Katja Mellmann

Paläopoetik und hermeneutisches Gehirn

Zwei beachtliche Beiträge im Bereich der Cognitive Poetics

Christopher Collins, Paleopoetics. The Evolution of the Preliterate Imagination, New York: Columbia University Press 2013. XVII, 251 S. [Preis: $ 30,00.] ISBN: 978-0-231-16092-6.

Paul B. Armstrong, How Literature Plays with the Brain. The Neuroscience of Reading and Art, Baltimore: The Johns Hopkins University Press 2013. XV, 221 S. [Preis: $ 29,95.] ISBN: 978-1-4214-1002-9.

Es gibt mehrere Perspektiven, aus denen sich über den Zusammenhang von Literatur und Kognition nachdenken lässt: eine eher konzeptualisierende, eine genetische und eine empirische. Im Idealfall greifen diese drei ineinander. Eine bloß konzeptualisierende Herangehensweise, die lediglich eine kognitivistische Begrifflichkeit ausarbeitet, ohne sich für die psychologische Referenz der Konzepte zu interessieren, ist von geringem Erkenntniswert. Wo sich Zentralbegriffe wie ›simulation‹, ›embodiment‹, ›blending‹[1] oder ›enactivism‹[2] zu sehr verselbständigen, droht die Gefahr einer solchen Vereinseitigung. Umgekehrt kommen Brückenschläge zwischen Literatur und Ergebnissen der experimentellen Psychologie oder Neurowissenschaft nicht ohne hohe Konzeptualisierungsleistung aus. Zu plane Gleichsetzungen literarischer mit psychologischen oder neurologischen Beobachtungen, wie etwa der Vergleich der Lesetätigkeit mit der psychischen Fähigkeit zum Verstehen fremder Mentalität oder die Identifizierung bestimmter Hirnfunktionen als neuronales Korrelat ästhetischer Erfahrung, werden den Status einer bloßen Setzung erst überwinden, wenn die Phänomene angemessen differenziert und in ihrer Zusammensetzung analysiert werden. Auf der Seite der literaturtheoretischen Differenzierung steht dem Forscher dafür eine lange Tradition von Konzeptualisierungen von der klassischen Poetik und Rhetorik über romantische Sprach- und Kunstphilosophie bis zu Strukturalismus und neueren Entwicklungen zur Verfügung. Auf der Seite der psychologischen Differenzierung besteht das Mittel der Wahl im Rekurs auf die entwicklungsgeschichtliche Genese. Denn erst die chronologische Differenzierung und die evolutionäre Rekonstruktion von Selektionseffekten machen aus dem empirisch beobachteten Merkmal eine kognitive ›Funktion‹, auf die man wie auf eine Sache referieren kann. Von den beiden hier rezensierten Büchern setzt das eine den Schwerpunkt auf die evolutionär-genetische, das andere auf die neurowissenschaftlich-empirische Betrachtungsweise. Was beide Bücher vor anderen Publikationen der Sparte auszeichnet, ist, dass ihre Autoren bewusst als Literaturwissenschaftler sprechen und nachdenken, d.h. sich kein geschichtsvergessenes ›Alles neu macht der Mai‹ zuschulden kommen lassen, wie es sich im kognitivistischen Aufwind hie und da beobachten lässt, sondern von der erwähnten Tradition literaturtheoretischer Konzeptualisierungen mit allem Expertentum des Gelehrten weidlich Gebrauch machen.

Christopher Collins, Emeritus der New York University und der fachlichen Ausbildung nach Anglist und Komparatist, widmet sich vor allem der chronologischen Rekonstruktion in genetischer Perspektive. Unter dem Titel Paleopoetics geht er der Frage nach, welche Strukturen die menschliche Imagination bestimmen, schon ehe Dichtung oder auch nur Sprache in Erscheinung treten, und wie Sprache und Literatur von Beginn an durch diese Strukturen geprägt werden. Sein Hauptaugenmerk gilt dabei der visuellen Wahrnehmung. Der Leser, der sich eine schnelle Auskunft über dichterische Phänomene erwartet, wird sich in Langmut üben müssen. Erst Ende des sechsten Kapitels beginnt die Darstellung, auf im engeren Sinne literaturwissenschaftliche Thematiken einzuschwenken; zunächst auf einige rhetorische Phänomene, in Kapitel 7 dann auf frühe Formen mündlicher Dichtung, die in einem Schlusswort noch einmal vor der Folie der uns geläufigeren Formen schriftlicher Literatur profiliert werden. Vorher muss sich der Leser durch ausführliche Referate über die Anatomie des Auges, über visuelle und auditive Reizverarbeitung, basale kognitive und semiotische Prozesse und Verhaltensphänomene arbeiten. Diese Vorgehensweise des Autors ist gut begründet. Collins’ leitende Annahme lautet, vereinfacht formuliert: Wir sprechen, wie wir denken, und wir denken, wie wir sehen. Diese Annahme ist nicht trivial, denn sie steht im Kontrast zu der Annahme, bestimmte Arten des Sprechens (wie etwa das narrative Format) seien selbst evolutionäre Errungenschaften. Collins’ Position, die er mit anderen wie etwa Norbert Francis oder auch der Rezensentin teilt,[3] setzt dagegen ein evolutionäres Kontinuum, in dem die uns interessierenden poetischen Strukturen in der Regel nicht auf eigene evolutionäre Anpassungsvorgänge zurückgehen, sondern lediglich Reflexe evolutionär älterer, z.T. vorhumaner Schichten des Geistes darstellen. Verbale Artefakte gelten Collins folglich – wie schon Reuven Tsur, dem Pionier der Cognitive Poetics[4] – als eine Art kognitiver Fossilien, d.h. als paläoontologische Studienobjekte, anhand derer sich Rückschlüsse auf die Funktionsweise des Geistes ziehen lassen, so wie von Skelettfunden auf die Anatomie der Frühmenschen oder von Zivilisationsrelikten auf das Zusammenleben früherer Kulturen.

Collins’ Studie ist sachlich breit angelegt und wurde über einen längeren Zeitraum hinweg ausgearbeitet. Erste Überlegungen wurden bereits vor einem Jahrzehnt publiziert;[5] der hier rezensierten Monographie Paleopoetics von 2013 folgte im November 2016 als Fortsetzung das Buch Neopoetics, das die im ersten Buch beschriebenen Grundlagen im Prozess der frühen kulturellen Evolution ab Einsetzen der Überlieferung weiterverfolgt.[6] In Paleopoetics geht es also um die Vorgeschichte. Wie viele andere Beiträge zum Feld der Cognitive Poetics greift auch Collins Donald Merlins Unterscheidung von vier großräumigen Entwicklungsstufen als griffiges Orientierungsraster auf: Zum »episodischen Bewusstsein« der Primaten tritt die »mimetische« Kommunikationskultur der frühen Hominiden, die mit der allmählichen Sprachentwicklung von Homo Sapiens in das »mythische« Zeitalter und mit der Entwicklung extrasomatischer Speicher- und Kommunikationsmedien ins »theoretische« Zeitalter übergeht.[7] Wie Donald geht damit auch Collins davon aus, dass dem Menschen schon vor Entstehung einer mittels symbolischer (›arbiträrer‹) Zeichen fungierenden Verbalsprache Kommunikationsmittel zur Verfügung standen, die bereits einige der Charakteristika ausbildeten, die sich dann auch in Sprache und Dichtung niederschlugen. Der Hauptteil von Collins Buchs ist daher mit jenen von ihm so genannten »para-« und »protolinguistischen« (107 u. pass.) Kommunikationsformen befasst, die er anhand von Peirces Begriffen indexikalischer und ikonischer Zeichenhaftigkeit näher spezifiziert. Wie schon die zur visuellen Wahrnehmung haben auch diese Abschnitte eher referierenden Charakter und bereiten lediglich den entwicklungsgeschichtlichen Rahmen für die einzelnen herauszustellenden Strukturen.

Um welche Strukturen handelt es sich nun im Einzelnen? Eine zentrale Thematik in Collins’ Buch ist die Figur/Hintergrund-Unterscheidung, die er aus der visuellen Reizverarbeitung, namentlich der Zweiheit von fovealem und peripherem Sehen und von ventralem und dorsalem Pfad im visuellen System ableitet. Die Trennung von ventralem Pfad für objektzentrierte, allo-zentrische Wahrnehmung und dorsalem Pfad für handlungsbezogene, ego-zentrische Wahrnehmung (vgl. 94) setzt sich gewissermaßen fort in der Zweiheit von semantischem und episodischem Gedächtnis (vgl. 161) und der Spezialisierung linker und rechter Hand bzw. Hirnhälfte. Collins vermutet hierin mit dem Linguisten Manfred Krifka[8] die Ursache der sprachlichen Thema/Rhema-Struktur (vgl. 167) sowie generell anaphorischer, auf diesem Prinzip aufbauender Wiederholungsstrukturen (vgl. 185–188). Indexikalische Zeichen machen sich laut Collins die handlungsbezogene, gleichsam syntaktische Wahrnehmung zunutze und ermöglichen auf diese Weise, was Roman Jakobson das Kontiguitätsprinzip genannt und als Grundlage der Metonymie herausgestellt hat; das Similaritätsprinzip der Metapher baue hingegen auf das gleichsam semantische Denken der objektfokussierten Wahrnehmung auf (vgl. 124f., 171). (Weniger überzeugt hat mich Collins’ Rückführung von Nomen und Präpositionen auf das visuelle Funktionsprinzip von Fixationspunkt und Sakkade; vgl. 154.)

Die Fähigkeit zur Verwendung symbolischer Zeichen ist nach Auffassung Collins’ und anderer aus der Verkürzung und zunehmenden Konventionalisierung ikonischer Zeichen entstanden. Konventionalisierung wird seiner Ansicht nach ermöglicht durch die Fähigkeit zum sozialen Spiel. Er widmet daher ein ganzes Kapitel der Verhaltensdomäne des Spielens, in dem er im Anschluss an Konzepte der Entwicklungspsychologie Objektspiel, interaktives Als-ob-Spiel (pretense) und darstellendes Imitationsspiel unterscheidet und evolutionsgeschichtlich hierarchisiert. Das soziale Als-ob-Spiel habe mit seiner doppelten ›Rahmung‹ (Gregory Bateson) als objektiver und fingierter Handlung ein entpragmatisiertes Feld für den intersubjektiven Austausch mentaler Inhalte und somit die Voraussetzung für jede Art des Code-Lernens geschaffen. Tatsächlich geschieht Spracherlernen bis heute vor allem in Form spielerischer Interaktion. Collins verleiht mit diesem Vorschlag auch Robin Dunbars Vermutung, dass die Sprachentstehung sich ursprünglich in Verbindung mit erweiterter Sozialität entwickelt habe, Plausibilität aus einem weiteren Aspekt heraus.

Imitationsspiel geht darüber insofern hinaus, als es nicht mehr an eine bestimmte interaktive Situation gebunden ist, sondern wiederholbare Einheiten, mimetische Artefakte herstellt. Hier setzen an späterer Stelle seine Ausführungen zum Ritual an, in welchem er auch die früheste Form von Poesie verortet: eine multimodale Poesie, die noch kein vollentwickeltes Sprachsystem voraussetzt, sondern schon in der gestisch-musikalisch-holistisch-formulaischen Protosprachlichkeit, die Steven Mithen, Alison Wray und andere annehmen, stattfinden kann und von Collins exemplarisch mit der griechischen Gattung der protoreligiösen μολπή (vgl. 177) apostrophiert wird. Die eigentliche Geburt der Sprachkunst aus dem Ritual beschreibt er dann als eine Verselbständigung der ›Worte‹ aus der rituellen Dreiheit von dromena (Handlung/Pantomime), deikumena (Zeigen/Reliquienpräsentation) und legomena (Worte), wie sie für die Mysterien von Eleusis beschrieben ist (vgl. 180–182). Die älteren Formen wirken in den neueren jedoch stets nach, was Collins unter anderem zu der These führt, dass die von Milman Parry beobachtete Formelhaftigkeit oraler Epik nicht allein mnemotechnischen Prinzipien geschuldet, sondern auch eine Nachwirkung jener älteren multimodalen und formulaischen Poesie sei (vgl. 203f.).

Der Reichtum an Ideen und neuen Verknüpfungen, die Collins’ Buch im breiten Strom seiner eng verflochtenen Forschungsreferate darbietet, lässt sich in dieser selektiven Inhaltsangabe nur andeuten. Zumal Collins nach Sachgebieten gliedert, also auf eine an den Makrothesen orientierte Argumentation weitgehend verzichtet und stattdessen darauf vertraut, dass die vielen und sorgfältig herausgearbeiteten Querverweise zwischen den Kapiteln dieser Anforderung Genüge leisten. Für Leser wie Autor bedeutet dies allerdings, dass die großen Argumentationsziele manches Mal aus dem Blick geraten und die Darstellung sich in dazu quergelagerten Diskussionen über Details der Sprachentstehungstheorie, in unnötigen Amplifikationen von Evidentem oder auch in bisweilen etwas eigenwilligen Assoziationen verliert. Positiv gewendet heißt das aber auch, dass das Buch eine Fülle an Anregungen bereithält und für Sprach- und Literaturwissenschaftler gleichermaßen interessant ist. Ein großer Vorzug des Buches ist überdies, dass die kognitionswissenschaftlichen Leitideen nicht einfach als verbürgtes Wissen importiert, sondern in ihrer jeweiligen Forschungsgeschichte und ggf. Umstrittenheit referiert werden, wozu die von Collins gewählte Darstellungsform den nötigen Raum gewährt. Zu bedauern ist bei dieser Darstellungsweise allerdings, dass das Register einige wohl unbeabsichtigte Lücken aufweist. So sucht man im Text erwähnte Grundbegriffe wie z.B. ›Gestalt‹ oder Namen wie Dunbar, Parry und Rousseau dort vergeblich.

Etwas befremdlich ist Collins’ Überbetonung der vielfachen Dualität oder koordinierten Komplementarität kognitiver Prozesse, so als verberge sich hinter der Zweiheit als solcher eine eigene Essentialität. Aber was wäre die gemeinsame Referenz der verschiedenen Dualitäten wie etwa: ventralem/dorsalem Pfad, parallelem/seriellem Prozessieren, schneller/langsamer Informationsverarbeitung (Zwei-Prozess-Modell), auditiver/visueller Aspekte menschlichen Kommunikationsverhaltens usw.? Collins spricht in all diesen Fällen verbindend von »Dyaden« (mit Wahrnehmen/Handeln als der »Master Dyad«, 33, 88) und meint selbst den dualistischen Denkzwang des Menschen aus diesem vermeintlichen Grundprinzip ableiten zu können (vgl. 100–105). Hier scheint mir das Bemühen um Konzeptualisierung zu weit getrieben. Aus der sich in unterschiedlichen Zusammenhängen immer wieder ergebenden Zweiheit funktionaler Strukturen und daraus, dass diese Strukturen untereinander vielfältig korrelieren oder bisweilen sogar genetisch auseinander hervorgegangen sind, folgt noch nicht, dass die Zweiheit ›an sich‹ irgendeine Bedeutung annimmt.

Diese etwas problematische Tendenz zur Hyperkonzeptualisierung teilt Collins mit dem Autor des zweiten hier zu rezensierenden Buches, Paul Armstrong, Anglistikprofessor an der Brown University, der alles auf das Widerspiel von ›Harmonie‹ und ›Dissonanz‹ bringt – zwei (eingeräumtermaßen, vgl. 14) musikalischen Metaphern für die Funktionsweise des Gehirns sowie der Literatur. Was ist damit gemeint? Armstrong widmet sich besonders der antizipatorisch-konstruktivistischen Arbeitsweise des Gehirns, der Einsicht also, dass unser Gehirn die Welt nicht einfach spiegelt, sondern mittels Vorerwartungen selektive Stimuli abfragt und nach diversen Musterabgleichen zu einer Wahrnehmung zusammensetzt. ›Harmonie‹ und ›Dissonanz‹ sind sozusagen laufende Begleiteffekte des ständigen Musterabgleichs: Effekte von Musterbestätigung oder -modifikation; ein Prinzip, das schon für basale neuronale Prozesse anzusetzen ist und nach Armstrong kontinuierlich alle höherstufigen kognitiven Prozesse und Verstehensleistungen durchzieht, bis hin zu dem, was als der ›hermeneutische Zirkel‹ bezeichnet worden ist. Dieses rekursive Hin und Her zwischen Schemaabfrage und Schemaabgleich ist der im Titel How Literature Plays with the Brain ausgedrückte Grundgedanke des Buches. Es geht hier also nicht in erster Instanz um die Verhaltensdomäne des Spielens, die verschiedentlich mit Kunst und Literatur in Beziehung gesetzt worden ist,[9] und auch nicht um die damit in der Regel verbundene Lustbelohnung, die Semir Zeki, einer der Gewährsleute Armstrongs, als gemeinsames Korrelat unterschiedlicher Kunsterfahrung herausgestellt hat (vgl. Armstrong 37), sondern um ein eher figurativ zu verstehendes ›Spiel‹ von Übereinstimmung und Abweichung, Fixierung und Flexibilisierung, klassizistischer und Verfremdungsästhetik. Ästhetischer Genuss stellt sich nach Armstrong insbesondere dann ein, wenn ein optimales Funktionieren der synchronisierenden Integration neuronaler Aktionspotentiale ermöglicht wird (vgl. 110f.).

Armstrongs Überlegungen partizipieren mit dieser Perspektive am Forschungsprogramm der ›Neuroästhetik‹, für das neben dem bereits erwähnten Neurobiologen Semir Zeki etwa dessen Fachkollegin Margaret Livingstone, der Philosoph Alva Noë oder eine neuere Monographie der Anglistin G. Gabrielle Starr stehen.[10] Die bislang vorliegenden Studien sind fast ausschließlich visueller Kunst gewidmet; flankiert von einer ohnehin seit längerem existierenden neurowissenschaftlichen Forschungspraxis zur Musikwahrnehmung. Für den Bereich der Literatur sieht es auf dem Feld noch recht mager aus, aber auch dort regen sich erste Versuche.[11]

Wie bei Collins, so wird wegen dieser Einseitigkeit der Forschungslage auch bei Armstrong viel aus der visuellen Reizverarbeitung abgeleitet. Anders als Collins baut er jedoch keine kleinteilige Brücke vom visuellen System zu einzelnen, höchst spezifischen Phänomenen des kognitiven Verhaltens, sondern generalisiert von den neurowissenschaftlichen Beschreibungen des visuellen Systems zur Funktionsweise ›des‹ Gehirns. Dies ist nicht ganz und gar unzulässig, da das visuelle System für die grundlegenden Prinzipien, die Armstrong in erster Linie interessieren, sicherlich von einiger Repräsentativität ist, doch führt es an den Rändern bisweilen auch zu Ungenauigkeiten, wenn nicht Verfälschungen. So z.B., wenn die strikte Entweder/Oder-Logik der Gestaltwahrnehmung betont wird (vgl. 67f.); denn es gibt Hinweise, dass es im auditiven System aufgrund der Einschaltung eines Zwischenspeichers durchaus zu einer höheren Flexibilität kommen kann. [12] Armstrong baut eigentlich nur eine halbe (und halbherzige) Brücke vom visuellen System zum literarischen Lesen: Er beruft sich auf Stanislas Dehaenes[13] wohlfundierte Theorie, dass die Worterkennung beim Lesen mittels Gehirnarealen funktioniere, die eigentlich für die visuelle invariante Objekterkennung zuständig sind. Dass Dehaene – in Übereinstimmung mit der sonstigen Leseforschung – von einer grundsätzlichen Zweikanaligkeit des Leseprozesses ausgeht und neben dem visuell-lexikalischen auch einen auditiv-phonologischen Kanal annimmt, erwähnt Armstrong zwar (vgl. 33), es interessiert ihn im Folgenden aber nicht weiter. Dies ist umso bedauerlicher, als man annehmen kann, dass der auditiv-phonologische Kanal – die ›innere Stimme‹ mit ihrem klanglichen Potential – beim literarischen Lesen (im Vergleich zum regulären Informationslesen) von hervorgehobener Bedeutung ist.[14]

Ohne eine differenziert ausgebaute Brücke bleibt freilich nur ein wechselseitiges Aufeinanderabbilden von neuronalen Prozessen auf der einen und erfahrungsbasierten Konzepten auf der anderen Seite. Armstrong ist sich dieses Problems durchaus bewusst. Er ordnet es ein in die grundsätzlichere mind/brain-Problematik, dem großen »explanatory gap« (7), wie aus dem einen das andere entsteht. Armstrong lässt diesen Gap unangetastet. Er findet das schöne Bild, man könne doch über diesen Graben hinweg miteinander reden (vgl. 7).[15] Darin wollen wir ihm ausdrücklich zustimmen, aber doch auch anmerken, dass einige, wenn nicht Baumstämme, so doch Äste herumliegen, mit denen man eine wenigstens provisorische Brücke zu bauen beginnen könnte. Psychologische Konzeptualisierungen und evolutionstheoretische Funktionsbestimmungen spielen in Armstrongs Überlegungen kaum eine Rolle. Sein bescheideneres Ziel ist, lediglich »Parallelen« (IX, 21), »Konvergenzen« (IX, 19), »Ähnlichkeiten« (IX) aufzuzeigen, die ihm zwischen den Beschreibungen in der neurowissenschaftlichen Literatur und der literaturtheoretischen Tradition aufgefallen sind, und auf diese Weise »neuronale Korrelate« (92, 102 u. pass.) von literarischen Phänomenen zu identifizieren. Als neuronales Korrelat bezeichnet man zwar für gewöhnlich einen empirischen Befund, der mit dem experimentell getesteten Verhalten korreliert (= zusammen auftritt), und nicht konzeptionell-strukturelle Analogien, aber Armstrong kann sich hier auf ein großes Vorbild berufen: Francisco Varelas Zusammenführung von Husserls Theorie des Zeitbewusstseins mit der Arbeitsweise des Gehirns und das damit begonnene Projekt einer »Neurophänomenologie« (19).[16] In dieser direkten Korrelationierung unter Aussparung kognitionswissenschaftlicher Konzepte sieht Armstrong einen Weg, mit den Neurowissenschaftlern besser ins Gespräch zu kommen, da viele von ihnen starke Vorbehalte gegen die Kognitionswissenschaften hätten (vgl. 19). Er will offenbar keine Annahmen über den mind importieren, denen sie nicht zustimmen würden. Auf die Cognitive Poetics, die ihre Konzepte vornehmlich aus der Psychologie beziehen, sieht er von dieser Position aus etwas mitleidig herab (vgl. XIIf., 18).

Diese grundlegende Orientierung an der Forschergeneration Varelas[17] bringt es zum einen mit sich, dass an verschiedenen Stellen des Buches gegen Jerry Fodors Computermodell des Geistes angeredet wird – was bisweilen etwas seltsam anmutet, da Fodors Annahmen keineswegs die Orthodoxie der heutigen Psychologie darstellen, auch wenn die Computermetapher sich erhalten hat. (Das von Armstrong mit seiner Forschungsliteratur dagegen in Anschlag gebrachte ›massiv parallele‹ Prozessieren des Gehirns entstammt, soweit ich sehe, selbst der Computersprache.) Zum andern führt diese Entscheidung dazu, dass Armstrongs Korrelierungen den Leser manches Mal etwas ungläubig zurücklassen. So etwa, wenn Antonio Damasios Feststellung, dass unser Bewusstsein aufgrund der Zeitdimension neuronaler Prozesse der tatsächlichen Gegenwart ca. 500 ms hinterherhinke (vgl. 101), als Erklärung für die Dissoziation von histoire und discours im Erzählen angeboten wird (denn das Leben sei »a perpetual process of catch-up« durch proto-narrative Reflexion auf Erfahrung, 102). Haben diese beiden Beobachtungen, einmal auf neuronaler, einmal auf Verhaltensproduktebene, wirklich noch irgendetwas miteinander zu tun? Ich finde diesen Gedanken keineswegs absurd,[18] aber die genaueren argumentativen Zwischenschritte hätte ich doch gerne zu Gesicht bekommen.

In Fällen weniger kühner Analogisierungen, die man mit einem ›Das mag schon so sein‹ gerne durchzunicken bereit wäre, stellen sich Zweifel am Erkenntniswert dieser Vorschläge ein. Die von Armstrong präferierte Literaturtheorie ist die jener phänomenologisch inspirierten Linie von Husserl und Merleau-Ponty über Ingarden und Gadamer zu Jauß und Iser. Begriffe wie ›Konkretisation‹, ›Erwartungshorizont‹ und ›Unbestimmtheitsstellen‹ hat man schon lange nicht mehr so häufig in einer neueren Monographie gelesen. Dies ist nichts an und für sich Verwerfliches, aber es führt doch zu einigen Ermüdungserscheinungen bei einem Leser, der von Armstrong gerne Neues erfahren möchte. Dass Lesen ein konstruierender Akt ist und das irgendwie mit dem Gehirn zusammenhängt, hätte man sich ja fast schon gedacht. Die genauere Aufhellung dieses ›irgendwie‹, die Armstrong unternimmt, ist grundsätzlich anderer Art als etwa die der konstruktivistischen Sprachverstehens- und Leseforschung (z.B. von Walter Kintsch und Teun van Dijk). Armstrong würdigt diese Forschungsrichtung zwar kurz, da sie der neurologischen Leseforschung wichtige Evidenz zur Verfügung gestellt habe (vgl. 19), lässt sie im Übrigen aber außer Acht. Sein direkterer Weg von den neuronalen Prozessen zu den Erfahrungsgehalten erzeugt zwangsläufig eine hohe Redundanz, indem die beiden Seiten der Erklärungsrelation bloß in ihrer Analogizität, nicht in ihrem Kausalverhältnis dargestellt werden.

Die Bevorzugung dieser philosophisch inspirierten Literaturtheorie bewirkt außerdem, dass über weite Strecken des Buches gar keine im engeren Sinne literaturwissenschaftlichen Themen behandelt werden. Zeiterfahrung, Bewusstsein/Selbstsinn, Intersubjektivität und ähnliche philosophisch präfigurierte Thematiken nehmen breiten Raum ein. Zwar ist dies unter der Prämisse, dass Literatur nicht aus dem Nichts entsteht, sondern mit dem menschlichen Geist als solchem, und somit auch mit all diesen Themen viel zu tun hat, keineswegs unsinnig, und Armstrong versäumt auch nicht, die jeweiligen Bezüge zur Literatur herzustellen. Da er sich um die Spezialforschung zu den so gekreuzten literaturwissenschaftlichen Fragestellungen aber weiter nicht bekümmert,[19] sind seine Ausführungen dazu kaum erwähnenswert. Z.B. wirkt seine oberflächliche Anwendung von Damasios Emotionstheorie auf literarische Rezeptionspsychologie (vgl. 125f.) angesichts einer seit den neunziger Jahren kontinuierlich wachsenden literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung äußerst dürftig, und eine Kenntnisnahme kognitivistisch inspirierter Erzähltheorie hätte manchen der eingestreuten Bemerkungen gut getan.

Freilich, niemand kann alles machen, und Armstrongs Schwerpunkt liegt auf anderem Gebiet. Das Kapitel zur Intersubjektivität bietet eine einlässliche Auseinandersetzung mit der Spiegelneuronen- und verwandter Forschung, die Armstrong zu Recht als neurologische Erklärung einiger Aspekte des Embodiment-Konzepts behandelt. Ihn interessiert besonders die Frage, inwieweit ähnliche Prinzipien sich auch für die weniger gut erforschte sprachvermittelte Informationsaufnahme vermuten lassen (vgl. 151ff.). In diesem Zusammenhang rekonzeptualisiert er unter anderem den aristotelischen Mimesisbegriff sinnvoll: Sprachliche Artefakte seien keine bloße Repräsentation oder Kopie, sondern eine symbolisch vermittelte »Reaktivierung« (155) körpergebundener Erfahrung. Und er führt den Begriff des Ästhetischen auf seinen eigentlichen Sinn der ›Empfindungsvermögen‹ zurück (vgl. 165) und bietet damit eine Alternative zu dem abstrahierten Einheitsbegriff des Ästhetischen, gegen den er einleitend zu Recht polemisiert (vgl. 12–18). Armstrong geht in diesem letzten Kapitel von seinem anfangs bloß analogisierenden Verfahren zur üblichen diskutierenden Synthese interdisziplinärer Forschungsergebnisse über und beschreitet so nun auch die psychologische Beschreibungsebene (bes. ausführlich zu Empathieprozessen, 158–165).

Beide hier besprochenen Monographien weisen lange Passagen von Referaten aus anderen Forschungskontexten auf, die man in ähnlicher Form auch in Hunderten von anderen Büchern finden kann und die dem Leser, der überhaupt nach Armstrongs oder Collins’ Buch greift, in Teilen bekannt sein dürften. Diese Sorte von Redundanz ist nicht ganz vermeidbar, wenn man eine solide Argumentation aufbauen will; aber pointiertere Darstellungen, die Grundlegendes an geeignete Referenzwerke delegieren und es dem Leser selbst überlassen, was er ggf. genauer nachlesen möchte, sind durchaus möglich. Was über diese Längen hinweg das Interesse wach hält, ist, dass in beiden Büchern angenehm kluge, kritische Köpfe sprechen: Literaturwissenschaftler, die ihr Metier verstehen und um eine seriöse Erweiterung unseres Wissens über Literatur auch aus transdisziplinärer Perspektive bemüht sind. Die Ergebnisse mögen mal mehr, mal weniger überzeugen, die Suchbewegung ist honorabel.

Anmerkungen

[1] Siehe den kritischen Beitrag von Sophia Wege: Die kognitive Literaturwissenschaft lässt sich blenden. Anmerkungen zum Emergenz-Begriff der Blending-Theorie, in: Roman Mikuláš/Sophia Wege (Hg.): Schlüsselkonzepte und Anwendungen der Kognitiven Literaturwissenschaft, Münster 2016 (Poetogenesis 11), 243–260. [zurück]

[2] Siehe den kritischen Beitrag von Jesse Prinz: Putting the brakes on enactive perception, Psyche 12:1 (2006), http://journalpsyche.org/files/0xaae8.pdf (02.03.2017). [zurück]

[3] Vgl. Norbert Francis: Poetry and Narrative. An evolutionary Perspective on the Cognition of Verbal Art, Neohelicon 39:2 (2012), S. 267–294; Katja Mellmann: Is Storytelling a Biological Adaptation? Preliminary Thoughts on How to Pose that Question, in: Carsten Gansel/Dirk Vanderbeke (Hg.): Telling Stories. Literature and Evolution, Berlin/Boston 2012 (Spectrum Literaturwissenschaft 26), 30–49. Collins knüpft das narrative Format eng an das episodische Gedächtnis an (vgl. 192), wie vor ihm schon Brian Boyd: On the Origin of Stories. Evolution, Cognition, and Fiction, Cambridge, MA 2009, 132–160. [zurück]

[4] Reuven Tsur: Poetic Conventions as Cognitive Fossils, Style 44:4 (2010), 496–523. [zurück]

[5] Christopher Collins: Palaeopoetics: Prefatory Notes Toward a Cognitive History of Poetry, Cognitive Semiotics 2 (2008), 41–64. [zurück]

[6] Christopher Collins: Neopoetics. The Evolution of the Literate Imagination, New York 2016. [zurück]

[7] Merlin Donald: Origins of the Modern Mind. Three Stages in the Evolution of Culture and Cognition, Cambridge, MA/London 1991; ders.: A Mind so Rare. The Evolution of Human Consciousness, New York 2002. [zurück]

[8] Vgl Manfred Krifka: Functional similarities between bimanual coordination and topic/comment structure, in: Shinichiro Ishihara/Stefanie Jannedy/Anne Schwarz (Hg.): Working Papers of the SFB 632. Interdisciplinary Studies on Information Structure (ISIS), Potsdam 2007, 39–59; erneut in: Regine Eckardt/Gerhard Jäger/Tonjes Veenstra (Hg.): Variation, Selection, Development. Probing the Evolutionary Model of Language Change, Berlin/New York 2008, 307–336. [zurück]

[9] Dieses Thema greift Armstrong dann auf den Seiten 168–171 auf. [zurück]

[10] Weniger bekannt (und vielleicht nicht für jedermann nachvollziehbar) die Arbeit des kürzlich verstorbenen Olaf Breidbach: Neuronale Ästhetik. Zur Morpho-Logik des Anschauens, Paderborn 2013. [zurück]

[11] Vgl. die Referate bei Michael Burke: The Neuroaesthetics of Prose Fiction. Pitfalls, Parameters and Prospects, Frontiers in Human Neuroscience 9 (2015), Art.nr. 442. DOI: 10.3389/fnhum.2015.00442. [zurück]

[12] Vgl. die verarbeitete Literatur in Katja Mellmann: Das innere Ohr. Zum Phänomen der Subvokalisierung in stiller Lektüre, in: Britta Herrmann (Hg.): Dichtung für die Ohren. Literatur als tonale Kunst, Berlin 2015 (Audio-texte. Klang – Kunst – Kultur, 1), 35–48. [zurück]

[13] Stanislas Dehaene: Lesen. Die größte Erfindung der Menschheit und was dabei in unseren Köpfen passiert [2007]. Aus dem Französischen von Helmut Reuter, München 22010. [zurück]

[14] Vgl. Mellmann 2015 (Anm. 12). [zurück]

[15] Ausführlicher dazu sein lesenswertes Schlusswort, 175–182. [zurück]

[16] Vgl. Francisco J. Varela: The Specious Present. A Neurophenomenology of Time Consciousness, in: Jean Petitot et al. (Hg.): Naturalizing Phenomenology. Issues in Contemporary Phenomenology and Cognitive Science, Stanford, CA 1999, 266–314. [zurück]

[17] Und nur die grundlegende Fokussierung ist hier gemeint; nicht, dass Armstrong sich an einem veralteten Forschungsstand orientiere. Neuere Literatur taucht haufenweise auf. Da das Buch merkwürdigerweise kein separates Literaturverzeichnis hat und das Register den Anmerkungsteil nur selektiv erfasst, ist das Verhältnis von neuerer und älterer Forschung in Armstrongs Studie nicht leicht ermittelbar. Er erwähnt aber verschiedentlich Hinweise von fachkundigen Gegenlesern, was eine Gewähr dafür sein mag, dass gewisse Kontrollmechanismen stattgefunden haben. [zurück]

[18] An einer Stelle schießt Armstrongs Analogisierungsdrang wirklich ins Absurde, nämlich wenn er die unterschiedlichen Zeiträume menschlicher Entwicklung – die langsame biologische Evolution, großräumige Zäsuren der Zivilisationsgeschichte und die individuelle Lerngeschichte – mit Varelas Unterscheidung dreier temporaler Größenordnungen für neuronales Prozessieren (vgl. 100) parallelisiert und auch noch betont: »it is the analogy here that matters« (117). No. It doesn’t matter. [zurück]

[19] In einer Fußnote wird auf David Herman verwiesen (vgl. 206), im Haupttext werden gelegentlich Brian Boyd, Blakey Vermeule und Suzanne Keen zitiert. Viel mehr taucht nicht auf. [zurück]

2017-04-28

JLTonline ISSN 1862-8990

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