Jost Schneider
Methoden, Institutionen, Schulen und Personen in geistes- und kulturwissenschaftlichen Theorien des 20. Jahrhunderts.
Marina Grishakova/Silvi Salupere (Hg.), Theoretical Schools and Circles in the Twentieth-Century Humanities. Literary Theory, History, Philosophy. New York/London: Routledge 2015 (= Routledge interdisciplinary perspectives on literature; 42). xii, 287 p. [Preis: £ 110.00]. ISBN: 978-1-138-80461-6.
Dieser Sammelband möchte keine systematische, abgerundete Darstellung der theoriegeschichtlichen Entwicklung im 20. Jahrhundert bieten, sondern »a significant supplement« (x) zu den kanonisierten methodengeschichtlichen Überblicksdarstellungen liefern, um auf diese Weise zu veranschaulichen, »that what is called ›theory‹ is often more ambivalent, controversial, and historically ambient than the standard academic account implies« (xi). Aufbau und Inhalt der 14 Beiträge folgen demgemäß keiner von den Herausgebern vorgegebenen Struktur, sondern ihrer jeweils eigenen Begriffsbildungs- und Argumentationslogik.
Gleichwohl lassen sich vier verschiedene Haupttypen von Beiträgen herauskristallisieren: Erstens ist dies der Augenzeugenbericht, dessen Fokus auf Personen, menschlichen Beziehungen, Innenansichten und manchmal auch Anekdotischem liegt, das aus der Perspektive eines ›echten Insiders ‹ präsentiert wird, der auch als Individuum mit ganz persönlichen Vorlieben und Abneigungen spürbar ist. Zweitens begegnet uns der Typus der institutionsgeschichtlichen Abhandlung, deren Augenmerk sich hauptsächlich auf die Rahmenbedingungen richtet, unter denen sich die jeweilige Gruppe oder Schule konstituiert und entwickelt hat, wobei viel über Organisationen, Institutionen, Publikationsorgane, Stipendien usw. zu erfahren ist. Drittens schließlich stoßen wir auf methodengeschichtliche Darstellungen, die sich im Sinne einer Einführung oder eines komprimierten Überblickes auf die wesentlichen Fragestellungen und Begriffe einer Schule richten und dabei auch den Inhalt einiger Hauptwerke vorstellen. Als einen vierten Haupttypus können wir schließlich synthetisierende Darstellungen identifizieren, in denen keine der drei genannten Ausrichtungen erkennbar dominiert.
Augenzeugenberichte
In seinem Artikel über »The Greimassian Semiotic Circle« liefert der Greimas-Schüler Eric Landowski ein vollplastisches Porträt seines Lehrers, der als Immigrant zunächst keinen Zugang zum alteingesessenen akademischen Pariser Establishment besaß und keine bedeutenden materiellen oder personellen Ressourcen mobilisieren konnte, der jedoch als »a charismatic leader« (87) immer wieder führende Intellektuelle und vielversprechende Nachwuchswissenschaftler in seinem wöchentlich durchgeführten Seminar zu versammeln wusste und dadurch nach und nach ein weltweites Netzwerk von befreundeten, wenn auch keineswegs durchgängig seine Positionen teilenden Kollegen aufzubauen verstand. Im Anschluss an die »happy period of the 1970s and 1980s« (90) kam es zwar zu schweren, auch polemisch geführten Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Gruppen von Greimas-Schülern, aber »once the crisis of the 1990s had passed, cohesive forces came into play once again« (91f.). Trotz ihrer sperrigen Terminologie hat die Greimas’sche Semiotik heute, wie Landowski resümiert, weltweite Verbreitung, zumal sie sich weit von ihren Anfängen, mit denen sie allerdings in methodengeschichtlichen Überblicksdarstellungen nicht selten noch immer identifiziert wird, entfernt und diversen gesellschaftlich aktuellen Fragestellungen zugewandt hat.
Erfahrungen und Ansichten eines echten Insiders liefert auch der Beitrag »Tales out of (the Yale) School« von J. Hillis Miller, der zusammen mit Bloom, Hartmann, Derrida und de Man in den späten 70er und frühen 80er Jahren jene Forschergruppe bildete, deren Technik der detaillierten rhetorischen Textanalyse besonders in der von Derrida geprägten Erscheinungsform der ›Dekonstruktion‹ zeitweise Weltgeltung erlangte. Es gelingt dem Verfasser, prägnante Porträts aller fünf Protagonisten zu liefern, die im Yale-Kollegium offenbar einen schweren Stand hatten: »Far from being dominant at Yale, the so-called Yale-School remained a somewhat beleaguered minority that many Yale humanists were glad to see the last of when it disappeared« (128). Aus persönlicher Anschauung und langjährigem kollegialen Umgang heraus schildert Hillis Miller insbesondere sehr detailliert die theoretisch-inhaltlichen Unterschiede zwischen Derrida und de Man, während bei Bloom, Hartmann und auch ihm selbst mehr die Persönlichkeiten denn die Werke im Zentrum seiner Ausführungen stehen.
Institutionsgeschichtliche Abhandlungen
Hierunter fällt als erstes der von Tomáš Glanc verfasste Beitrag über »The Russian Formalists as a Community«, worin besonders das komplexe Verhältnis zwischen OPOYAZ (Petrograd Society for the Study of Poetic Language um Shklovsky und Tynyanov) und MLC (Moscow Linguistic Circle um Roman Jakobson) differenziert analysiert wird. Glanc charakterisiert die Formalisten als eine »fragile community« (8), deren Mitglieder ihre Gruppenzugehörigkeit teilweise selbst abstritten, was vor dem Hintergrund der politischen Verfolgung des formalistischen Ansatzes allerdings nicht viel zu besagen hat. Jedenfalls traten neben die beruflichen schon früh auch private und sogar amouröse Beziehungen zwischen (älteren und jüngeren) Gruppenmitgliedern (vgl. 9 u. 16), die zudem durch – allerdings keineswegs einheitliches – politisches Engagement und künstlerische Aktivität miteinander verbunden waren. Als wesentliches Bindeglied zwischen den heterogenen Aussagen und Bestrebungen der Formalisten erkennt Glanc das Interesse an der Frage, ob es eine autonome, keinen ideologischen Vorgaben unterstellte, in einem strengen Sinne als wissenschaftlich zu bezeichnende Literaturwissenschaft geben kann und wie deren Gegenstand und Vorgehensweise zu definieren wäre. Dass es mehr Übereinstimmung in der Formulierung dieser Frage als in ihrer Beantwortung gegeben zu haben scheint, hat dem in dieser Gruppe stark ausgebildeten Gemeinschaftsgefühl offenbar keinen Abbruch getan.
Der von Adam F. Kola und Danuta Ulicka verfasste Artikel »From Circles to the School (and Back Again). The Case of Polish Structuralism« hat das Verdienst, nicht nur eine bestimmte Forschergruppe zu thematisieren, sondern – trotz der in diesem Fall besonders beklagenswerten Verluste an diesbezüglichen Archivalien und Materialien – nicht weniger als eine kurzgefasste Geschichte der polnischen Literaturwissenschaft zu liefern. Schon vor der produktiven Zeit der strukturalistischen Schule (1956–68) gab es, wie die Autoren detailliert nachweisen können, eine lebendige, überwiegend formalistisch geprägte Forscherszene in drei Zirkeln (Warsaw, Posnań, Vilnius), die nach dem Krieg maßgeblich an der Konstituierung der polnischen strukturalistischen Schule beteiligt waren und dabei nicht nur unter im engeren Sinne methodologischer Hinsicht an ihre Vorkriegserfahrungen anknüpfen konnten: »The project of creating an independent modern research unit that would serve as a formal and organizational agenda of contemporary literary studies and providing the necessary autonomy from the petrified university structures was first formulated before the war« (75).
Institutionsgeschichtlich orientiert ist auch der Beitrag »Tel Quel. Theory and Practice« von Patrick ffrench [!], in dem die Geschichte der Zeitschrift Tel Quel (1960–82) rekapituliert wird. Der Verfasser erkennt vier »shifts in direction« (101) in der programmatischen Ausrichtung dieses in seinen Anfängen gegen Sartres Konzept einer engagierten Literatur gerichteten Periodikums, und zwar 1962/63 in Richtung auf den Formalismus, 1967 hin zum Marxismus und der Kommunistischen Partei Frankreichs sowie 1971 zum Maoismus, bevor dann 1976 unter dem Eindruck des Schreckensregimes der Viererbande eine Öffnung und Pluralisierung zu verzeichnen gewesen sei (vgl. 101 u. 109). Wichtigste inhaltliche Konstante sei die Reflexion auf die Praxis des Schreibens und ein starker Glaube an das kritische Potential der Literatur. Besonders im Prosastil der in Tel Quel publizierten literarischen Texte von Autoren wie Sollers, Baudry, Risset, Rottenberg und Henric mache sich diese verbindende Grundüberzeugung vieler Kontribuenten bemerkbar: »To some extent it is here that it might make most sense, ironically, to speak of Tel Quel as a coherent group, insofar as the prose fictions produced by Tel Quel participants tend toward homogeneity, the particularities of plot and of psychology having been abandoned, and the stylistic attributes of the ›author‹ having become redundant« (103). Obwohl sich das Herausgeberkomitee immer wieder änderte, können doch Sollers, Pleynet, Barthes, Derrida und Kristeva als Zentralfiguren beschrieben werden, die das Profil der Zeitschrift langfristig prägten und ihren internationalen Erfolg sicherten.
Methodengeschichtliche Darstellungen
In diese dritte Kategorie fällt erstens der Beitrag »Bakhtin and His Circle« von Daphna Erdinast-Vulcan und Sergeiy Sandler, worin allerdings nur am Rande von Bakhtins Weggefährten in Nevel (1918–24; Kagan, Voloshinov u.a.) und Leningrad (1924–30; Brandist, Tihanov u.a.) die Rede ist. Stattdessen konzentriert sich der Artikel ganz überwiegend auf eine differenzierte Beschreibung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Bakhtins früher und später Schaffensphase, wobei die frühe Auseinandersetzung mit dem Neokantianismus von Matvei Kagan als wesentliche Grundlage auch für sein Spätwerk identifiziert wird, da »the seeds of Bakhtin’s mature conception are already sown in his earlier work« und »all of these philosophical principles […] are also reflected in the later work of other Circle members« (32). Alles in allem handelt es sich bei diesem Beitrag eher um eine Bakhtin-Studie als um eine Abhandlung über den (früheren und/oder späteren) Bakhtin-Kreis.
Ganz überwiegend methodengeschichtlich verfährt zweitens der Artikel »The Chicago School. From Neo-Aristotelian Poetics to the Rhetorical Theory of Narrative« von James Phelan, der zwischen einer ersten (Crane, Olson, McKeon, Maclean, Keast und Weinberg), einer zweiten (Sacks, Booth und Rader) und einer dritten (Richter, Rabinowitz und Phelan selbst) Generation der Chicago-School unterscheidet und der die zentralen Gedanken und Schlüsselbegriffe der genannten Autoren zu rekapitulieren versucht, wobei eher von Ausdifferenzierungen und Weiterentwicklungen im Rahmen eines selbstreflektierten Pluralismus als von Unterschieden oder gar Widersprüchen die Rede ist. Phelan räumt ein, dass die erste Generation in der Auseinandersetzung mit dem New Criticism unterlegen war, hält aber dafür, dass ihre Nachfolger sich gleichwohl im akademischen Feld etablieren konnten und dass die allerneueste Produktion der Chicago-School »testifies to the ongoing value and vigor of what is now a very long and very rich tradition« (149).
Der dritte Beitrag, dessen Schwerpunkt auf der methodengeschichtlichen Dimension seines Gegenstandes liegt, trägt den Titel »The Geneva School. Form and Signification in Motion« und stammt aus der Feder von Olivier Pot. Beschrieben werden insbesondere die Bemühungen der Genfer, das von ihnen im Stil der Nouvelle Critique praktizierte close reading in methodologisch konsistenter Form mit werktranszendenten Methoden wie Psychoanalyse, Antipositivismus, Hermeneutik, Rezeptionstheorie oder auch Ideengeschichte zu verbinden. Eine klar konturierte Interpretationstheorie ist daraus nicht erwachsen, aber in der beständigen, besonders in den 1960er Jahren sehr intensiven Auseinandersetzung zwischen Poulet, Raymond, Béguin, Rousset, Starobinski und anderen Repräsentanten der Genfer Schule kristallisierten sich doch einige Grundüberzeugungen heraus, die von allen Gruppenmitgliedern geteilt wurden und zu denen an erster Stelle die Überzeugung gehörte, dass die philologische Praxis von der (v.a. stilanalytischen) Bemühung um das thematisierte Werk und nicht von einer vorgefassten Theorie ihren Ausgang nehmen müsse, ohne dass aber textexterne Faktoren bei der Interpretation zu skotomisieren wären.
Überwiegend methodengeschichtlich verfährt auch Jacques Revel in seinem von Paul Earlie übersetzten Artikel »›Annales‹ on the Move«, der die innere Entwicklung der Annales-Schule von Bloch und Febvre sowie ihrer prominenten Schüler nachzeichnet, wobei natürlich in erster Linie das Wirken von Braudel, Labrousse und Le Goff berücksichtigt wird. Neben der Zeitschrift Annales wird auch die Etablierung des von Bloch und Febvre begründeten Ansatzes an der École pratique des hautes études (bzw. ab 1975 der École des hautes études en science sociales) kurz dargestellt, aber im Wesentlichen konzentriert sich der Verfasser auf die innere methodologische Entwicklung des Annales-Ansatzes, der anfangs in seiner Kritik an der historiographischen Methodik des 19. Jahrhunderts noch klar konturiert erschien, in der Boomphase der 1970er Jahre jedoch immer stärker ausdifferenziert wurde und schon ab den 1980er Jahren diverse Versuche einer methodologischen Neubestimmung erfuhr. Deren gemeinsamer Nenner ist weniger in einer einheitlichen, abgerundeten Theorie als vielmehr in Interdisziplinarität und Abneigung gegen die großen Erzählungen sowie in einer bestimmten Art der erzählerisch-sprachlichen Vermittlung historischer Forschungsergebnisse (vgl. 245) zu erkennen.
Der von Adrian May verfasste Beitrag »›Lignes‹. Intellectual Circle or Intellectual Spacing?« konzentriert sich ebenfalls ganz überwiegend auf die inhaltlichen und methodologischen Dimensionen seines Gegenstandes. May präsentiert die 1987 gegründete, hauptsächlich von Linksintellektuellen wie Surya, Marmonde, Nancy, Badiou und Balibar getragene Zeitschrift als kleineres, politisch radikaleres Parallelunternehmen zu Tel Quel, wobei aber im Falle von Lignes der Einfluss psychoanalytischer Konzepte und Begriffe sowie die Bedeutung der Literatur und der Theorie des Schreibens stets geringer geblieben sei. Nicht zuletzt als Konsequenz aus den in Ernüchterung endenden Erfahrungen von Tel Quel mit dem Maoismus habe Lignes eine offenere, grundsätzlich totalitarismuskritischere und -fernere Position übernommen, die sich als radikal anti-nationalistisch und anti-identitär beschreiben lasse. Dass Lignes immer stärker in den Ruf geriet, Organ einer radikalen Linken zu sein, sei einer Blickverzerrung infolge einer allgemeinen Rechtsverschiebung des politischen Diskurses geschuldet. Auf Finanzierungsprobleme sei es hauptsächlich zurückzuführen, wenn sich Lignes in den letzten Jahren eines gemäßigteren Tones befleißige, der ein internationaleres Leserpublikum und größere Teile des politisch interessierten akademischen Publikums ansprechen solle.
Synthetisierende Darstellungen
Hier wäre an erster Stelle der Artikel »Prague Linguistic Circle« von Lubomir Doležel zu nennen, in dem sowohl die wichtigsten Akteure und Publikationen des Prager Strukturalismus als auch seine institutionsgeschichtlichen Voraussetzungen (Verhältnis zum Marxismus und später zum Stalinismus, Organisationsformen, Publikationsforen etc.) dargestellt und durch interessante persönliche Erinnerungen des Verfassers, der bekanntlich bei Havránek promovierte und mit zahlreichen Mitgliedern des Zirkels bekannt und befreundet war, abgerundet werden. Doležels Beitrag bleibt ganz auf den Prager Zirkel fokussiert und beschäftigt sich gar nicht bzw. nur in wenigen kurzen Worten mit anderen Erscheinungsformen des Strukturalismus (Genfer Schule, Kopenhagener Glossematik, Französischer Strukturalismus usw.).
Keine persönlichen Erinnerungen, aber doch eine gelungene Kombination aus institutions- und methodengeschichtlicher Darstellung liefern Grishakova und Salupere, die beiden in Tartu lehrenden Herausgeberinnen des Bandes, die in ihrem Beitrag »A School in the Woods. Tartu-Moscow Semiotics« sowohl die wichtigsten Publikationen der Gruppe (und insbesondere ihrer Hauptprotagonisten Lotman und Uspensky) vorstellen als auch die spannungsreiche Beziehung der Tartu-Moscow School zur offiziellen sowjetischen Wissenschafts- und Kulturpolitik veranschaulichen. Die interdisziplinäre und komparatistische Perspektive dieser Spielart von Kultursemiotik zog schon früh die Aufmerksamkeit der sowjetischen Zensoren auf sich, die einem solchen »outburst of intellectual energy« (174), wie er sich beispielsweise im »dandyish habit of citing Latin, English, French, German and other major European Languages without translation« (179), der das 1964–70 regelmäßig publizierte Periodikum der Gruppe Sign Systems Studies (SSS) auszeichnete, zeigte, verständnislos gegenüber standen und mit diversen Repressionen begegneten.
Ganz ähnlich wie Grishakova und Salupere verfahren Brian McHale und Eyal Segal in ihrem Beitrag »Small World. The Tel Aviv School of Poetics and Semiotics«. Nur kurz charakterisieren sie »the charismatic personality of Benjamin Hrushovski« (200), dessen gegen jedwede ideologische Indienststellung kultureller Erzeugnisse gerichtete Integrational Semantics den übergeordneten Rahmen bilden, in dem sich die Aktivitäten seiner Schüler und Kollegen seit den 1960er Jahren entfalteten. Ausführlich werden seine Grundgedanken sowie die wichtigsten Publikationen seiner prominenten Schüler Even-Zohar, Toury und Sternberg vorgestellt und aus methodengeschichtlicher Perspektive kommentiert. Dazu treten institutionsgeschichtliche Beschreibungen, die sich vor allem auf die Geschichte von Poetics today, dem wichtigsten Publikationsorgan der Gruppe, sowie auf die politischen Rahmenbedingungen ihrer Arbeit beziehen, denn »the scholars of the Tel Aviv School were to find themselves shut out from full participation by historical forces beyond their control« (212). Die Autoren schließen ihren Beitrag mit dem skeptischen Hinweis, dass dies auch für die unmittelbare Gegenwart gelte, weshalb der Fortbestand der Schule gefährdet sei.
Renate Lachmann liefert in ihrem Artikel »Poetics and Hermeneutics (›Poetik und Hermeneutik‹)« eine anschauliche, mit Insiderinformationen angereicherte Übersicht über die methoden- und institutionsgeschichtliche Verortung einer der einflussreichsten Arbeitsgruppen in der bundesdeutschen Geschichte der Geisteswissenschaften. Von 1963 bis 1994 organisierte diese von Jauss, Heselhaus, Blumenberg und Iser gegründete Gruppe, zu der – teils vorübergehend als gelegentliche Gäste und teils dauerhaft als regelmäßige Teilnehmer – prominente Forscher aus ganz unterschiedlichen Disziplinen wie Lachmann, Stierle, Weinrich, Henrich, Marquard, Frank, Rorty, Habermas, Koselleck und Imdahl traten, 17 mehrtägige Kolloquien, deren Ergebnisse (Vortragstexte, Kommentare und Diskussionsprotokolle) jeweils in dickleibigen Publikationen dokumentiert wurden. Viele dieser Sammelbände wie z.B. Terror und Spiel (1971), Funktionen des Fiktiven (1983) oder Individualität (1988) gelten heute als Standardwerke der Humanities. Weniger durch eine inhaltlich-methodologische Übereinstimmung als durch ihr Diskussionsniveau ist die Arbeit dieser einflussreichen Gruppe charakterisiert, in der führende Repräsentanten fast aller geisteswissenschaftlichen Disziplinen für mehr als drei Jahrzehnte in enge Verbindung traten und in oft durchaus kontroverser Weise aus interdisziplinärer Perspektive aktuelle Themen ihrer Fächer diskutierten, wobei die ursprüngliche thematische Fokussierung auf Hermeneutik bzw. Hermeneutikkritik nicht selten überschritten wurde.
Alles in allem ist der Sammelband von Marina Grishakova and Silvi Salupere mehr als »a significant supplement« (x). Er bietet neue Einsichten in die methodengeschichtliche Entwicklung der – ehemals so genannten – Geisteswissenschaften, und zwar nicht nur im osteuropäischen Raum (Formalismus und seine Nachwirkungen), sondern in einer globalen Perspektive. Obwohl der einschlägige Sammelband[1] von Danneberg et al. darin keine Berücksichtigung findet, bietet das Buch wertvolle Fallstudien zur Entwicklung theoretischer Schulen und ihrer oftmals sehr unterschiedlich profilierten Mitglieder, deren kleinster gemeinsamer Nenner der Vierklang von Internationalität, Interdisziplinarität, Exzellenz und gleichartiger Fragerichtung zu sein scheint.
[1] Lutz Danneberg / Ilka Höppner / Ralf Klausnitzer (Hg.), Stil, Schule, Disziplin. Analyse und Erprobung von Konzepten wissenschaftsgeschichtlicher Rekonstruktion (I). Frankfurt a. M. u.a. 2005. [zurück]
2017-10-16
JLTonline ISSN 1862-8990
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