A. Florian Pahlke
Das weite Feld der Fiktionalität
Monika Fludernik/Nicole Falkenhayner/Julian Steiner (Hg.), Faktuales und fiktionales Erzählen. Interdisziplinäre Perspektiven. Würzburg: Ergon-Verlag 2015. (Faktuales und fiktionales Erzählen. Schriftenreihe des Graduiertenkollegs 1767, Bd. 1). 293 S. [Preis: 45 EUR] ISBN: 978-3-95650-103-6.
Der Band, entstanden aus einer Ringvorlesung im Semester 2012/2013 im Rahmen des GRK 1767 »Faktuales und fiktionales Erzählen« in Freiburg, hat es sich zum Ziel gesetzt, die Spannbreite fiktionaler und faktualer Werke darzustellen. Unter anderem vor dem Hintergrund vermehrt auftretender Hybridformen und der grundsätzlichen Öffnung der Literaturwissenschaft auch für faktuale Texte sollen die einzelnen Beiträge einen Eindruck davon vermitteln, welche Anwendungsmöglichkeiten erzähltheoretische und narrative Fragestellungen in diesem weitläufigen Feld bieten. Dementsprechend divergent fällt die Auswahl der Beiträge aus und changiert zwischen einem historisch-kulturellen Blick auf den Phänomenbereich der Fiktionalität, theoretischen und disziplinären Fragestellungen sowie pragmatischen Anwendungsmöglichkeiten, die über die Geisteswissenschaften hinausgehen.
So wenig ein solcher Band mit dreizehn Beiträgen auf 287 Seiten Vollständigkeit versprechen kann, so sehr wirft er insbesondere mit den Texten über Narratologie im anwendungsorientierten Kontext sowie der historischen Betrachtung ansonsten eher am Rande betrachteter Phänomene wie Fiktionalität in der mittelalterlichen Literatur im arabischen Raum einen interessanten neuen Blick auf die Vielseitigkeit des Untersuchungsgegenstandes. Der Band will weder ein Plädoyer für den richtigen Umgang mit Fiktionalität und Faktualität in der Literatur sein, noch soll eine gemeinsame Fragestellung durch alle Beiträge leiten. Im Mittelpunkt des Interesses steht vielmehr der Möglichkeitsraum, den narrative Strukturen und Literatur als erzählendes Medium öffnen. Dementsprechend lose sind die einzelnen Aufsätze auch verbunden – sie eint nicht eine argumentative Richtung oder Strategie, sie stehen stattdessen collagenhaft nebeneinander. Die grobe Einteilung und Abfolge der Herausgeber orientiert sich dabei vorwiegend an der fächerspezifischen oder historischen Einordnung der Forschungsfragen, wird jedoch bis auf deren Erwähnung im Einleitungskapitel nicht in Form von Unterüberschriften oder Kapitelabschnitten sichtbar gemacht.
Einen solchen Sammelband zu bewerten muss also bedeuten, einerseits die mit der Form einhergehenden Beschränkungen zugrunde zu legen und die Beiträge somit unabhängig voneinander zu betrachten. Nichtsdestotrotz soll andererseits versucht werden, den möglichen vorhandenen Gestaltungsraum zu erörtern.
Dass Literatur auch im europäischen Raum schon früh Anteile von Fiktionalität und Faktualität aufweist, dies also bei Weitem kein neues Phänomen ist, stellt Hubert Irsigler in den Mittelpunkt seines Interesses, der fragt, wie und inwiefern fiktionales und faktuales Erzählen in biblischer Literatur zusammenwirken (»Erzählen in biblischer Literatur: konfessorisch – faktual und fiktional«). Dieses Zusammenspiel charakterisiert er über einen doppelten Anspruch, den narrative Bibeltexte stellen: Auf der einen Seite steht der Anspruch, einen historischen Sachverhalt im Kontext transzendenter menschlicher Erfahrungen zu dokumentieren und festzuhalten. Der Text ist damit historiographisch-faktuales Zeugnis. Auf der anderen Seite wird der Text in seiner Kanonisierung einem breiten Publikum als Möglichkeit offeriert, das eigene Handeln auszurichten und auf die eigene Lebenslage anzupassen. Solche textuellen Offenheiten bedürfen nach Irsigler klassischer fiktionaler Erzählmuster, die es erlauben, sich selbst in die Narration einzuschreiben.
Gewissermaßen zum Ursprung der Fiktionalität begibt sich Bernhard Zimmermann in seinem Beitrag, wenn er aus historischer Perspektive auf die Entwicklung des Fiktionalitätsbegriffes anhand historisch-paradigmatischer Fälle klassisch-griechischer Texte blickt (»Der Macht des Wortes ausgesetzt, oder: Die Entdeckung der Fiktionalität in der griechischen Literatur der archaischen und klassischen Zeit«). Anders als zur heutigen Zeit wurde Literatur bis ins 4. Jhd. ausschließlich an ihrem Nutzen gemessen. Dementsprechend wurde die Wahrheit des Textes nicht hinterfragt, sondern als Grundbedingung angenommen. Ein Text war gelungen, wenn er etwas Wahres aussagte und somit einen nutzbaren Wert aufwies. Aus diesem Verständnis heraus ist auch die philosophische Kritik an den Texten Homers zu verstehen, dessen Glaubwürdigkeit angezweifelt wurde. Erst mit der aristotelischen Poetik begann der Wert der schönen Literatur zu steigen, auch weil die Erkenntnis reifte, dass in ihr moralisch-didaktische und somit modellhaft lebensweltliche Komponenten verhandelbar werden.
Einen kritischen Blick auf die (moderne) eurozentristische Perspektive wirft Isabel Toral-Niehoff, indem sie die Literatur der arabischen Vormoderne in den Blick nimmt (»›Fact and Fiction‹ in der mittelalterlichen arabischen Literatur. Anmerkungen zu einer Debatte«). Sie zeigt dabei auf, dass die Begriffe rund um Fiktionalität selbst in Europa noch immer je nach Forschungskontext und Theorie unterschiedlich verwendet werden und eine Abgrenzung nicht immer oder nur unpräzise vorgenommen wird. Weiterhin müsse vermieden werden, eine ahistorische Übertragung der Begriffe auf die Texte einer vormodernen arabischen Kultur vorzunehmen. Andernfalls würden beispielsweise Unterscheidungen wie zwischen (fiktionaler) Literatur und (faktualer) Geschichte vorgenommen werden, die so nicht ohne Weiteres möglich sind. In der arabischen Literatur der Vormoderne sei stattdessen eher das Verhältnis zwischen Plausibilität und Probabilität in den Blick zu nehmen. Der Beitrag trägt die wichtigsten Aspekte der bislang erfolgten Debatte zusammen und illustriert im Anschluss, welche Möglichkeiten und Ergebnisse eine narratologische Untersuchung frühislamischer Texte bieten kann.
So offen auch der vorliegende Band an die Thematik der Fiktionalität herangeht, so divergent ist die Verwendung der sprachlichen Bezeichnungen dessen, was als Fiktionalität verstanden wird, wie es Toral-Niehoff in ihrem Beitrag anmerkt und was nicht selten mit den unterschiedlichen Fächerkulturen zu tun hat. Faktualität bedeutet dabei oft, aber nicht immer, einfach das Gegenteil von Fiktionalität. Teilweise wird das Faktuale aber auch dem Literarischen gegenübergestellt und somit aus einer reinen Gebrauchsperspektive betrachtet. Die Beiträge des Sammelbandes schwanken in ihrem Verständnis von Begriffen wie ›Fiktionalität‹, ›fiktional‹ etc. Eine präzise begriffliche Verortung über die Beiträge hinweg gestaltet sich somit als schwierig.
Das Vorkommen bestimmter narrativer Strukturen in der Darstellung der Geschichte ist insbesondere im Anschluss an Hayden White ein in der Geschichtswissenschaft viel diskutiertes Thema, wenn es darum geht, ob und inwiefern dadurch Strukturen der Fiktionalität in der Historiographie Einzug halten. Mary Fulbrook wendet sich in ihrem Beitrag diesem Thema zu, indem sie die Vermengung biografischer Erlebnisse des Autors im Rahmen der Geschichtsschreibung mit dem kreativen Prozess narrativer Fiktionen parallelisiert (»Narrating a Significant Past: Historical Writing and Engaged History«). Statt nur eine strikte Objektivierung der Darstellung anzustreben, reflektiert sie anhand eines Beispiels über einen NS-Landrat ihre persönlichen und emotionalen Einflüsse auf ihre Forschung und stellt somit die Subjektivität des Erzählens explizit heraus, welche die Forschung an diesem Thema mit sich bringen kann. Fulbrook zeigt damit auf, dass eine Reflexion der (unvermeidlichen) Subjektivität in der Forschung nicht nur für den Forschungsbeitrag Vorteile verspricht, sondern auch das Interesse des Lesers durch die enge Koppelung an ein persönliches Schicksal stärker motivieren kann. Allerdings birgt die Darstellung des historischen Schreibens als Form eines kreativen Aktes auch den Nachteil, dass eine Vergleichbarkeit eines solchen Textes und somit die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einem Text unter Umständen unterminiert wird. Eine kritische Betrachtung dieses (möglichen) Problems fehlt leider.
Eng damit verknüpft zeigt sich der Beitrag von Johannes Rohbeck, welcher den ethischen und allgemein-philosophischen Wert narrativer Passagen in der Geschichte zum Thema hat (»Erzählung und Geschichte«). Im Rahmen einer Gegenüberstellung von Deutungs- und Handlungssinn, wobei der Deutungssinn die Interpretation eines Ereignisses bezeichnet und der Handlungssinn den historischen Prozess als Abfolge, konstatiert er in Anschluss an Ricœur, dass der Handlungssinn qua Erzählung erfasst werden kann und somit sowohl die historische Situation in ihrer Kontingenz verdeutlicht, als auch den historisch Handelnden nachvollziehbar werden lässt. Anstatt wie in den meisten aktuellen Forschungen einen Schwerpunkt auf den Deutungssinn zuungunsten des Handlungssinnes zu legen, macht sich Rohbeck dafür stark, den »Referent[en] der Erzählung« (95) in den Blick zu nehmen und in der Interaktion zwischen Deutungs- und Handlungssinn die Faktualität der Geschichte deutlich hervorzuheben.
Gegen eine strenge Entgegensetzung von Fiktionalität und Faktualität auch zur heutigen Zeit wendet sich Monika Fludernik in ihrem Beitrag, in dem sie aufzeigt, dass es vor allem um gattungsspezifische oder spezifisch literarische/nicht-literarische Eigenschaften geht, wenn wir Texte unterscheiden (»Narratologische Probleme des faktualen Erzählens«). Anhand der Textsorte der Beschreibung wird exemplarisch dargelegt, dass Fiktionalität zwar einige wenige Eigenschaften aufweist, die unstrittig für Fiktionalität stehen, viele Eigenschaften aber sowohl in fiktionaler als auch faktualer Literatur zu finden sind. Anhand von (räumlichen und örtlichen) Beschreibungen zeigt Fludernik auf, dass eine Unterscheidung der Texte eher an die Frage des intendierten Gebrauches und einer dem jeweiligen Gebrauch angemessenen Darstellung geknüpft und somit eine Frage der (geglückten) Narration ist.
Wie hilfreich andere Perspektiven und die Untersuchung von angrenzenden Phänomenen zum Verständnis von Fiktionalität sein können, zeigt Matthias Bauer in seinem Beitrag, in dem er sich der Frage der Struktur eines fiktionalen Textes über die Doppelstruktur nähert, die ambige Texte aufweisen (»Ironie und Ambiguität: Annäherungen aus literaturwissenschaftlicher Sicht«). Ausgehend von der Beziehung zwischen Ironie und Ambiguität und davon, was diese gegenseitig über sich verdeutlichen, bezieht Bauer die Erkenntnisse auf das Verhältnis von fiktionalen und faktualen Texten. Insbesondere Ironie, die auf Ambiguitäten fußt, zeigt laut Bauer sowohl fiktionale als auch faktuale Elemente auf: Der ironische Sprecher bezieht sich zwar im Unterschied zum fiktionalen Werk auf die Welt, spricht kurzzeitig aber mit lediglich fiktionalem Geltungsanspruch, wenn er sich ironisch äußert, und drückt mit Ironie dennoch etwas Faktuales aus. Ironie aufgrund von Ambiguität lässt sich somit als Verbindung von fiktionalem und faktualem Geltungsanspruch verstehen und offenbart dadurch die in fiktionalen Texten oftmals vorkommende doppelte Kommunikationsstruktur, die darauf verweist, »dass Fiktion als Fiktion die Wahrheit sagt« (156).
Autofiktionen stellen Narrationen dar, die geradezu mit einer Überschneidung von Fiktionalisierungs- und Faktualisierungsstrategien spielen.Jutta Weiser widmet sich in ihrem Beitrag einer ausführlichen Betrachtung der Entwicklung dieses Genres, das aus einer ironischen Verschmelzung von Autobiographie und Roman hervorgegangen ist (»›Fiktion streng realer Ereignisse und Fakten‹ – Tendenzen der literarischen Autofiktion von Fils (1977) bis Hoppe (2012)«). Der historische Abriss liefert dabei nicht nur einen konzisen und übersichtlichen Blick auf die Entwicklung des Genres, sondern kulminiert insbesondere in einer Darstellung der Grenzverschiebungen zwischen fiktionaler und faktualer Rezeption, die das Genre mittlerweile erreicht hat, indem es sich die gestiegenen medialen Möglichkeiten zu eigen macht. Mit der unter anderem damit einhergehenden Autorinszenierung ist der autofiktionale Roman somit zu einem Untersuchungsgegenstand geworden, der sowohl als literarisches Produkt untersucht werden, als auch Gegenstand medialer und kultursoziologischer Betrachtungen sein muss. Weiser schließt konsequenterweise mit einem stichwortartigen Überblick – der gerne noch detaillierter hätte ausfallen dürfen – über Tendenzen der Autofiktion zur heutigen Zeit, der sich als offener Forschungsausblick versteht.
Eine Doppelstruktur, die oftmals mit Fiktionalität einhergeht, untersucht auch Barbara Korte, die in ihrem Beitrag (»Geschichten im Fernsehen zwischen Faktualität und Fiktionalität: Das Dokudrama als Hybridform historischer Darstellung, mit einer Fallstudie zu Simon Schamas Rough Crossings«) die Authentizität von Dokumentarfilmen untersucht und hinsichtlich ihrer Fiktionalisierungsstrategien betrachtet. Ausgehend von der Beobachtung, dass Dokumentarfilme gerade dann auf Fiktionalisierungen setzen, wenn es darum geht, besonders authentische Szenen darzustellen, nimmt sie die Hybridform des Dokudramas näher in den Blick. In dieser Form erzählender und erzählter Geschichte vermischt sich der faktuale Geltungsanspruch der Dokumentation mit dem erzählerischen Anspruch eines fiktionalen Spielfilmes. Korte stellt in ihrem Beitrag nicht nur die dafür zum Einsatz kommenden Strategien vor, sondern zeigt im Rahmen einer Fallstudie auch, wie beispielsweise die britische Kolonialgeschichte im Dokudrama dramatisierend dargestellt wird und ihre Faktualität somit zur Nebensache herabsinkt. Inwiefern eine damit einhergehende veränderte Wahrnehmungsweise für die (Geschichts-)Wissenschaft Auswirkungen haben kann, wird zwar angedeutet, nicht jedoch im Detail ausgeführt.
Auch wenn solche Fallstudien zu Folgefragen herausfordern, die in den Beiträgen lediglich angedeutet werden können, zeigt der Sammelband gerade in diesen Fallstudien und exemplarischen Darstellungen seine besondere Stärke. Die Kürze der einzelnen Beiträge und ihre gleichzeitige Divergenz lässt es auf theoretischer Ebene kaum zu, über skizzenhafte Darstellungen einzelner Theorien hinauszugehen. In der exemplarischen Anwendung hingegen wird diese Heuristik anschaulich und gewinnt an Wirkmacht – die Beiträge sind in diesen Fällen eine Ermutigung dazu, diesen nur angedeuteten (theoretischen) Weg weiterzugehen und ein lohnendes wissenschaftliches Unterfangen weiter zu verfolgen. Durch eine explizite systematische Gliederung der Themen hätte der Band diese Schnittstellen der einzelnen Beiträge jedoch besser herausstellen können.
Grenzüberschreitend im übertragenen Sinne des Wortes wird es, wenn es um die Bilder eines literarischen Werkes geht, die im Leser evoziert werden und sich dennoch auf real existierende äußere Bilder beziehen können. Bettina Korintenberg beschreibt in »Gemälde fallen aus dem Rahmen. Akte der Bildaneignung in Manuel Muijca Láinez’ Roman Un novelista en el museo del Prado« den Vorgang, wie der besagte Roman Bildaneignungen zu seiner Strategie macht, indem Bezug auf real existierende Bilder genommen wird und hierdurch neue Bildkompositionen entstehen. Im Fokus steht dabei die Narrativierung der faktualen Bilderwelt, die sogleich eine interessante Doppelstruktur aufweist, da die faktisch existierenden Bilder selber wiederum zwischen fiktionalen und faktualen Inhalten changieren. Korintenberg untersucht, wie diese synästhetische Verschmelzung auf narrativer Ebene Ausdruck erhält und welche Anleihen die Literatur dabei von ihren bildlichen Vorlagen macht. Gerade die dualistische Ebene von bildlich Repräsentiertem und aktueller Präsenz sowie der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der (imaginierten) Bilder als Aktualisierung im Text machen eine komplexe Analyse notwendig, die über die literaturwissenschaftliche Ebene auf bildtheoretische Grundlagen zurückgreifen muss. Der Beitrag ist somit exemplarisch dafür, welchen Gewinn interdisziplinäre Studien für narratologische Debatten erzielen können.
Auf spannende Art und Weise findet die Aktualität der Thematik in den letzten drei Beiträgen des Sammelbandes ihren Ausdruck, die dem Thema der Narrativierung außerhalb der klassischen Anwendungsbeispiele einen Platz einräumen. Dietmar Mieth legt mit »Narrative Ethik am Beispiel des Romans Never Let Me Go von Kazuo Ishiguro und weitere Überlegungen« dar, inwiefern die narrative Ethik von Romanen profitieren kann. Gerade faktual-abstrakte Fragen der Wissenschaft, wie beispielsweise im Bereich der Biomedizin, lassen sich demnach hinsichtlich ihrer moralischen Komponente in Romanform oftmals besser verhandeln, da diese ein einfühlendes Lesen evoziert. Neben der Darstellung solcher Möglichkeiten stellt Mieth auch heraus, mit welchen Mitteln emotionale Atmosphären geschaffen werden, die beispielsweise im Falle des vorliegenden Romans für eine Unsicherheit und Uneindeutigkeit der Interpretation sorgen: Die Schwierigkeit mit solchen Romanen besteht also darin, dass es nicht ohne Weiteres möglich ist, zwischen einer vom Autor intendierten moralisch-kritischen Auseinandersetzung mit einem Thema und einem moralischen Spiel zu differenzieren, in dem die Unsicherheit Teil einer artifiziellen Darstellung ist. Der Leser wiederum wird dazu herausgefordert, sich selber zu orientieren und sich umso stärker mit dem dargebotenen Inhalt auseinanderzusetzen.
Ebenfalls einen Alltagsbezug weisen narrative Theorien oftmals für Patienten der Psychoanalyse auf. Die in der Therapie besprochenen Selbstentwürfe und biographischen Darstellungen können geradezu als Paradebeispiele für fiktional-narrativierte Anreicherungen gelten, wie Brigitte Boothe zeigt (»Patienten erzählen in der psychoanalytischen Beziehung – Faktualität und Fiktionalisierung«). Diese Anreicherungen laufen jedoch nicht immer bewusst ab und sind somit sowohl aus therapeutischer als auch narrativer Betrachtungsperspektive gleichermaßen komplex wie interessant. Im Beitrag wird daher dezidiert aufgezeigt, welche Einflüsse und Entwicklungsschritte eine für den Patienten unbewusste Fiktionalisierung begünstigen können und welche Schwierigkeiten damit aus therapeutischer Sicht verbunden sind. Ebenso werden die Vorteile des Erzählens für therapeutische Verfahren erörtert und es wird dabei Bezug auf verschiedenste narrative Vorgänge genommen. Der Beitrag legt somit eindrucksvoll dar, dass Konzepte wie das unzuverlässige Erzählen in nicht-literarischen Kontexten wirkmächtig vorkommen, und wie hilfreich eine Darstellung aus narratologischer Perspektive sein kann.
Karin Thier hingegen wendet sich gerade der bewussten Narrativierung zu, indem sie das storytelling als Form der Unternehmensstrategie herausstellt (»Storytelling in Unternehmenskontexten«). Neben der damit einhergehenden Funktionalisierung dieser Geschichten stellt sie verschiedene Typen und Muster vor, die insbesondere in der MIT-storytelling-Methode reflektiert werden. Es geht dabei nicht mehr nur darum, dem Kunden ein verlockendes faktuales Produkt zu verkaufen, sondern dieses auch an eine Geschichte anzupassen, welche sich aus der corporate identity speist. Ausgehend von diesen Betrachtungen kommt sie zum Schluss, dass storytelling neben der Mathematik eine in naher Zukunft gefragte Fähigkeit darstellt und folglich als Kern einer erfolgreichen Marke(nbildung) anzusehen ist.
Abschließend lässt sich festhalten, dass die schon angesprochene Uneinheitlichkeit begrifflicher Verwendungen, die überdies nicht immer expliziert werden, den Sammelband zumindest für Studienanfänger oder thematisch noch nicht Involvierte ungeeignet macht. Eine eindeutigere und besser kenntlich gemachte Gliederung der Beiträge unter Oberkapitel hätte die teilweisen thematischen Überschneidungen und Ergänzungen der einzelnen Beiträge deutlich hervorheben und den Einstieg in einen Themenbereich erleichtern können. Der Band gibt sich somit einerseits divergenter als nötig und könnte das ihn einende Thema dabei andererseits dennoch stärker untergliedern. Die Stärke des Sammelbandes liegt klar in der Weite der Darstellung, die als eine Sammlung von Anregungen zur weiteren Beschäftigung einlädt und weitergehende Fragen in den Raum stellt. Alles in einem stellt der Band einen schönen Auftakt für die Schriftenreihe des GRK dar: Er ermöglicht einen Blick auf den Forschungsbedarf und stellt den möglichen Gewinn solcher Untersuchungen aus verschiedensten Perspektiven präzise dar.
2017-07-02
JLTonline ISSN 1862-8990
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