Lena Hartnagel

Von (un)anständigen Autoren, Erzählern und Figuren.

Liesbeth Korthals Altes fragt, wie Literatur unser Moralempfinden anrühren kann.

Liesbeth Korthals Altes, Ethos and Narrative Interpretation. The Negotiation of Values in Fiction, Lincoln/London, University of Nebraska Press 2014. XVI, 325 S. [Preis. EUR 60,99]. ISBN: 978-0-8032-4836-6.

Literarische Texte und ihre Autoren sind imstande, Skandale auszulösen: Insbesondere dann, wenn sich das Publikum von Autorinnen oder Autoren getäuscht fühlt – wie etwa durch James Frey und seine vermeintliche Autobiographie »A Million Little Pieces«oder wenn Irritationen über die Intentionen der Autoren oder Autorinnen bestehen – wie es sich etwa in den Reaktionen auf Publikationen Michel Houellebecqs feststellen lässt. Ausgehend von diesen Beobachtungen untersucht die niederländische Professorin für General Literature, Liesbeth Korthals Altes, in ihrer Studie »Ethos and Narrative Interpretation. The Negotiation of Values in Fiction« Zusammenhänge und Bedeutung von Narration und Ethik für den Interpretationsprozess der Rezipientinnen und Rezipienten literarischer Texte. Kristallisationspunkt ihrer Untersuchungen ist der Begriff des ›Ethos‹, der nach Aristoteles die Eigenschaften einer Person in Bezug auf ihre praktische Weisheit (phrónesis), ihren Chrakter bzw. ihre Tugendhaftigkeit (aret) und ihre Gesinnung bzw. ihren guten Willen (eúnoia) impliziert. Bei Korthals Altes wird die Zuschreibung eines ›Ethos‹ zu einer heuristischen und evaluativen Beschreibungskategorie im Lektüreprozess. Lesende nehmen vor, während und nach der Lektüre literarischer Texte Ethos-Attributionen vor, die sich auf drei Instanzen unterschiedlicher Text-Ebenen beziehen können: Figuren (characters), Erzähler (narrators) und Autoren (authors).

Ihre These lautet konkret:

[I]n process of interpreting and evaluating narrative texts, ideas about characters’, narrators’,and author’s ethos – for instance, about their sincerity, reliability, authority or irony – are not just the result of interpretive processes. They also play a central framing role even before, and throughout, the reading process. (viii)

Diese These entwickelt sie in drei Hauptteilen, die jeweils in zwei Kapitel untergliedert sind. Hilfreich für ihre Argumentation und die Verfolgung des Gedankenganges sind ihre regelmäßigen strukturierenden und klärenden Zusammenfassungen.

Im ersten Teil »Ethos, Narrative, and the Social Construction of Meanings and Values« (17–86) verortet sie ihre Fragestellung im Kontext von Theorien literarischen Verstehens im Allgemeinen. Sie betont dabei zum einen (mit Verweisen auf Bakhtin, Voloshinov, Uspensky, Iser und Rabatel) die Funktion von Literatur als Probe- und Erkenntnisraum für metakognitive Prozesse der Reflexion über Bedeutung und Werte; zum anderen stellt sie die Bedeutung von Interpretation (nach Auseinandersetzung mit hermeneutischen Theorien der Interpretation von Schleiermacher bis Ricœur) als notwendigem Akt kultureller Praxis heraus.

In der Konsequenz bezieht Korthals Altes in einem nächsten Schritt soziologische Theorien (Bourdieu, Viala, Meizoz, Heinich) in ihre Überlegungen mit ein: Für die grundlegende soziale Kompetenz, andere Akteure in sozialen Begegnungen zu bewerten, Annahmen über ihre Intentionen zu entwickeln und damit Ethos-Attributionen vorzunehmen, findet sich in der Literatur einerseits ein konkretes Übungsfeld – andererseits kann Literatur auf einer Meta-Ebene aufschlussreich für das Verständnis solcher Attribuierungsvorgänge sein.

Im zweiten Teil »Ethos in Narratology: The Return of the Repressed« (87–169) werden Relevanz und Ort von Ethos-Attributionen in der Erzähltheorie untersucht. Nachdem die Autorin gezeigt hat, dass die etablierten erzähltheoretischen Ansätze diesbezüglich keinen Konsens aufweisen, macht sie die strittigen Punkte, auf die hin der jeweilige Ansatz zu prüfen ist, an fünf konkreten Aspekten fest: Zunächst stellt sich die Frage, (1) ob eine rhetorische Perspektive auf Literatur als Form der Kommunikation (narrative communication) vorliegt, sowie diejenige (2) nach der Rahmung (embeddedness) von Texten, wie sie unter dem Aspekt der Diegese verhandelt wird. Weiterhin ist zu prüfen, (3) ob und wie erzähltheoretische Modelle die Instanz des Autors und dessen Intentionen als zulässige Kategorie der Betrachtung fassen und (4) welches Verständnis von Fiktionalität vorliegt. Schließlich werden (5) Lesestrategien, Lesarten oder Leseweisen relevant, die aus den jeweiligen literaturtheoretischen Modellen resultieren.

Im nächsten Schritt werden die so generierten und konventionalisierten, vom erzähltheoretischen Konzept abhängigen Erwartungen und Rahmungen ausführlich untersucht, die für die Attribuierung von Ethos bezüglich der Kategorien ›Figur‹, ›Erzählinstanz‹ und ›Autor‹ durch die Lesenden einschlägig sind, und diskutiert, in welcher Weise sich solche Attribuierungen auf die Interpretation und Bewertung literarischer Texte auswirken. Insbesondere nimmt sie dabei die Bedeutung der Größe ›Autor/Autorin‹ in den Blick, der sie hohe Relevanz zumisst:

Only by recognizing the interretive and composite character of the author image, including that of the implied author, can narratology begin to address the diversity of readings, which would particularly appear in readers’ diverging construction of narrator’s and author’s ethos, or of a text’s irony. To take on board the author’s postures, his or her public images and modes of self-fashioning, also allows us to heed, in fairly precise ways, the broader context within which literature’s rhetorical dimension operates. (169)

An Beispielen wie Philip Roths »The Human Stain« oder Samuel Becketts »Not I« illustriert und erprobt sie ihre Überlegungen.

Der letzte Hauptteil »Further Explorations: Contracts and Ethos Expectations« (171–255) beschäftigt sich mit grundsätzlichen, durch die Rahmung einzelner Texte geweckten Ethos-bezogenen Lesererwartungen, die bereits im Vorfeld der Lektüre das Verständnis lenken können (heuristic potential of framework): Besonders bedeutsam sind hier die Rolle der Gattungszuordnung und – gewissermaßen damit einhergehend – die zwei als grundlegend beschriebenen Attribuierungen bezüglich ›Aufrichtigkeit‹ und ›Ironie‹ der Erzählhaltung:

Genres can be considered to raise expectations regarding the point of the literary experience and the work’s rhetorical aims: for instance to inform and, often, to testify or denounce, in documentary works, to reflect in the essay. To the generic expectations [sic!] also belong anticipation regarding an author’s or narrator’s ethos and about the interpretive and evaluative regimes considered appropriate. A writer also adopts a posture and expresses a conception through the choice of genre. (173)

Aus Perspektive der Leser kann die Erscheinungsform des Textes, die eine bestimmte Gattungszuordnung nahelegt, entscheidend für die Erwartungen an einen Text und das daraus resultierende Zusammenspiel von Ethos-Attributionen und Textverständnis werden. Genau an dieser Stelle liegt aus Sicht der Autorin auch einer der häufigsten Faktoren des eingangs beschriebenen Irritations- und Konfliktpotenzials von Literatur:

Die Reaktionen auf einen Text provokativen Inhalts etwa werden andere sein, wenn er sich als Satire zu erkennen gibt, als wenn er als Essay publiziert wird; eine Autobiographie erweckt andere Erwartungen an die Identifikation von Autor und Erzählinstanz als ein Roman.

Das methodische Vorgehen, eine solche Vielzahl an Theorien und Modellen unterschiedlicher Disziplinen (Hermeneutik, Soziologie, Kognitionstheorie, Rhetorik etc.) in den Blick zu nehmen, birgt durchaus seine Probleme, auf die die Autorin selbst deutlich an mehreren Stellen hinweist und so den drohenden Vorwurf, eklektizistisch zu arbeiten, vorwegnimmt: Sie erhebt nicht den Anspruch, eine begriffs- und ideentheoretisch hergeleitete Theorie zu entwerfen, sondern bringt umgekehrt in einer transdisziplinären Studie verschiedene Theorien ins Gespräch, und prüft deren Implikationen für ihre eigene Fragestellung und These.

Liesbeth Korthals Altes’ Arbeit zeigt, dass und auf welche Weisen Ethos-Attributionen innerhalb der Konzepte zu Narration und Ethik, aber auch im allgemeinen literaturtheoretischen Diskurs relevant sind und berücksichtigt werden sollten.

Besonders die Metaanalyse der narratologischen Konzepte im zweiten Hauptteil und die Herausarbeitung der virulenten Kriterien machen ihre Überlegungen für weitere Forschungen anschlussfähig. Auch die Anwendbarkeit des Modells auf konkrete literarische Texte wird durch die klare Fokussierung auf die personenbezogene Kategorie des ›Ethos‹ ermöglicht, die die Analyse rezeptionsrelevanter moralischer und ethischer Implikationen in Texten mittels der drei Instanzen ›Figur‹, ›Erzähler‹ und ›Autor‹ strukturiert.

Im doppelten Sinne sucht Liesbeth Korthals Altes in ihrer Studie nach den »rules that we play when we engage in literature« (86): Ihr Modell der Ethos-Attribution liefert einerseits eine heuristische Perspektive für die Analyse literarischer Texte sowie narratologischer Konzepte, transportiert andererseits aber auch klar erkennbar ein Anliegen: Sie traut Literatur zu, ethische Reflexionsprozesse auszulösen und zu strukturieren. Insbesondere durch ihre mehrfach formulierte Forderung nach empirischer Prüfung ihrer Ideen und Fruchtbarmachung für Bildungs- und Erziehungskontexte kommt so die Relevanz der Ethos-Attribution für Interpretationsprozesse auch in einer normativen Dimension in den Blick.

2018-01-15

JLTonline ISSN 1862-8990

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