangsprädikat«, das bis auf weiteres gilt, sei es angesichts des Wissensstandes des Sprechers oder des Standes der Dinge, um die es geht). Diese anhand einer breiten disziplinären Palette erhobenen Aspekte werden, vermittelt über einen Abschnitt zur Diskussion innerhalb der analytischen Ästhetik bzw. Literaturwissenschaft (v. a Margolis, Strube), schließlich in einem Schlussabschnitt gebündelt. Die erkenntnisleitende Frage wird dabei nuanciert positiv beurteilt: Plausibilität komme sicher nicht in jeder der diskutierten Versionen als richtungsübergreifendes Beurteilungskriterium von Interpretationen in Frage, wohl aber dann, »wenn die Begründetheit stark ist, der Überzeugungsgrad in einem kollektiven Sinn gegeben ist und die Passung präzisiert werden kann« (509). Und darin liegt denn auch der kritische Appell des Beitrags: Plausibilität darf nicht zum passepartout werden, der Begründungsdebatten aushebelt, indem er Verbindlichkeit suggeriert und Konsens unterstellt, der nicht gegeben ist.
Benjamin Gittels Aufsatz diskutiert einen literaturwissenschaftlichen Problemkomplex, der dem normativen Befund von ›Plausibilität‹ etc. idealerweise zugrunde liegt, nämlich die »Bestätigung von Interpretationshypothesen zu fiktionalen Werken« (513–564). Gittel investiert dabei insbesondere in die Klärung der theoriegeschichtlich gewichtigen Differenz von Beschreibung und Interpretation. Da seine Überlegungen die Debatte um wesentliche Aspekte bereichern, sollen sie hier im Vordergrund stehen. – Das bestätigungstheoretische Gewicht der genannten Differenz liegt auf der Hand: Sie bespielt die Intuition, dass ›Interpretation‹ insofern nicht alles ist, als Interpretationen Aussagen umfassen, die dem Interpretandum offensichtlich näher sind als andere – und insofern besser überprüfbar und wenig anfällig für kontroverse Bewertung. Beschreibende Aussagen bergen, anders gesagt, ein gewisses Objektivitätsversprechen und insofern eine Basis, um Interpretationen wiederum unabhängig von der jeweiligen Bedeutungskonzeption und ihr entsprechenden Interpretationszielen evaluieren zu können. Dieser prima vista einleuchtenden Auffassung stehen freilich verschiedene und teils gravierende Einwände entgegen – etwa der Umstand, dass in Interpretationsprozessen auch ›bloße‹ Beschreibungen regelmäßig Gegenstand von Kontroversen sind: »Der Erfolg des Topos ›hermeutischer Zirkel‹ dürfte nicht zuletzt auf dem Eindruck beruhen, dass im Laufe von Interpretationsprozessen im Vergleich mit anderen Anstrengungen in besonderem Maß vermeintlich gesicherte Annahmen korrigiert oder verworfen werden […].« (524) Der zentrale Vorbehalt betrifft – nun in wissenschaftstheoretischer Diktion – die »Theorieimprägniertheit der Beobachtung« bzw. Beschreibung. Teilt man diese Auffassung, der ein »bestätigungstheoretischer Holismus« korrespondiert, sind auch deskriptive Sätze »prinzipiell fallibel« (526). Dies bedeutet aber wiederum nicht, dass im Zuge der Prüfung von Hypothesen alle Sätze den gleichen – geringen – Status haben. Auch vor diesem Hintergrund bleibt die Differenz tendenziell »revisionsresistente[r]« und tendenziell »revisionsaffiner[r]« Sätze erhalten (ebd.). Auf dieser Grundlage widmet sich Gittel nun der Folgefrage der Kriteriologie, die es erlaubt, Beschreibungen plausibel von Interpretationen abzugrenzen – wobei ›Plausibilität‹ hier (ganz auf der Linie Simone Winkos) sogleich expliziert wird im Sinn von (1.) Anwendbarkeit und (2.) Bestätigungsrelevanz. Diese Kriterien drängen sich auf, weil Beschreibungen in diesem Kontext generell mit widersprüchlichen Anforderungen konfrontiert sind: »Je semantisch gehaltvoller die Beschreibung ist, desto gefährdeter scheint die für ihre intendierte Kontrollfunktion der Interpretation notwendige Intersubjektivität, je unkontroverser ihre semantischen Inhalte sind, desto bestätigungsirrelevanter ist sie.« (528) In systematisierender Aufnahme maßgeblicher Forschungsbeiträge identifiziert Gittel dann vier Unterscheidungskriterien, nämlich (1.) das »inhaltliche Kriterium«, (2.) das »Inferenzkriterium«, (3.) das »Akzeptanzkriterium« und (4.) das »epistemisch-methodische Kriterium« (528–536). Während sich die ersten drei aus verschiedenen Gründen punkto Anwendbarkeit und/oder Bestätigungsrelevanz als defizitär erweisen, vermag das epistemisch-methodische Kriterium zu überzeugen. Entsprechend legt der Autor denn auch dieses seiner fokussierten case study zugrunde: der Analyse der besonders bestätigungsrelevanten deskriptiven Sätze, die einer fiktiven Welt gelten (der Welt von Musils Mann ohne Eigenschaften). Im Rekurs auf die Diskussion um explizite und implizite fiktionale Wahrheiten operiert er mit einem Vier-Stufen-Modell deskriptiver Sätze, das – unter dem Strich – ein Manual zur Produktion eben solcher Sätze bereitstellt. Schließlich kann Gittel seine Erwägungen in einem Schaubild verdichten (vgl. 563), das die verschiedenen Funktionen dieser Satztypen bei der Bestätigung von Interpretationshypothesen im Überblick zeigt.
Praxis und Lebensform
Wenn vom Ganzen die Rede sein soll, ist es immer leicht, Absenzen zu benennen. Immer ist da mehr und anderes, das zur Sprache kommen könnte und müsste – aufgrund des praxeologischen Fokus des diskutierten Bandes etwa die verschiedenen Bemühungen um eine »empirische Literaturwissenschaft«[12] oder die große Tradition der semiotischen Modellierung von Verstehensprozessen. Hilfreicher als wohlfeile materiale Ergänzungswünsche ist vielleicht ein abschließender theoretischer Hinweis, der auf eine markante Absenz reagiert: Innerhalb der Wissenschaftstheorie wie in der soziologienahen praktischen Philosophie verbindet sich die Reflexion auf Praktiken oft mit der Kategorie der Lebensform. Zwar fällt der Begriff im besprochenen Buch beiläufig an dieser oder jener Stelle, seine potentiell zentrale systematische Funktion im Kontext der Praxistheorie wird jedoch nie herausgestellt. Das ist erstaunlich, wurde der ›Lebensform‹ u. a. durch die Denkbemühungen im sozialphilosophischen Kontext der dritten Generation der Frankfurter Schule in den letzten Jahren doch einige Aufmerksamkeit zuteil. Und diese könnte für die diskutierten Zusammenhänge umso ertragreicher sein, als sie – der genannten Denktradition verpflichtet – ausdrücklich angelegt ist als Kritik von Lebensformen[13]. Wie im Fall Rahel Jaeggis die Lebensform als »träger Zusammenhang von Praktiken«[14] gedacht wird und wie sich ihr ausdifferenziertes Verständnis von Kritik darstellt, ist hier nicht auszuführen. Ein einziger Hinweis mag jedoch andeuten, dass eine offensivere Kenntnisnahme dieser Theoriebildungen (ergänzend zur dominanten Orientierung an der Wissenschaftsforschung) zur weiteren Etablierung einer – kritischen – literaturwissenschaftlichen Hermeneutik und Praxeologie beitragen kann. Er betrifft den angesprochenen Gesichtspunkt der praxeologisch relevanten Wirksamkeit des ›impliziten Wissens‹. Wenn wir, so Jaeggi im Anschluss an Polanyi, unsere Lebensformen weniger »kennen« »als dass wir uns ›in ihnen auskennen‹« (124), so stellt sich die Frage, wie diese Differenz genauer zu fassen ist – anders formuliert: wie es um die Explizierbarkeit des Impliziten steht. Jaeggi macht in dieser Hinsicht am anschaulichen Beispiel der ›Fahrpraxis‹ den tragfähigen Vorschlag, drei Formen des Impliziten zu unterscheiden: Es gibt (1.) das Implizite der vergessenen Regeln; die Kenntnis der Regeln des Autofahrens (Kupplung langsam kommen lassen, Rechts-vor-links, etc.) kann nicht nur, sie muss verinnerlicht werden, um im Verkehr situationadäquat handlungsfähig zu sein. Es gibt (2.) das Implizite der prinzipiell erlernbaren Regeln; das Fahrenkönnen kennt Anteile, »die man kann, ohne dafür eine Regel gelernt zu haben – obwohl diese Regeln prinzipiell explizierbar wären«. Und es gibt (3.) das Implizite der nicht formalisierbaren Regeln; das Autofahren kennt auch Praxisanteile, die in einer Weise erfahrungsgebunden sind, dass sie sich nicht in Regeln fassen lassen bzw. bloß in Regeln, die »viel zu komplex wären, um noch erhellend oder praktisch vermittelbar zu sein. Hier ist nicht ein Regelwissen implizit geworden oder nur implizit vorhanden, sondern diese Regeln lassen sich wegen der Spezifik der Umsetzung nicht formulieren.« (125)
Eine Typologie dieser Art dürfte nicht zuletzt hilfreich sein, um ein noch nicht adressiertes Grundproblem der Praxeologie genauer zu fassen, die Frage nämlich, in welchem Maß die zu erhebenden Vollzüge überhaupt der disziplinären Selbstbeobachtung zugänglich sind bzw. zusätzlich oder auch gänzlich der Fremdbeobachtung bedürfen. Wie wären nun die genannten Formen des Impliziten mit diesen beiden epistemologischen Grundpositionen zu verrechnen? Selbst wenn man aufgrund der markanten Befunde der Beiträge mit den Herausgebern optimistisch urteilt und darauf vertraut, »dass wichtige Merkmale der literaturwissenschaftlichen Praktiken und speziell interpretierender Praktiken der disziplinären Selbstreflexion zugänglich sind« (7), wird man – etwa auch mit Zittels gegenläufiger Betonung der »Betriebsblindheiten«, des künstlichen »Playing the stranger« (84f.) – gerade die implizitesten Ausprägungen des impliziten Wissens, die nicht formalisierbaren Regeln des Spiels, im Blick behalten wollen, aus welcher Position auch immer. Dass diese Position oder diese Positionen kritisch befeuert sein sollten, liegt auf der Hand. Seien es Theorien, Methoden oder Praktiken des Interpretierens: Es sind nun einmal keine »Sahnehäubchenfragen«[15], die mit ihnen zur Debatte stehen.
[1] Der Band geht im Kern zurück auf eine Tagung, die 2011 im Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) stattfand. Vgl. Andrea Albrecht und Olav Krämer, Interpretationstheorie nach dem „practice turn“. (Conference Proceedings of: Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens. Tagung am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS), 13.-16.09.2011), JLTonline (30.11.2011). URL: http://www.jltonline.de/index.php/conferences/article/view/429/1126. [zurück]
[2] Michael Polanyi: Implizites Wissen, Frankfurt a/M 1985, 14. Als interdisziplinär kanonischer Referenztext des „practice turn“ wäre zu nennen: Andreas Reckwitz, Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialwissenschaftliche Perspektive, Zeitschrift für Soziologie, 32/2003, 282-301. [zurück]
[3] Vgl. Steffen Martus/Carlos Spoerhase, Praxeologie der Literaturwissenschaft, Geschichte der Germanistik, 35/36 (2009), 89-96. [zurück]
[4] Vgl. Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas (1997), Berlin 2006. [zurück]
[5] Ebd., 24. [zurück]
[6] Ebd., 226. [zurück]
[7] Zum Problem der Disziplineinheit neuerdings – und mit negativem Befund: Christina Riesenwerber, Die Ordnungen der Literaturwissenschaft. Selbstbeschreibungen einer Disziplin 1990-2010, Münster 2017. [zurück]
[8] Ludwig Fleck, Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse, hg. u. komm. v. Sylwia Werner u. Claus Zittel, Berlin 2011. [zurück]
[9] Aufgrund der ansonsten durchgängigen Ausrichtung auf hermeneutische Regulative und Verfahrensweisen wirkt es fast als faux pas, wenn Bulang auf die Analyse materialer Interpretation eine eigene folgen lässt (222ff.). [zurück]
[10] Dass solche Kriterien zu wünschen sind, steht für viele außer Frage; doch lässt sich diese Überzeugung – wie oben gesehen – nicht zuletzt aus praxeologischer Sicht auch kritisch befragen. [zurück]
[11] Im Original recte, Vf. [zurück]
[12] Vgl. u. a.: Achim Barsch et al. (Hg.), Empirische Literaturwissenschaft in der Diskussion, Frankfurt a/M 1994. [zurück]
[13] Rahel Jaeggi, Kritik von Lebensformen, Berlin 22014. Vgl. aber auch: Julian Nida-Rümelin, Philosophie und Lebensform, Frankfurt a/M 2009. [zurück]
[14] Jaeggi, Kritik von Lebensformen, 94. [zurück]
[15] Ebd., 11. [zurück]
2018-07-21
JLTonline ISSN 1862-8990
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