Stefan Neuhaus
Wiederholte Wertungsschelte
Maik Bierwirth, Wiederholung, Wertung, Intertext. Strukturen literarischer Kanonisierung. Heidelberg: Synchron – Wissenschaftsverlag der Autoren 2017 (Diskursivitäten. Literatur. Kultur. Medien; 21). 278 S. [Preis: EUR 34,80]. ISBN: 978-3-939381-94-5.
Kanonforschung zur deutschsprachigen Literatur gibt es seit den 1960er Jahren, als erste bedeutende Arbeit gilt Walter Müller-Seidels »Probleme der literarischen Wertung. Über die Wissenschaftlichkeit eines unwissenschaftlichen Themas« von 1965.[1] Die im Untertitel enthaltene Entschuldigung hatte sich kurze Zeit später mit der wachsenden Popularität gesellschaftskritischer Ansätze erledigt, über Rezeptionsästhetik und Sozialgeschichte gehörte es zum Standard jeder Beschäftigung mit literaturgeschichtlichen Fragestellungen, Wertungsfragen zumindest mit im Blick zu haben. Seit den 1990er Jahren kann man dann von einem regelrechten Boom sprechen, dessen erster Höhepunkt die »Einführung in die Wertung von Literatur« von Renate von Heydebrand und Simone Winko im Jahr 1996[2] ist und dessen vorläufig letzter Höhepunkt durch das Erscheinen des Handbuchs »Kanon und Wertung« von 2013 markiert wird, das ebenfalls Simone Winko, gemeinsam mit Gabriele Rippl, verantwortet hat.[3] An der Universität Göttingen, wo Simone Winko lehrt, haben außerdem zwei Graduiertenkollegs zahlreiche Forschungsarbeiten zum Thema hervorgebracht, »Wertung und Kanon. Theorie und Praxis der Literaturvermittlung in der ›nachbürgerlichen ‹ Wissensgesellschaft« von 2006-10 sowie »Literatur und Literaturvermittlung im Zeitalter der Digitalisierung« (seit 2013).
Die Bedeutung des Themas dürfte unbestritten sein. Spätestens seit Beginn der ›reflexiven Moderne‹ (Ulrich Beck und Anthony Giddens) gilt nichts mehr ungeprüft. Die Studenten von 1968 stellten nicht nur die Frage nach der Relevanz der tradierten Werte, auch die ›bürgerliche‹ Literatur wurde einer kritischen Prüfung unterzogen, daraus entstanden so herausragende Arbeiten wie Rudolf Schendas »Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770–1910« von 1970.[4] Und nicht zuletzt Hans Robert Jauß hat in seinem bahnbrechenden Aufsatz »Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft« (basierend auf der Antrittsvorlesung von 1968) einen bis heute interessanten Ansatz formuliert: Literatur, die ernstgenommen werden will, fordert ihre LeserInnen heraus, während triviale Literatur den (so das berühmte Wort) »Erwartungshorizont« der LeserInnen bestätigt.[5]
Aber davon hat die vorliegende Arbeit, auch wenn es sich aus anderen, noch zu erläuternden Gründen durchaus um eine anregende Lektüre handelt, nichts zu erzählen. Die Halbwertszeit des Wissens ist auch in der Literaturwissenschaft immer kürzer geworden, gerade die VerfasserInnen von Dissertationen scheinen dazu zu neigen, die eigentlich für ihr Thema relevante Forschung nurmehr selektiv wahrzunehmen und insbesondere alles, was älter ist als sie selbst, guten Gewissens dem Orkus des Vergessens zu überantworten. Allerdings geraten auch neuere grundlegende Arbeiten nicht in den Wahrnehmungshorizont dieser Studie, etwa Niklas Luhmanns »Die Kunst der Gesellschaft« von 1995,[6] eine soziologische Arbeit, die das Funktionieren von Wertungsmechanismen historisch herleitet und erklärt.
Hätte Bierwirth Jauß oder Luhmann gelesen, dann hätte er sich viel Arbeit erspart – und ich erspare mir die Nennung anderer Arbeiten, die ebenfalls nicht berücksichtigt wurden. Immerhin wird Pierre Bourdieus »Die Regeln der Kunst« von 1992 (dt. 1999)[7] im Literaturverzeichnis aufgelistet und einige Male erwähnt. Nun, auch das Feld literaturwissenschaftlicher Wertungstheorien ist unübersichtlich geworden. Von einer 2014 von der Universität Paderborn angenommenen Dissertation hätte man dennoch eine genauere Recherche erwarten können.
Was leistet die vorliegende Arbeit? Man könnte es auf einen Begriff bringen: Sie betont die Bedeutung von Kontingenz für den Wertungs- und Kanonisierungsprozess. Die Arbeit führt an relativ heterogenen, wenn nicht disparaten Beispielen von Theorien und Texten vor, dass eine Wertungspraxis von zahlreichen textuellen wie außertextuellen und nicht zuletzt – ein immer wieder betonter Aspekt – intertextuellen Faktoren beeinflusst und von dem Moment der ›Wiederholung‹ abhängig ist. Der letzte Satz der Arbeit bringt deren Ertrag auf den sprichwörtlichen Punkt: »Ein überzeitlicher Wert stabilisiert sich letztlich in steilen wie auch in flachen Hierarchien durch die wiederholte Wiederholung des Gegenstandes, durch die beständige Aktualisierung von dessen Relevanz, durch eine fortdauernde Präsenz im intertextuellen Gefüge der Literaturgeschichte mit ihren vielfältigen Akteuren« (S. 256f.). Angesichts der besonders kritischen Perspektive der Arbeit auf alle Arretierungen scheint der Ausdruck »überzeitlicher Wert« nicht eben glücklich gewählt. Dies gilt übrigens auch für den im Titel verwendeten Begriff der »Strukturen«, gegen deren Verfestigung sich die Arbeit doch gerade wendet. Und es bleibt zu fragen, ob es nicht spätestens seit der Rezeptionsästhetik ein Gemeinplatz ist, dass nur durch wiederholte Lektüre Texte im Kanon präsent sein können. Dann wäre noch zu fragen, ob der Begriff der Intertextualität hier nicht zu sehr ausgeweitet wird, um noch brauchbar sein zu können. Allerdings hat der Gedanke, dass wir alle Akteure der Intertextualität sind, einen gewissen Charme.
Nun aber endlich zum Anfang, zu Aufbau und Argumentation der Arbeit, die – neben Einleitung und Schluss – in die Kapitel »Zu den Begriffen von Kultur und Werk«, »Strukturen literarischer Kanonisierung«, »Innovation – Abweichung – Entautomatisierung: Das Neue und das Andere als normative Aspekte von Kanonisierung« und »Modi der Werterstehung am Beispiel des Impressionisten und Impresarios Detlef von Liliencron (1844–1909)« gegliedert ist. Schon die Kapitelüberschriften machen deutlich, dass es einen kohärenten, stringent durchargumentierten Ansatz nicht gibt. Ob man dies einer Arbeit vorwerfen kann, die für sich in Anspruch nimmt, in der Tradition poststrukturalistischen Denkens zu stehen (obwohl sie selbst zu apodiktischen Urteilen und Formulierungen neigt), sei dahingestellt. Anregend ist die Lektüre dieses Sammelsuriums von Ansätzen allemal. Bevor man dem zu Recht vergessenen Liliencron begegnet (letztlich entscheidet eben doch das Kriterium der Innovation, wie etwa bei Luhmann nachzulesen gewesen wäre), erfährt man beispielsweise einiges Interessantes über Kultursemiotik am Beispiel von Stephen Greenblatt oder über Intertextualität am Beispiel von Julia Kristeva und Roland Barthes.
Am wenigsten gefallen hat mir die Schelte für die »Einführung in die Wertung von Literatur« von Renate von Heydebrand und Simone Winko. Einen »polemischen oder zumindest deutlich kritischen Unterton« (75) gegenüber dem Poststrukturalismus vermag ich der ausgesprochen offenen und diskursorientierten thematischen Einführung überhaupt nicht zu entnehmen, aber das muss hier wohl so festgestellt werden, um den eigenen Standpunkt deutlicher zu markieren. Solche Vorwürfe hat diese grundlegende und für alle theoretischen Positionen offene wie anschlussfähige Studie nicht verdient.
Am besten gefallen hat mir die Kritik an dem Versuch, den Autor von den Toten wiederauferstehen zu lassen, bei denen er nie war (vgl. 120ff.). Erstaunlich, welche Folgen eine Phantomdiskussion auch heute noch zeitigt. Roland Barthes und Michel Foucault haben seinerzeit nicht den Autor für tot erklärt, dann hätte man sie mit allem Recht in eine Nervenheilanstalt einweisen können, sondern darauf hingewiesen, dass der Text das ist, womit die LeserInnen konfrontiert sind, und nicht der Autor (Barthes) und dass der Autor (oder die Autorin) für seine (ihre) Texte eine klassifizierende Funktion hat, etwa wie ein Gütesiegel (Foucault). Ob das nicht verstanden wurde oder ob man es nicht verstehen wollte? Eine müßige Frage. Aber es freut einen doch, wenn zumindest der Barthes-Schelte widersprochen wird.
Anderen Thesen der Arbeit steht man allerdings sprachlos gegenüber. So wird festgestellt, dass alle Briefromane auf Samuel Richardsons »Pamela« von 1740 zurückgehen und diesem Roman somit »als Gründungsdokument aktuelle Relevanz« zugesprochen wird (115). Wer einmal versucht hat, »Pamela« zu lesen, und das dürften nur wenige AutorInnen oder KritikerInnen oder auch LeserInnen nach dem 18. Jahrhundert gewesen sein, der würde vielleicht ebenso überrascht sein, wenn es hieße, dass George Taboris »Mein Kampf« dem gleichnamigen Machwerk eines größenwahnsinnigen Diktators Relevanz zuschreibt. Nun ist Richardsons Roman Gott sei Dank keine Ausgeburt von Wahnvorstellungen, eher im Gegenteil, aber dafür ausgesprochen langatmig und langweilig.
Wie lassen sich solche Vorstellungen der genealogischen Wucht einzelner äußerst bekannter, allerdings in dem Fall auch fragwürdiger Texte und die Wahl eines heute weitgehend unbekannten Autors der Jahrhundertwende, an dem sich nicht viel mehr zeigen lässt, als dass er einmal bekannt und umstritten war und heute beides nicht mehr ist, in eine Argumentation einpassen, von den vielen anderen Seitenpfaden, die hier nicht mit kartographiert werden sollen, ganz zu schweigen? Das müssen oder dürfen, je nachdem, die LeserInnen dieser Arbeit – wie natürlich jeder Arbeit – für sich herausfinden. Dem exemplarischen Leser, der diese Zeilen formuliert, ist es nicht gelungen, einen strapazierfähigen roten Faden zu finden, dennoch hat er die Lektüre nicht bereut. Auch eine kritische Auseinandersetzung kommt nur durch Anregung zustande und der Versuch der vorliegenden Arbeit, insbesondere poststrukturalistische Ansätze (wobei zuletzt vielleicht noch gefragt werden darf, weshalb ausgerechnet Foucault ausgespart bleibt) in die Kanon- und Wertungsforschung hinein zu reklamieren, verdient die Aufmerksamkeit der interessierten Wissenschaft.
[1] Vgl. Walter Müller-Seidel, Probleme der literarischen Wertung. Über die Wissenschaftlichkeit eines unwissenschaftlichen Themas, Stuttgart 1965. [zurück]
[2] Vgl. Renate von Heydebarnd/Simone Winko, Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik - Geschichte – Legitimation, Paderborn 1996. [zurück]
[3] Vgl. Gabriele Rippl/Simone Winko (Hg.), Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte, Stuttgart/Weimar 2013. [zurück]
[4] Vgl. Rudolf Schenda, Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770-1910, München 1977 (Wissenschaftliche Reihe). [zurück]
[5] Vgl. Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, in: Ders., Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a. M. 1970, 144-207. [zurück]
[6] Vgl. Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997. [zurück]
[7] Vgl. Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a. M. 1999. [zurück]
2017-11-13
JLTonline ISSN 1862-8990
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