Julia Langkau

Von literarischer Vergegenwärtigung fürs Leben lernen

Íngrid Vendrell Ferran: Die Vielfalt der Erkenntnis. Eine Analyse des kognitiven Werts der Literatur. Paderborn: mentis Verlag, 2018.

Dass Literatur unterhalten kann und dass uns ihre ästhetische Qualität zum Lesen und zur Auseinandersetzung mit ihr motiviert, ist unumstritten. Vendrell Ferran geht außerdem davon aus, dass viele Leserinnen und Leser eine »feste Überzeugung« (13) haben, dass sie von Literatur lernen können, und dass sich diese Überzeugung auch in der Weise widerspiegelt, wie wir über Literatur sprechen. So sprechen wir davon, dass Literatur »wahr, wahrhaft, wahrscheinlich, glaubwürdig, realistisch, einsichtsvoll, genau, richtig, adäquat, tief«, aber auch dass sie »falsch, unwahrhaftig, unwahrscheinlich, unglaubwürdig, weltfremd, verzerrt, ungenau, unrichtig, inadäquat, oberflächlich« etc. sein kann (14). Darin, so Vendrell Ferran, drückt sich die epistemische Leistung aus, die Literatur erbringen kann. In ihrer Studie geht es um die Frage, wie sich diese Leistung in Form von propositionalem Wissen sowie nicht-propositionaler Erkenntnis verstehen lässt.

Nach einer kurzen Übersicht über die Inhalte des Buches (Kapitel 1), beginnt der erste Teil mit einer Bestimmung von ›Literatur‹, ›Fiktionalität‹ und anderen für die Studie zentralen Begriffen (Kapitel 2) und verteidigt dann die These, dass wir propositionales Wissen von Literatur gewinnen können, zunächst gegen verschiedene skeptische Einwände (Kapitel 3) und daraufhin positiv (Kapitel 4). In einem zweiten Teil werden die epistemische Relevanz subjektiver Perspektiven (Kapitel 5) und die Natur und Relevanz literarischer Erfahrung (Kapitel 6) sowie spezifisch der Empathie mit fiktionalen Charakteren (Kapitel 7) diskutiert. Der zweite Teil endet mit der Diskussion ethischer Erkenntnis und »Wertsichtigkeit« (Kapitel 8) sowie einer Zusammenfassung des Dargelegten (Kapitel 9).

Vendrell Ferran möchte sich auf keine Definition von Literatur festlegen, sondern nimmt vielmehr eine minimale Bestimmung vor, die sie in zwei Merkmalen zusammenfasst: 1. Literatur ist eine konkrete Form von sozialer Praxis, die gewisse Akteure, Regeln und Konventionen umfasst, welche sich über die Zeit hinweg ändern können. 2. Es gibt verschiedene Funktionen und Werte, etwa ästhetische und epistemische, die mit dieser Praxis verbunden sind (vgl. 36). Ebenso wie Literatur bestimmt Vendrell Ferran Fiktionalität als eine soziale Praxis, für die im Anschluss an Lamarque und Olsen in Truth, Fiction, and Literature[1] der Akt des Geschichtenerzählens und die Haltung des Publikums zentral sind. Das Ziel des Buches ist es, den Wissens- und Erkenntnisgewinn durch fiktionale Literatur zu beschreiben und zu erklären, wobei selbstverständlich nicht-fiktionale Formen des Erzählens wie etwa Biographien ähnliche kognitive Funktionen erfüllen können (vgl. 42-43).

Die drei Hauptthesen des Buches sind die folgenden: Erstens gibt es nicht nur eine Art, wie Literatur propositionales Wissen vermitteln kann, sondern es gibt ein breites Spektrum solcher Arten. Zweitens ist Erkenntnis, die wir von Literatur gewinnen können, wesentlich durch verschiedene Formen von nicht-propositionalem Wissen zu charakterisieren: subjektives perspektivisches Wissen (Kapitel 5), Wissen-wie-es-sich-anfühlt (Kapitel 6), empathisches Wissen (Kapitel 7) und »Wertsichtigkeit« (Kapitel 8) (53-54). Drittens ist die Erfahrung, die wir beim Lesen von Literatur machen, die in Anlehnung an Gottfried Gabriel (z.B. in 2011[2]) verteidigte ›Vergegenwärtigung‹. Die Methode, die Vendrell Ferran bei der Verteidigung dieses »erkennt nispluralistischen Kognitivismus« (19) anzuwenden verspricht, soll von der Erfahrung von Literatur und von unserer literarischen Praxis ausgehen, d.h. es soll explizit nicht eine allgemeine Theorie der Erkenntnis auf den Fall der Literatur angewendet werden.

In mehr als dem ersten Drittel des Hauptteiles geht es neben der Bestimmung von Begriffen um die Frage, ob wir propositionales Wissen von Literatur gewinnen können und in welcher Form uns propositionale Inhalte vermittelt bzw. angeboten werden. Hierzu wurde viel geschrieben, und dementsprechend werden die Leserin und der Leser in diesem Teil der Studie durch einen Dschungel von Argumenten für und wider solchen Wissensgewinn geführt. Vendrell Ferran schließt den positiven Teil ihrer Verteidigung des literarischen Propositionalismus im 4. Kapitel, »Wahrheit und propositionales Wissen in der Literatur«, mit der folgenden Bemerkung ab:

Die Behauptung, dass Literatur Wahrheiten vermittelt, bezieht sich […] auf die Vermittlung einer sehr breiten Vielfalt von Phänomenen: Behauptungen, die gerechtfertigt werden können, Hypothesen, deren Wahrheit dahingestellt bleibt, allgemeine Ansichten, die sich um eine These oder Hypothese herum artikulieren, oder Themen, die einfach zur Sprache kommen, ohne dass eine bestimmte Position bezogen wird. (151)

Dieses weite Spektrum an Arten, wie propositionale Inhalte durch Literatur vermittelt bzw. eben nur präsentiert oder zur Erwägung angeboten werden, erklärt aber gemäss Vendrell Ferran den kognitiven Wert von Literatur nicht vollständig, sondern spielt eine eher begrenzte Rolle.

Im 5. Kapitel, »Subjektive Perspektiven, Interpretation und Weltbezug«, geht es schließlich um eine erste Art nicht-propositionalen Wissens. Das Ziel ist es, »[…] zu zeigen, dass und inwiefern die Auseinandersetzung mit fiktionaler Literatur nicht nur mit den subjektiven Einsichten des Werks vertraut macht, sondern eine Bereicherung der Formen unseres Weltbezugs mit sich bringen kann.« (153) Vendrell Ferran spricht davon, dass Literatur die Funktion eines Katalysators haben kann: Wir eignen uns neue Perspektiven an, die wir dann auf unsere Auseinandersetzung mit der Welt anwenden können. Dies kann unsere Wahrnehmung der Welt, unser Denken über dieselbe, unser emotionales Reagieren auf die Welt und unsere Wünsche beeinflussen (vgl. 154-155). Ich werde mir Vendrell Ferrans Argumentation in diesem zweiten Teil in Hinblick auf zwei Fragen ansehen.

1. Inwiefern eignet sich Literatur besonders, subjektive Perspektiven zu vermitteln?

2. Wie genau kann das durch die Literatur Gelernte im Leben relevant gemacht werden?

Vendrell Ferran sieht die Bedeutung subjektiver Perspektiven in Anlehnung an Thomas Nagels Verteidigung der epistemischen Notwendigkeit einer subjektiven Perspektive auf die Welt (in The View from Nowhere[3]). Die Autorin bezieht sich zunächst auf das Fledermaus-Gedankenexperiment, in welchem Nagel in seinem Aufsatz »What is it Like to be a Bat?«[4] plausibel zu machen versucht, dass wir die Perspektive einer anderen Person – oder eben einer Fledermaus mit der ihr eigenen Echoortung – nicht subjektiv erfahren, sondern höchstens unvollständig und schematisch erfassen können. Das Gedankenexperiment soll zeigen, dass es nicht möglich ist, sich vorzustellen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein:

Our own experience provides the basic material for our imagination, whose range is therefore limited. It will not help to try to imagine that one has webbing on one’s arms, which enables one to fly around at dusk and dawn catching insects in one’s mouth; that one has very poor vision, and perceives the surrounding world by a system of reflected high-frequency sound signals; and that one spends the day hanging upside down by one’s feet in an attic. In so far as I can imagine this (which is not very far), it tells me only what it would be like for me to behave as a bat behaves. But that is not the question. I want to know what it is like for a bat to be a bat. Yet if I try to imagine this, I am restricted to the resources of my own mind, and those resources are inadequate to the task. I cannot perform it either by imagining additions to my present experience, or by imagining segments gradually subtracted from it, or by imagining some combination of additions, subtractions, and modifications.[5]

Vendrell Ferran unterscheidet nun zunächst zwei verschiedene Aspekte der Nagelschen subjektiven Perspektive: einen Erfahrungs-Aspekt und einen Perspektive-Aspekt und geht mit Lamarque und Olsen davon aus, dass beide Aspekte sich zum Zweck der Analyse des Erkenntnisgewinns durch Literatur trennen lassen. Zunächst geht es um den Perspektive-Aspekt. Damit ist eine subjektive Ausrichtung auf die Welt gemeint, etwa eine subjektive Einschätzung dessen, welche Aspekte der Welt wichtig sind (vgl. 156). Vendrell Ferran argumentiert, dass literarische Darstellungen besonders geeignet sind, subjektive Perspektiven zu vermitteln, da sie Perspektiven von Figur-Typen darstellen, die in der Realität nicht so deutlich vertreten sind. Außerdem können die ästhetischen Eigenschaften von Literatur uns helfen, in eine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit einer Perspektive zu treten:

Im Unterschied zu den alltäglichen Gesprächen mit anderen oder zur Auseinandersetzung mit Zeugen einer bestimmten menschlichen Realität hat der Kontakt mit anderen Perspektiven, den uns die Literatur vermittelt, etwas Eigentümliches, weil diese Perspektiven durch Metaphern und Bilder, durch einen besonderen Gebrauch der Sprache, durch Assoziationen und einen bestimmten Stil vermittelt werden, so dass sie ästhetisch wertvoll sind. (163)

Literatur vermittelt uns also Arten und Weisen, wie eine Figur sich auf die Welt richtet. Ebenso wie ein bestimmter Charakter kann auch das ganze literarische Werk uns eine Perspektive auf die Welt vermitteln, also gewisse Aspekte der Wirklichkeit hervorheben, die uns vorher nicht bekannt oder bewusst waren.

Vendrell Ferran beantwortet die Frage, wie wir es schaffen, den Weltbezug, den wir durch das literarische Werk kennen gelernt haben, für unser Leben fruchtbar zu machen, mit Bezug auf die Interpretationsarbeit, die die Leserin und der Leser leisten muss. Diese Interpretationsarbeit führt über das Verstehen der fiktiven Welt hinaus, weil sie es notwendig macht, dass wir uns die Perspektiven, die die Literatur anbietet, aneignen. Vendrell Ferran nennt 4 Beispiele, bei denen unsere Perspektivenvielfalt in der Wirklichkeit erweitert werden kann: 1. Literatur kann uns »[…] neue Nuancen (der) Körperempfindung und ihre Verbindung mit seelischen Phänomenen der Selbstwahrnehmung, der Selbsttäuschung und der Fremdwahrnehmung« zeigen (185). 2. Literatur kann der Leserin und dem Leser »die Begegnung mit neuen Schemata, die sich von den gewöhnlichen unterscheiden und neue Perspektiven eröffnen können« bieten (187) 3. Wir können dank Literatur »[…] eine neue emotionale Konstellation kennenlernen, Emotionen aussortieren und neue Muster identifizieren, für die wir vorher keinen Namen hatten« (188) 4. Wir kommen »[…] mit Handlungsmöglichkeiten in Kontakt, die innerhalb (eines gewissen) Rahmens als rational erscheinen« (189). In zumindest zweien dieser Beispiele (im 1. und im 3.) scheint die Einsicht, die wir gewinnen können, allerdings eng mit Erfahrungen verbunden zu sein. Als 3. Beispiel etwa führt Vendrell Ferran den Roman Abel Sánchez: Geschichte einer Leidenschaft von Miguel de Unamuno an, in welchem es um die Freundschaft zweier Männer geht, und in welcher der eine seinen »existentiellen Neid« (188) auf den anderen offenbart. Vendrell Ferran meint, dass wir diesen Neid verstehen können:

Wir können aus eigenen Erfahrungen die Neid-Episoden […] nachvollziehen, aber uns wird im Laufe der Lektüre des Textes allmählich bewusst, dass wir mit einem neuen emotionalen Muster konfrontiert sind. Um dieses neue Muster in der fiktiven Welt zu verstehen, verwenden wir dieselben Fähigkeiten, die wir gebrauchen, um die wirkliche Welt zu verstehen. (ebd.)

Hier scheint also das Verstehen der neuen »Gefühlskonstellation« (ebd.) eng mit dem Erfahren dieser neuen Dimension des Neids zusammenzuhängen. Vielleicht lassen sich Perspektive und Erfahrung eben doch nicht so einfach trennen?

Wir werden sehen, ob uns das nächste Kapitel eine Antwort auf die Frage gibt, wie Literatur dazu beiträgt, den Erfahrungsaspekt subjektiver Perspektiven zu vermitteln. Für den Perspektiven-Aspekt der subjektiven Perspektive können wir nun zunächst beantworten:

1. Literatur eignet sich besonders, subjektive Perspektiven zu vermitteln, weil sie, teils mit ästhetischen Mitteln, gewisse Aspekte in den Fokus rückt, die im Leben jenseits der Literatur möglicherweise verdeckt sind.

2. Die durch die Literatur eingenommene Perspektive wird durch die Interpretationsarbeit, die wir leisten müssen, für unser eigenes Leben relevant.

Wenden wir uns nun dem Erfahrungsaspekt zu, der im 6. Kapitel, »Erfahrung und literarische Vergegenwärtigung«, besprochen wird. Wie ist es möglich, dass Literatur subjektive Erfahrungsperspektiven vermittelt? Gemäß Vendrell Ferran hat die Erfahrung, die wir durch Literatur machen, sowohl eine ästhetische als auch eine epistemische Dimension (vgl. 198). Diese Erfahrung möchte Vendrell Ferran nicht als »Übertragung« (202) einer Erfahrung der Welt oder als »Bekanntschaft« (203) mit einer Erfahrung der Welt verstehen, sondern vielmehr, im Anschluss an Gabriel, als ›Vergegenwärtigung‹ einer solchen Erfahrung (209). Vergegenwärtigungen sind Erfahrungen, die uns im »Als-ob-Modus« gegeben sind (im Gegensatz zu Erinnerungen, die auch Vergegenwärtigungen, aber nicht »als-ob« sind). Ebenso gegeben sind Phantasien, aber die Vergegenwärtigung einer literarischen Situation weist folgende besondere Merkmale auf: a) sie ist Teilnahme am imaginativen Projekt einer Autorin oder eines Autors, b) unsere Aufmerksamkeit wird gelenkt, c) wir sind nicht selbst das Subjekt der Erfahrungen, d) Zeit und Raum der Fiktion liegen außerhalb jener der realen Welt und e) als »Träger« unserer Erfahrungen fungiert der Text (209-210). Vendrell Ferran nennt drei Schritte, die für die ›Vergegenwärtigung‹ durch Literatur notwendig sind: Erstens müssen die Erfahrungen nach den Vorgaben der Literatur in der Vorstellung rekonstruiert werden. Zweitens müssen wir dabei auf Erfahrungen, die uns vertraut sind und die wir erinnern, zurückgreifen, und im Text Erfahrungsmuster wiedererkennen. Drittens müssen wir die qualitativen Aspekte beisteuern, um die Vergegenwärtigung zu vervollständigen (vgl. 210-212).

Nun stellt sich hier natürlich die Frage, wie es denn möglich ist, neue subjektive Perspektiven zu erfahren bzw. zu vergegenwärtigen, wenn wir doch im Wesentlichen unsere eigene Erfahrung beisteuern, wie Nagel in der oben zitierten Passage sagt. Das Modell der Vergegenwärtigung liefert uns jedenfalls keine Erklärung dafür, wie jemand, der nicht weiß, wie es ist, ein Körperteil verloren zu haben, diese Erfahrung durch die Auseinandersetzung mit dem Roman 14 von Jean Echenoz vergegenwärtigen und somit in der Vorstellung nachvollziehen kann. Und wie soll es möglich sein, »existentiellen Neid« zu vergegenwärtigen, wenn solcher Neid uns aus dem eigenen Leben nicht bekannt ist? Vendrell Ferran behauptet jedenfalls, dass Literatur uns Erfahrungen zugänglich macht, ohne dass wir sie selbst machen müssen:

Mithilfe von literarischen Darstellungen wird uns […] die Unwiederholbarkeit verschiedener Erfahrungen wie etwa der, was es heisst, […] ein Mensch zu sein, der einen Arm im Krieg verloren hat, zugänglich, ohne dass wir dasselbe erleben müssen. (207)

Und an anderer Stelle:

Ich kenne Schmerz, Neid, Trauer, Verzweiflung, und wenn ich auch die konkreten Konstellationen, in denen diese Qualitäten im Buch auftreten, nie als solche erlebt habe, kann ich sie doch mithilfe meiner Erfahrungen in den Figuren der Protagonisten nacherleben. Gewiss wird die Erfahrung […] für einen Menschen, der einen Körperteil verloren hat, eine ganz andere Qualität haben als für mich, aber ich bin ebenfalls dazu fähig, seine Situation zu verstehen. (215)

Während sie im ersten Zitat zu sagen scheint, dass uns eine so drastische Erfahrung wie die, im Krieg einen Arm zu verlieren, zugänglich gemacht werden kann, scheint sie im zweiten Zitat zu sagen, dass die vorgestellte Erfahrung wohl nicht von gleicher Qualität sein kann, wenn ich ähnliches nicht tatsächlich selbst erlebt habe.

Nagel mag plausibel machen, dass subjektive Perspektiven zur Wahrnehmung der Welt bedeutsam sind und zur Erkenntnis beitragen. Er kann uns aber genau nicht helfen, wenn es darum geht, zu erklären, ob und unter welchen Umständen wir die Perspektive einer anderen Person einnehmen können. L. A. Paul hat in ihrem Buch Transformative Experience[6] argumentiert, dass die Lücke zwischen der eigenen Erfahrung und der Erfahrung eines anderen sich in bestimmten Fällen, in denen diese Erfahrung lebensverändernd ist, nicht schließen lässt, und dass wir daher auf der Basis von vorgestellten Erfahrungen keine rationalen Entscheidungen treffen können: »I will not argue that you can’t get information from the testimony of others when you make such choices. You can. But I will argue that such guidance only goes so far, for the information such sources can supply is incomplete.«[7] Paul geht es in ihrem Buch also vor allem um die Frage, ob wir auf der Grundlage von vorgestellten Erfahrungen rationale Entscheidungen treffen können (wie etwa, ob wir Eltern werden wollen), und sie verneint diese Frage. Gewisse Erfahrungen sind, so Paul, in ihrer Art besonders, eben unwiederholbar, und prägen und verändern das, was uns ausmacht: »When a person has a new and different kind of experience, a kind of experience that teaches her something she could not have learned without having that kind of experience, she has an epistemic transformation. Her knowledge of what something is like, and thus her subjective point of view, changes.«[8] Das von Vendrell Ferran behandelte Beispiel, in welchem wir versuchen, die Perspektive eines Mannes einzunehmen, der einen Arm verloren hat, scheint ein solches Beispiel zu sein.

Amy Kind[9] hingegen hat Paul kürzlich entgegengesetzt, dass wir nicht eindeutig zwischen ›transformativen‹ und ›nicht-transformativen‹ Arten von Erfahrungen unterscheiden können, und dass wir in vielen Vorstellungs-Projekten durchaus aus unserem Erfahrungsschatz schöpfen können, um uns neue Erfahrungen vorzustellen. So können wir etwa gewisse Aspekte in der Vorstellung kombinieren, im Beispiel des »existentiellen Neids« vielleicht existentielle Angst mit Neid, der einzelne Aspekte oder Güter betrifft, und im Beispiel des amputierten Arms vielleicht physischen Schmerz gemeinsam mit der Erfahrung endgültigen Verlustes. Sie nennt dieses Modell das ›Scaffolding-Modell‹. Vendrell Ferran scheint auf Kinds Seite zu stehen. Aber die Frage drängt sich auf: Kann Literatur vielleicht in eigentümlicher Weise dazu beitragen, solche Lücken zu schließen? Und wenn ja, wie genau könnte das erklärt werden? Ist es die ästhetische Aufbereitung des Themas? Oder der narrative Aspekt?

Vendrell Ferran stellt fest, dass literarische Vergegenwärtigungserfahrungen nicht grundsätzlich verschieden sind von Erfahrungen des Lebens:

Wenn literarische und Alltagserfahrungen nichts miteinander zu tun hätten, wäre nicht klar, inwiefern es möglich ist, aus den vergegenwärtigten Erfahrungen etwas für unsere Auseinandersetzung mit der Realität zu lernen. Allerdings können sie auch nicht ganz gleich sein, denn sonst könnte nicht erklärt werden, warum wir literarische Werke Erste-Person-Berichten oder Biographien häufig vorziehen. (225)

Sie nennt in Anlehnung an John Dewey[10] und Dorothy Walsh[11] folgende Unterschiede: Literarische Erfahrungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie eine klare und kohärente Struktur aufweist, dass wir eine reflexive Distanz zu ihnen einnehmen und dass sie anderen ebenso zugänglich sind und daher öffentlich diskutiert und kultiviert werden können (vgl. 227-228). Hinzu kommt, dass literarische Erfahrungen ästhetisch wertvoll sind, »[…] weil sie Objekt eines Gefallens oder Missfallens sind, weil sie Trägerinnen von ästhetisch relevanten Eigenschaften sind und weil sie potentiell Auswirkungen auf unser Leben haben können.« (235) Vendrell Ferran betont, dass auch diese Eigenschaften keinen kategorischen Unterschied zwischen Erfahrungen der Welt und literarischen Vergegenwärtigungen bedeuten, und dass genau diese Kontinuität zwischen beiden Erfahrungsarten es ermöglicht, dass die durch Literatur vergegenwärtigten Erfahrungen einen Einfluss auf unser Leben haben (vgl. ebd.). Unklar bleibt jedoch, ob und inwiefern die ästhetische Komponente von literarischen Vergegenwärtigungen irgendeinen Beitrag zum Verständnis fremder Erfahrungen leisten kann.

Für den Erfahrungs-Aspekt der subjektiven Perspektive können wir nun beantworten:

1. Es bleibt unklar, warum sich Literatur besonders eignet, subjektive Erfahrungen zu vermitteln.

2. Literarische Vergegenwärtigungs-Erfahrungen sind nicht grundsätzlich anders als Erfahrungen der Welt, und deswegen können sie Einfluss auf unser Leben haben.

Im 7. Kapitel, »Imaginative Anteilnahme und empathische Erkenntnis«, geht es schließlich um eine besondere Art der Vergegenwärtigungs-Erfahrung, nämlich um Empathie. Vendrell Ferran kritisiert sowohl die Theorie-Theorie als auch das Simulationsmodell und plädiert für Empathie als ebenfalls eine Form von Vergegenwärtigung. Der erste Einwand gegen das Simulationsmodell lautet folgendermaßen:

Im Fall der Simulationstheorie stellen wir uns die Situation des Anderen vor, indem wir uns in den anderen hineinversetzen und einen ähnlichen Zustand in uns selbst hervorrufen (d.h. simulieren). Um die Freude eines anderen zu verstehen, versetze ich mich in die Situation der anderen Person und simuliere, wie ich mich in dieser Situation fühlen würde. Nur so kann ich verstehen, wie der Andere sich fühlt. Dieses Modell setzt daher voraus, was es eigentlich erklären will. Damit wir die mentalen Zustände des Anderen simulieren können, müssen wir den anderen schon als einen anderen und nicht als blosses Dinge wahrgenommen haben. Damit haben wir bereits eine Vorstellung von seiner Welt, die wir ja gerade erst simulieren sollen, um sie zu verstehen. (252)

Zweitens kritisiert Vendrell Ferran, dass das Simulationsmodell uns keine umfassende Erklärung unserer Auseinandersetzung mit Literatur liefert. Drittens kritisiert sie die Behauptung, dass unsere simulierten Emotionen offline sind, d.h. uns z.B. nicht motivieren können, da sie die These vertritt, dass Vergegenwärtigungs-Erfahrungen einen Einfluss auf unser Leben haben können.

Zunächst zum ersten Einwand: In Psychologie wie Philosophie werden zwei verschiedene Perspektiven unterschieden, die wir je nach der verfügbaren Information einnehmen. Die erste Perspektive ist die Imagine-other-Perspektive, die zweite die Imagine-self-Perspektive. Die Imagine-other-Perspektive wird dann eingenommen, wenn wir genug Information sowohl über die Person, als auch über die Situation, in der sich die Person befindet, haben. Wir simulieren dann, wie sich diese andere Person in der betreffenden Situation fühlt. Die Imagine-self-Perspektive nehmen wir nur dann ein, wenn wir nicht genug Information über die Person haben. Dann behelfen wir uns damit, dass wir uns vorstellen, wie wir selbst uns in der betreffenden Situation fühlen würden. Von hier aus müssen wir dann immer noch versuchen, darauf zu schließen, wie sich die andere Person fühlt. Deswegen ist die Standard-Perspektive, die zu Empathie führt, auch die Imagine-other-Perspektive. [12] In keiner Weise setzt das Modell jedoch voraus, was es erklären will. Jede Theorie, die erklären will, wie wir andere verstehen, muss voraussetzen, dass wir zu verstehende Subjekte von anderen Dingen unterscheiden können. Zum zweiten Einwand: Selbstverständlich erklären sowohl die Theorie-Theorie als auch die Simulationstheorie selbstverständlich nicht alle Aspekte unserer Auseinandersetzung mit Literatur. Drittens schließt der Simulationsansatz nicht aus, dass unsere offline-Erfahrungen einen Einfluss auf unser Fühlen und Denken haben. Die Annahme, dass die Erfahrungen offline sind, bedeutet nur, dass z.B. meine simulierte Angst vor dem Mörder auf der Leinwand mich nicht aus dem Kino treibt, oder dass ich nicht getröstet werden muss, wenn ich mit dem Charakter, der seinen Arm verloren hat, mitfühle.

Der Vergegenwärtigungs-Ansatz, für den Vendrell Ferran plädiert, scheint eher wie ein Gefäß zu funktionieren, in das verschiedene Arten und Weisen, sich mit Literatur auseinanderzusetzen, hineingepackt werden. Denn in ihrer späteren Diskussion von drei »Formen der imaginativen Anteilnahme an Figuren« (254) im Rahmen der literarischen Vergegenwärtigung erwähnt Vendrell Ferran schließlich genau diejenigen Arten, von denen auch psychologische Untersuchungen ausgehen, ohne sich dabei auf den Begriff der Vergegenwärtigung zu beziehen: Wir können uns erstens von außen, ohne dabei die Perspektive zu übernehmen, vorstellen, wie es für eine Figur ist, in einer bestimmten Situation zu sein. Zweitens können wir »mit der Brille der Figur sehen« (256) oder eben die Imagine-self-Perspektive einnehmen, und drittens können wir die psychologische Beschaffenheit der anderen Person berücksichtigen und die Imagine-other-Perspektive einnehmen. Die Imagine-other-Perspektive, so Vendrell Ferran, setze beide vorhergehenden Formen der Interaktion mit Figuren voraus: »Ich muss mir die Situation des Anderen vorstellen und mir vorstellen, wie es für mich wäre, sie zu erleben, bevor ich die Vorstellungen haben kann, wie es für die Figur selbst ist, diese Situation zu erfahren.« (257) Wie oben bereits dargestellt, steht dies in Kontrast zu psychologischen Studien, welche zu zeigen scheinen, dass wir direkt die Imagine-other-Perspektive übernehmen, wenn ausreichend Information über die Situation und den Charakter gegeben ist.

Vendrell Ferrans Anliegen, dass Literatur als Quelle eines sehr breiten Spektrums an Wissen verstanden werden soll und dass dieses Wissen auf verschiedene Weise von Literatur gewonnen werden kann, überzeugt. Neben der Literaturwissenschaft und der Philosophie beschäftigt sich allerdings auch die Psychologie mit Fragen etwa der Empathie oder mit dem Lernen von Literatur. Hier wäre eine etwas breitere und vertiefte Interdisziplinarität wünschenswert gewesen.

Anmerkungen

[1] Peter Lamarque/Stein Haugom Olsen, Truth, Fiction, and Literature. A Philosophical Perspective, Oxford 1994. [zurück]

[2] Gottfried Gabriel, Vergegenwärtigungen in Literatur, Kunst und Philosophie; in: Lebenswelt und Wissenschaft, in: Carl F. Gethmann (Hg.), XXI. Deutscher Kongress für Philosophie, 15.-19. September 2008 an der Universität Duisburg-Essen, Hamburg 2011, 726-745. [zurück]

[3] Thomas Nagel, The View from Nowhere, Oxford 1986. [zurück]

[4] Thomas Nagel, What Is it Like To Be a Bat?, Philosophical Review 83 (1974), 435-450. [zurück]

[5] Ebd., 439. [zurück]

[6] Laurie A. Paul, Transformative Experience, Oxford 2014. [zurück]

[7] Ebd., 4. [zurück]

[8] Ebd., 10-11. [zurück]

[9] Amy Kind, What Imagination Teaches, im Erscheinen. [zurück]

[10] John Dewey, Art as Experience, New York 2005. [zurück]

[11] Dorothy Walsh, Literature and Knowledge, Connecticut 1969. [zurück]

[12] Siehe etwa C. Daniel Batson, Two forms of perspective taking: Imagining how another feels and imagining how you would feel, in: Keith D. Markman, William M. Klein/Julia A. Suhr (Hg.), Handbook of imagination and mental simulation, New York 2009, 267-279. [zurück]

2018-12-02

JLTonline ISSN 1862-8990

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