Ralph Müller

Wozu Fiktion? Ellen Spolsky und Vera Nünning liefern

Antworten

Ellen Spolsky, The Contracts of Fiction. Cognition, Culture, Community. Oxford: Oxford University Press 2015. XXXII, 283 p. [Preis: EUR 56.50]. ISBN 9780-1902-3214-6.

Vera Nünning, Reading Fictions, Changing Minds. The Cognitive Value of Fiction. Heidelberg: Winter 2014. 343 p. [Preis: EUR 45]. ISBN 9783-8253-6418-2.

Die beiden vorliegenden Studien beschäftigen sich an prominenter Stelle mit Käsekuchen (Spolsky [Sp] 5; Nünning [Nü] 311), genauer gesagt mit Steven Pinkers Käsekuchenvergleich, der die Annahme zum Ausdruck bringt, dass das Lesen fiktionaler Literatur so etwas wie ein Stück cheesecake fürs Hirn sei: genussreich, aber im Grunde genommen fürs Überleben nicht wirklich nötig und in größeren Mengen sogar schädlich. Die Auseinandersetzung mit Käsekuchen steht also bei beiden Studien für die Suche nach der Antwort auf eine grundsätzliche literaturtheoretische Frage mit anthropologischer Reichweite: ›Wozu dient Fiktion?‹ Eines sei vorweggenommen: Beide wenden sich gegen die Vorstellung, dass fiktionale Literatur lediglich ein Nebenprodukt von biologischer Adaptation sei, eine vererbte schlechte Gewohnheit, etwa vergleichbar mit unserem Appetit nach fettigem Essen, der vormals gut für den überlebenswichtigen Winterspeck war, in einer saturierten Gesellschaft aber im junk food problematische Konsequenzen zeitigt.

Beide Studien treiben also die gleichen Fragen um. Ebenso gehen beide von kognitivistischen Theorien aus und nehmen an, dass die kognitive Architektur menschlicher LeserInnen durch ihre körperlichen Erfahrungen in einer sozialen Umwelt geprägt ist. Die theoretischen Bezugspunkte sind dennoch verschieden.

Bei Vera Nünnings Studie liegen diese vorwiegend in der kognitiven Narratologie. Die Darstellung greift allerdings theoretisch weit darüber hinaus und bietet insofern für die gesamte kognitive Literaturwissenschaft eine wertvolle Ergänzung: Zwar hat es bislang zur Frage, warum wir Fiktion lesen (»Why we read fiction?«, Nü 32), nicht an steilen Theorieentwürfen gefehlt, aber Studien, die kognitive Konzepte mit gründlicher literaturwissenschaftlicher Terminologiearbeit verbinden, bilden in diesem Zusammenhang leider Ausnahmen. Umso positiver ist zu vermerken, dass die vorliegende Studie sich über unterschiedliche Definitionen von Fiktion informiert zeigt und die Thesen und Fragestellungen dementsprechend sorgfältig formuliert (vgl. z.B. Nü 18–20).

Ziel von Nünnings Studie ist es zu ermitteln, welche Merkmale fiktionaler Erzählungen im Allgemeinen und welche narrativen und ästhetischen Mittel im Besonderen dazu beitragen, kognitive Empathiefähigkeiten der Leser zu verbessern (vgl. Nü 17). Zur Beantwortung dieser Frage werden kognitivistische Studien in einem Umfang aufbereitet, der ein Namens- und Begriffsverzeichnis schmerzlich vermissen lässt. Ebenfalls ist anzumerken, dass die Auseinandersetzung mit den literarischen Beispielen von den vielen theoretischen Darlegungen an den Rand gedrängt wird.

Die Studie ist in sieben Kapitel gegliedert, die jeweils mit einem umfangreicheren Theoriereferat beginnen, bevor die eigene Position näher ausgeführt wird. »Preparing the Ground« diskutiert im Wesentlichen Ansätze zum Mehrwert von Fiktion und kommt zum Schluss, dass die bisherigen Arbeiten sich zu wenig mit der konkreten Frage beschäftigt haben, welche Effekte das Lesen fiktionaler Erzählungen etwa in Abgrenzung zu faktualen Erzählungen haben könnte (Nü 48). Dies liegt nicht zuletzt daran, dass viele Studien aus dem anglophonen Raum bei fiction unklar zwischen ›Erzählen‹ und ›Fiktion‹ unterscheiden. Zwar legt auch die vorliegende Studie keine trennscharfe Definition vor, aber ›Fiktion‹ und ›Erzählung‹ bzw. ›Narrativ‹ werden differenziert. Ganz in der Tradition der postklassischen Narratologie werden Narrative vor allem als kulturell etablierte Weisen der Weltherstellung betrachtet (vgl. Nü 51), die Werte und Überzeugungen vermitteln (vgl. Nü 57 und v.a. 59). Großes Interesse verdient dabei die umfangreiche Auseinandersetzung mit den möglichen Funktionen von Erzählungen, zu denen Lenkung der Aufmerksamkeit, Ergänzung von Sinnstrukturen und Übung in Theory of Mind gehören (vgl. Nü 59–66). Ein zweiter Schwerpunkt in diesem Kapitel liegt bei der Fiktion. Es werden nicht nur unterschiedliche kognitive Erklärungsmodelle für Fiktion vorgestellt (Fiktion als Metarepräsentation oder Gedankenexperiment), aus literaturwissenschaftlicher Sicht wird zudem zur Bestimmung von Fiktion auf ein vages Konzept der Familienähnlichkeit verwiesen (vgl. Nü 72), das aufgrund der Interaktion von Text und Leser sowohl textuelle Merkmale als auch leserseitige Zuschreibungen für die Einordnung eines Texts als fiktional/nicht-fiktional verantwortlich macht (vgl. Nü 76). Dieses Element ist insofern bedeutsam, als es empirische Studien gibt, die keine Unterschiede bei der Rezeption gefunden haben, wenn derselbe Text einer Gruppe von Versuchspersonen als fiktional oder faktual ausgegeben wurde (vgl. Nü 80f.). Offensichtlich geht die vorliegende Studie von der Hypothese aus, dass fiktionale Texte besondere Merkmale aufweisen, die das Immersionspotenzial des Texts betreffen (vgl. Nü 86). Hier kommt vielleicht zum ersten Mal ein normatives Verständnis zum Ausdruck, das Qualitätsansprüche an Fiktionalität formuliert und das im Verlauf der Studie noch an Bedeutung gewinnt (vgl. Nü 91f.).

Die Kapitel 3 bis 5 dienen wesentlich zur Präzisierung der Konzepte, um den kognitiven Nutzens fiktionalen Erzählens zu erfassen. Die Kapitel bieten insbesondere gründliche Darstellungen der Diskussion um zentrale Begriffe wie ›Empathie‹, ›Perspektivenübernahme‹, ›Theory of Mind‹ oder ›Simulation‹. Diese Darstellungen sind sehr lesenswert, auffällig ist aber vor allem der Begriff der »narrative competence« (Nü 150; 163f.), mit dem Nünning die von der Theory of Mind beschriebenen Fähigkeiten narratologisch zu erfassen sucht. ›Narrative Kompetenz‹ wird relativ weit verstanden als die Fähigkeit, komplexe Narrative hervorzubringen und zu verstehen, wobei Nünning besonderes Gewicht auf die Aspekte der Auseinandersetzung mit Gefühlen und Motiven legt, sodass diese Kompetenz eine ganze Reihe von grundlegenden sozialen Fähigkeiten betrifft: Motive von Menschen verstehen bzw. unterschiedliche Wünsche und Überzeugungen von Handelnden erkennen; mit Veränderungen klarkommen; Relevanz zuschreiben; mit Ereignissen und Handlungen fertigwerden, die kein Beteiligter wünscht; mit Perspektivität und mit sozialen Gruppen umgehen (vgl. Nü 154–164). Für ein schulisches Curriculum ist das vermutlich zu allgemein formuliert, die narrative Kompetenz ist allerdings zweifellos geeignet, die Relevanz von Erzählungen zu begründen. Nünnings Grundthese ist dabei, dass Fiktion die Möglichkeit bietet, stellvertretend Erfahrungen zu machen (»a means to make vicarious experiences«, Nü 165), und gerade anspruchsvolle fiktionale Literatur verspricht, Erfahrungen anzubieten, die über Standardsituationen hinausgehen. Die besonderen günstigen Effekte des Lesens fiktionaler Erzählungen gelten demnach nicht für alle. So wird in diesen Kapiteln auch dem Problem Aufmerksamkeit geschenkt, dass ein schematischer Umgang mit fiktiven Charakteren durchaus möglich ist (vgl. Nü 180) und ein solcher Schematismus gar die immersiven Qualitäten eines Textes erhöhen kann (vgl. Nü 212). Hier zeichnet sich ein Zielwiderspruch ab, der sich nicht wirklich auflösen lässt. So sind wahrgenommener Realismus der Erzählung und ästhetische Illusion Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche Simulation der Gefühlswelten anderer. Wirklich positive Effekte zur Verbesserung von narrativer Kompetenz sieht Nünning allerdings nur dann, wenn Texte konsumiert werden, die von schematischen Standardsituationen abweichen. Der größte Gewinn für die narrative Kompetenz ist demnach von Texten zu erwarten, wenn sie eine ästhetische Einstellung zum Text einfordern und somit ein reduziertes Immersionspotenzial aufweisen.

Hier lässt sich auch erklären, warum Nünning zwar mit großem Interesse empirische Studien zu den hier genannten Effekten zur Kenntnis nimmt, insgesamt aber mit der Konzeptualisierung dieser Phänomene in den Tests unzufrieden ist. Tatsächlich bedarf es besonderer Textqualitäten, um das Phänomen zu erzeugen, das sie interessiert, und es bedarf beim Leser bestimmter Kompetenzen, um diese besonderen Texte angemessen zu rezipieren. Die Schlussfolgerung, dass das Lesen fiktionaler Erzählungen den Geist verändere, dass aber die Wahl der Lektüre und die Lektüreform weitreichende kognitive und ethische Implikationen habe, ist vor diesem Hintergrund konsequent (vgl. Nü 311) und streicht den normativen Anspruch dieses Ansatzes heraus.

Während der kognitive Ansatz Vera Nünning zur Frage nach den individuellen Vorteilen fiktionaler Lektüre leitet, stellt Ellen Spolskys Studie die Frage nach dem kognitiven Nutzen mit einer sozial-anthropologischen Ausrichtung. Angesichts des Titels Contracts of Fiction war ich aber doch überrascht, wie wichtig evolutionspsychologische bzw. ›neo-darwinistische‹ Ansätze in dieser Studie sind (vgl. Sp xxviii) und wie viele unterschiedliche mediale Gebilde, von der Lyrik über Gemälde, Ikonen und Fotografien bis zu Rachetragödien, unter den ›fiction‹-Begriff zusammengefasst werden.

Spolskys Studie ist offensichtlich hinsichtlich der behandelten Gegenstände breiter angelegt als Nünnings Beitrag, zudem werden die literarischen Beispiele tiefer diskutiert und die Thesen deutlich steiler aufgestellt. Die Studie bleibt dementsprechend in der Begrifflichkeit eher vage. Gerade prägnant gesetzte Aussagen in dieser übrigens exzellent formulierten Studie beruhen auf einer suggestiven metaphorischen Ausweitung von Konzepten aus unterschiedlichen Bereichen der Kognitionsforschung, insbesondere der evolutionären Psychologie. In dieser Hinsicht fällt etwa auf, dass Spolsky »Gattungen als Nischen für bestimmte Formen des Denkens oder Handelns« sieht (Sp 8), die homöostatische Stabilität nicht nur auf biologische und kognitive Wesen, sondern auch auf soziale Systeme bezieht (vgl. Sp 4f.), und den Hunger als verkörperte Metapher (vgl. Sp 72) nicht nur als Grundhaltung des Denkens, sondern auch zur Beschreibung von »representationally hungry problem[s]« (Sp 90) verwendet.

Spolsky bietet also keinen klar definierten Theorieentwurf. Ihr Fiktionsbegriff ist so weit, dass er alles umfasst, dessen ästhetische Funktion die praktische überwiegt, sodass fiction als vom unmittelbaren Kontext abgelöst verstanden wird (vgl. Sp 229). Deshalb kann Spolsky problemlos Jonathan Cullers kürzlich erschienene Theory of the Lyric zum Referenztext für ihre Behandlung der Lyrik machen, ohne auf dessen Kritik der Fiktionalitätssicht der Lyrik einzugehen. Und die Rede von ›Fiktionsverträgen‹ schließt nicht aus, dass diese weitgehend auf evolutionär hervorgebrachte Mechanismen zurückgeführt werden, die sich in der Interaktion mit kulturellen Konstruktionen äußern (vgl. Sp 229f.).

Dennoch wird man dieses Buch mit Gewinn lesen, etwa wenn man sich dafür interessiert, wie Genres und literarische Stoffe genutzt werden, um gesellschaftliche Probleme neu aufzufassen. Zudem halte ich die Stoßrichtung der Studie, die individuellen kognitiven Systeme konsequent als Teil einer sozial definierten Umgebung zu verstehen, für vielversprechend.

Spolskys Studie bietet einen umfassenden und anregenden Vorschlag zur kultur-anthropologischen Einordnung des Nutzens von Fiktionen, verwendet aber dabei die Terminologie eher suggestiv als klärend. Nünning umreißt demgegenüber ihren Gegenstand enger, aber auch präziser und ermöglicht auf dieser Grundlage einen fundierten Beitrag zur Frage, unter welchen Bedingungen das Lesen fiktionaler Erzählungen kognitiv gewinnbringend sein könnte.

2017-03-06

JLTonline ISSN 1862-8990

Copyright © by the author. All rights reserved.

This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and JLTonline.

For other permission, please contact JLTonline.