Niels Klenner
Warum es lohnend sein kann, geist-theoretisch zu interpretieren. Wolfgang Detels exemplarische Interpretationen in Hermeneutik der Literatur und Theorie des Geistes
Wolfgang Detel, Hermeneutik der Literatur und Theorie des Geistes. Exemplarische Interpretationen poetischer Texte. Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann 2016. 240 S. [Preis: EUR 21,90]. ISBN: 978-3-465-04256-3.
Wolfgang Detels neuestes Buch Hermeneutik der Literatur und Theorie des Geistes. Exemplarische Interpretationen poetischer Texte ist ein ungemein anregendes und thematisch vielschichtiges Buch. Anders als der Untertitel vermuten lässt, legt Detel darin nicht allein ›exemplarische Interpretationen‹ vor, sondern wirft zudem allgemeinere, vom konkreten literarischen Werk losgelöste Fragestellungen auf. Um einige zu nennen: Auf welche Methode greift eine Interpretation zur Überprüfung ihrer Thesen zurück? Darf eine Interpretation ›anachronistisch‹ vorgehen? Dürfen wir also etwa sagen, dass das lyrische Ich in Sapphos Fragment 31 eine Panikattacke erleidet, dass Nathanael in Hoffmanns Der Sandmann an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet? Wie ist es zu verstehen, wenn musikalischen Aspekten eines Textes im Rahmen einer Interpretation mentale Prädikate zugeschrieben zugeschrieben werden, also etwa gesagt wird: »Der Rhythmus ist in allen Versen fallend und enthält daher keine Unruhe« (59)? Kann fiktionale Literatur Erkenntnis und Wissen generieren? Was unterscheidet fiktionale Texte, verstanden als Modelle, von naturwissenschaftlichen Modellen? Besonderes Merkmal und besonderer Reiz des Buches ist es, dass Detel sowohl für seine literaturtheoretischen Antworten als auch für seine Literaturinterpretationen eine Vielzahl von Theorien unterschiedlicher Disziplinen heranzuziehen weiß, so zum Beispiel Donald Davidsons Interpretationstheorie, Elemente der Modelltheorie, die Theorie der sozialen Kognition, die der verkörperlichten Kognition oder die Theorie der affektiven Intentionalität der Gefühle.
Da bereits eine Rezension existiert, die einen guten Überblick über die verschiedenen Themen des Buches gibt,[1] werde ich in dieser kritischen Diskussion einen zentralen Aspekt etwas genauer betrachten, den seiner Interpretationen. Detels Anspruch ist es, mit seinen Interpretationen zu zeigen, dass eine »geist-theoretische Literaturinterpretation« »einige interessante neue Aspekte an literarischen Texten aufdecken kann.« (7f.) Dieses Anliegen nimmt im Buch den größten Platz ein und verleiht ihm seine Struktur; Kapitel 1 bietet geist-theoretische Interpretationen zu Sapphos Fragment 31 und Goethes An den Mond, Kapitel 2 zu Hoffmanns Der Sandmann, Kapitel 3 zu Flauberts Madame Bovary. Das vierte und letzte Kapitel liefert Theorien und Begriffe nach, die zuvor verwendet wurden. Die eingangs erwähnten Fragestellungen schleichen sich entweder in die Interpretationstexte mit ein oder werden in einem eigenen Unterkapitel behandelt. Das von Detel verfolgte interpretatorische Anliegen kann als sein zentrales gelten, wenn man sich die Stellung des Buches in Detels Arbeiten zur Hermeneutik verdeutlicht. Vorausgegangen sind dem Buch 2011[2] und 2014[3] zwei Studien, in denen er die Grundlagen einer »geist-theoretische[n] Rekonstruktion der allgemeinen Hermeneutik« zu legen versucht hat (7). Der erste Band war dabei weitgehend historisch angelegt, während der zweite Band die theoretische Skizze des Vorgängers ausarbeitete. Mit dem dritten, hier besprochenen Buch aus der Reihe wird der Schwerpunkt auf die interpretatorische Praxis gelegt. Anhand der konkreten Interpretationen soll der grundsätzliche Wert einer geist-theoretischen Literaturinterpretation für die Praxis vorgeführt werden. Seine in den vorherigen Veröffentlichungen entwickelte allgemeine Hermeneutik soll sich nun in der »wichtigsten Bereichshermeneutik bewähren«, in der Hermeneutik der Literatur (7). Neben literaturtheoretisch interessierten Lesern sind daher vor allem Interpreten literarischer Werke Adressaten des Buches. Aus der Perspektive letztgenannter Adressatengruppe werde ich mich dem Buch nähern. Genauer: Ich werde fragen, welche konkreten neuen Perspektiven sein geist-theoretischer Ansatz für zukünftige Interpretationen eröffnet, inwiefern Detel also seinem eigenen Anspruch gerecht wird. Damit bleiben andere interessante Fragen aus der Interpreten-Perspektive unberücksichtigt, etwa die nach der Natur von Interpretationen oder die nach ihrer Methodologie. Ziel ist es, den Wert des geist-theoretischen Blicks für die interpretatorische Praxis genauer zu benennen. Aus praxeologischer Sicht ist Detels geist-theoretischer Ansatz nicht vollständig neu – so die These – hält aber dennoch wertvolle neue Einsichten für die künftige Praxis bereit, die es gilt, explizit zu machen. Ich werde zunächst fragen, (1) was es heißt, geist-theoretisch zu interpretieren, und dann die Frage stellen, (2) ob es für die interpretatorische Praxis lohnend sein kann, geist-theoretisch auf Literatur zu blicken. Es sollen zunächst annäherungsweise die begrifflichen Bausteine seines Ansatzes erläutert werden. Daraufhin wird auf die vier von Detel vorgelegten Interpretationen geschaut, wobei es mir nicht darauf ankommt, sie inhaltlich zu beurteilen, sondern Detels Tun so zu beschreiben, dass im zweiten Schritt beurteilt werden kann, ob sein geist-theoretischer Blick neu und lohnend ist.
1. Was heißt es, geist-theoretisch zu interpretieren?
Die Auszeichnung seines Ansatzes als ›geist-theoretisch‹ legt den Gegenstandsbereich von Detels Interpretationen fest. Interpretiert werden geistige bzw. mentale Zustände, wozu »unter anderem Wahrnehmungen, Stimmungen, Gefühle, Träume, Erinnerungen, Wünsche, Absichten, Interessen, Gedanken, Meinungen, Überzeugungen und Erwartungen« gehören (180) sowie die durch diese hervorgerufenen »körperlichen (physischen) Zustände«, »die von außen beobachtet werden können« und von Detel »expressive Zeichen« genannt werden. Zu diesen expressiven Zeichen gehören »zum Beispiel Körperhaltungen, Gesichtszüge, Gesten, Laute, sprachliche Äußerungen oder Schriftzeichen« (185). Grundsätzlich ist damit der gesamte Text als Ansammlung ›expressiver Zeichen‹ des Autors Gegenstand einer geist-theoretischen Interpretation, aber Detels Augenmerk liegt auf den expressiven Zeichen der Figuren, auf ihrer Psychologie, wie er sagt (vgl. 11). Der Zusatz ›theoretisch‹ erfolgt deshalb, weil der zugrunde gelegte Begriff des Geistes auf eine »moderne[] Konzeption von mentalen Zuständen und Vorgängen« aufbaut (9, genauer dazu 179-184). Interpretationen gelten dem geist-theoretischen Ansatz gemäß »als kausal-rationale Erklärungen komplexer mentaler oder textlicher Zusammenhänge« (9). Die Erklärungen sollen verständlich machen, »warum das Auftreten eines bestimmten mentalen Zustandes, etwa einer Absicht oder Meinung, bei einem Menschen angesichts seiner weiteren mentalen Zustände rationalerweise zu erwarten war« (186). Gesucht werden also gute Gründe für das Auftreten mentaler Zustände und Handlungen (genauer zu ›Interpretation‹ vgl. 184-190).
Zwei Handlungen sind für das Interpretieren aus geist-theoretischer Perspektive zentral: Das Erkennen (der Eigenschaften) mentaler Zustände und Handlungen sowie deren Erklärungen. In diesem Sinne interpretiert Detel im ersten Kapitel zunächst Sapphos Fragment 31. Er greift dort die These kritisch auf, dass Sappho in ihren Gedichten nicht zwischen einer körperlichen und einer geistigen Dimension unterscheide. So behauptet zum Beispiel Hermann Fränkel[4], in Detels Worten: »Sappho schildert in Frg. 31 ihre heftige Liebe zu dem reizenden Mädchen, beschreibt diese Liebe aber aus heutiger Sicht exklusiv in Begriffen körperlicher Symptome« (32). Gegenüber dieser These macht Detel geltend, dass Sappho mit dem Verlust des Seh-, Hör- und Sprechvermögens im Gedicht explizit kognitive und damit geistige Fähigkeiten benennt. Sappho unterscheide daher sehr wohl zwischen körperlichen und geistigen Aspekten in Fragment 31 (sowie in vielen weiteren Gedichten, wie Detel zeigt). Diese Kritik überführt Detel in eine These zur Relation der körperlichen und geistigen Dimension des Eros im Gedicht und in eine Erklärung für das Auftreten derselben: Sappho setze im Gedicht gezielt den Verlust des vegetativen Gleichgewichts mit dem Versagen kognitiver Fähigkeiten in Beziehung (für die Begründung dieser Annahme vgl. Kapitel 1.1.4), um so auf die dramatische und unkontrollierbare Übermacht des Eros hinzuweisen (vgl. 31, 34). Geist-theoretisch zu interpretieren, bedeutet mit Bezug auf diese Interpretation, die geistige Dimension im Gedicht zu identifizieren, nach der Beziehung zur nicht-geistigen Dimension zu fragen und schließlich die ausgemachte Relation im Text mit Verweis auf die Absicht der Dichterin zu erklären.
In Detels zweiter Interpretation im Lyrikkapitel zu Goethes An den Mond sind das Erkennen und Erklären mentaler Zustände ebenfalls die zentralen interpretatorischen Handlungen, allerdings auf andere Weise. Zum einen ist es nicht Detel, der eine Erklärung gibt, sondern das lyrische Ich; Detel ist vielmehr derjenige, der die Erklärung des lyrischen Ichs im Gedicht identifiziert. Insgesamt sei An den Mond »eine kausal-rationale Selbsterklärung des lyrischen Ichs. Es wird vorgeführt, wie sich das lyrische Ich über die Gründe seiner Empfindungen klar zu werden versucht« (58, im Original teils kursiv). Wieso es beim Anblick des Mondes zum Gefühl der Entspannung komme, macht Detel dabei als zentralen erklärungsbedürftigen Sachverhalt aus, der in den ersten beiden Strophen benannt, in den folgenden Strophen u. a. unter Rückgriff auf einen weiteren mentalen Zustand erklärt und schließlich in den letzten beiden Strophen ergänzt und selbst als Erklärung für einen dritten mentalen Zustand angeführt wird. Zum anderen unterscheiden sich die gegebenen Erklärungen hinsichtlich dessen, was erklärt wird. Während Detel in seiner Interpretation des Fragments 31 Sapphos sprachliches Handeln mit Verweis auf einen mentalen Zustand, ihre Absicht, erklärt, fehlt für Goethes Handeln eine solche Erklärung (obwohl Detel in seinem Goethe-Kapitel sagt, dass es aus geist-theoretischer Perspektive gilt, die »kommunikative[] Botschaft« eines Werkes auszumachen, 54). Die interpretatorischen Basishandlungen des geist-theoretischen Ansatzes können also sowohl von Interpreten als auch von Figuren vollzogen werden und das Explanandum kann entweder die Handlung oder ein mentaler Zustand einer Figur oder einer Autorin sein.
Detels Prosa-Interpretationen sind komplexer als seine Gedichtinterpretationen, was in den folgenden Punkten (1) bis (4) erläutert wird. Hoffmanns Erzählung und Flauberts Roman enthalten gegenüber den besprochenen Gedichten eine Vielzahl von mentalen Zuständen einer Figur. Dieser quantitative Unterschied eröffnet Detel stärker als zuvor die Möglichkeit, nach einer Entwicklung zu fragen (1); Detel bietet genau in diesem Sinne geist-theoretische Interpretationen der Prosawerke. Sowohl für Hoffmanns Erzählung als auch Flauberts Roman gibt Detel eine Erklärung der seelischen Entwicklung hin zum Selbstmord der beiden Hauptfiguren. Dies bedeutet in beiden Fällen, die mentalen Zustände, insbesondere die emotionalen Zustände, zu identifizieren, sie miteinander zu vergleichen, darauf aufbauend Entwicklungsstufen auszumachen und Erklärungen für die mentalen Zustände bzw. die Entwicklung zu finden. Im Falle Nathanaels macht Detel insbesondere dessen Kindheitserlebnisse, die Erinnerung an sie und das Problem, nicht verstanden zu werden, für seinen seelischen Zustand verantwortlich. Emma Bovary wählt laut Detel schließlich den Freitod, weil es ihr wie Clara und Lothar im Sandmann an der Fähigkeit mangelt, mentale Zustände anderer Personen zu erkennen, sie zudem falsche Überzeugungen hat und sich schließlich die Kluft zwischen ›zentraler Präferenz‹ und ›Situationsrepräsentation‹ immer weiter intensiviert.
Die Interaktion zwischen den Figuren in den besprochenen Romanen eröffnet Detel zudem die Möglichkeit, danach zu fragen, ob sich die Figuren gegenseitig verstehen, sie also die mentalen Zustände Anderer erkennen oder erklären können (2). Mit anderen Worten, es ist jeweils die Frage nach der Fähigkeit zur sozialen Kognition der Figuren (vgl. 7), die Detel in seinen Interpretationen untersucht. Detel stellt für beide Werke fest, dass das gegenseitige Verstehen an vielen Stellen nicht gegeben ist, und nutzt diese Feststellung zur Erklärung der mentalen Zustände der Figuren bzw. ihres Verhaltens. So stellt er beispielsweise fest, dass Clara nicht erkennt, dass Nathanael keine Macht über seine Angstzustände hat, die bei der Begegnung mit Coppelius auftreten, wie Nathanael selbst in seinem ersten Brief zu erklären versucht (vgl. 89). Er kann sie nicht als kindliche Phantasien beiseiteschieben, auch wenn er dies möchte. Das Nicht-verstanden-werden erklärt, so Detel, Nathanaels Reaktion in seinem zweiten Brief.
Detels Bovary-Interpretation ist zudem insofern komplexer, als er hier auf die »Theorie der affektiven Intentionalität von Gefühlen« zurückgreift (3) (vgl. 133, 192ff.). Dieser Theorie zufolge lassen sich fünf Komponenten eines emotionalen Zustands unterscheiden:
(i) Eine Erlebnisqualität (zum Beispiel wie es ist, Prüfungsangst zu haben); (ii) ein Ziel oder eine Situationsrepräsentation (die Prüfung, vor der man Angst hat); (iii) ein formales Objekt oder eine Situationsbewertung, d. h. die Art der involvierten Bewertung (Bedrohlichkeit bei Angst); (iv) einen Fokus oder eine zentrale Präferenz (Wichtigkeit des Ziels für die fühlende Person, in Abhängigkeit von, oder enger Korrelation mit, Bewertungen); und (v) einen Selbstbezug oder ein begleitendes Gefühl (als was wir uns fühlen: als verletzlich, gefährdet, ausgeliefert…) (133)
Diese fünf Komponenten ermöglichen Detel einerseits eine differenzierte Beschreibung der Gefühlslagen Emmas. Anderseits kann er mit der Theorie erklären, »warum ein bestimmtes Gefühl mit bestimmten Komponenten auftritt« (192), insofern die Komponenten untereinander rational vernetzt sind; »wenn sie in Widerspruch zueinander geraten, versuchen wir Menschen, sie wieder konsistent zu machen« (133). Für Flauberts Roman stellt Detel fest, dass Emmas zentrale Präferenz über die gesamte Handlung hinweg gleichbleibend das mental Erregende ist und dass zwischen ihrer Präferenz und Situtationsrepräsentation (die Wahrnehmung ihrer jeweiligen Lebenssituation) meist eine Inkonsistenz besteht, die Emmas Situationsbewertung erklärt.
Neben dem Erklären der mentalen Zustände und Handlungen von Figur und Autorin, sei es durch eine Figur oder durch Detel selbst, kann ein weiterer wichtiger Schritt in einer geist-theoretischen Interpretation das Beurteilen der Richtigkeit der mentalen Zustände sein (4). An mehreren Stellen macht er darauf aufmerksam, dass einige zentrale Vorstellungen Emmas falsch sind. So setzt Emma beispielsweise
ohne nähere Kenntnisse und Gründe fälschlich voraus, dass das aristokratische Leben von echter romantischer Leidenschaft und Seligkeit durchsetzt ist – eine Voraussetzung, die offensichtlich auf der problematischen Identifizierung des ›Sinnlichen des Luxus mit den Freuden des Herzens‹, der ›Eleganz der Lebensgewohnheiten mit den Feinheiten des Gefühls‹ beruht. (143f.)
Die Falschheit vieler Vorstellungen festzustellen, ist nicht Selbstzweck, sondern gibt Detel ein weiteres exploratorisches Mittel an die Hand, um zu erklären, »warum Emma in so unüberwindbare Probleme gerät – weil sie eben von vielen falschen Vorstellungen beherrscht ist« (144). Zusammenfassend dienen Detel die folgenden Werkzeuge zur geist-theoretischen Interpretation: Die Frage nach der Entwicklung der mentalen Zustände der Figuren (1), die Frage nach der sozialen Kognition (2), das begriffliche Instrumentarium der genutzten Gefühlstheorie (3) sowie der Frage nach der Richtigkeit (4).
2. Kann es lohnend sein, geist-theoretisch auf Literatur zu blicken?
Das Einführen eines neuen interpretatorischen Ansatzes kann innerhalb der Literaturwissenschaft schnell so verstanden werden, als ginge mit dem Akt der Namensgebung der Anspruch auf radikale Neuheit einher. So sollte Detels Redeweise von einem geist-theoretischen Ansatz nicht verstanden werden. Detels Anspruch ist für die Praxis der Interpretation sicherlich nicht, einen neuen ›turn‹ auszurufen. Das Erkennen und Erklären mentaler Zustände und Handlungen ist kein interpretatorisches Ziel, das von Detel erst hätte erfunden werden müssen; das wäre eine absurde Vorstellung. Und auch der Weg dorthin ist auf der Ebene seiner interpretatorischen Handlungen nicht neu. In Interpretationstexten wurden auch schon vor Detel Beurteilungen der Richtigkeit der Figurengedanken vorgenommen sowie die (gegenseitigen) Verstehensleistungen der Figuren identifiziert, wahrscheinlich aber seltener für Erklärungen funktionalisiert. In diesem Sinne lautet eine Antwort auf die in der Absatzüberschrift gestellte Frage, ob es lohnend sein kann, geist-theoretisch auf Literatur zu blicken: ›Tun wir schon!‹. Worin besteht dann der Mehrwert des geist-theoretischen Ansatzes für die Praxis? Wenn es keinen geben sollte, müsste man den Ausdruck ›geist-theoretisches Interpretieren‹ nicht gleich als pleonastisch verwerfen, sondern könnte auf Detels Ausführungen zur Natur der Interpretation und Methodologie verweisen. Man könnte sagen, Detels geist-theoretischer Blick gibt uns ein besseres Selbstverständnis unserer interpretatorischen Praxis – was zu beurteilen wäre –, aber er wirft keinen neuen Blick auf die Literatur selbst. Ich glaube demgegenüber, dass Detel tatsächlich einen neuen Blick auf Literatur anbietet.
Zum einen ist es Detels Wissen über mentale Zustände, das »interessante neue Aspekte« (7) generiert. Dieses Wissen ermöglicht ihm wie im Falle Sapphos bzw. bietet allgemein das Potential, die Texte differenzierter, als bisher in der Forschung geschehen, zu beschreiben. Besonders fruchtbar für zukünftige Interpretationen scheint es, wie Detel in seiner Bovary-Interpretation, verschiedene Komponenten der Gefühle mit der Theorie der affektiven Intentionalität von Gefühlen zu unterscheiden und hierarchisieren zu können, also beispielsweise zu fragen, was die ›zentrale Präferenz‹ ist. Zum anderen besteht der literarische Mehrwert des geist-theoretischen Ansatzes aus praxeologischer Perspektive meiner Meinung nach in der Beschränkung seines Blickfeldes. Das Erkennen und Erklären mentaler Zustände und Handlungen, das Beurteilen ihrer Richtigkeit und Angemessenheit sowie das Identifizieren der Verstehensleistungen der Figuren geschieht nicht en passant, sondern wird systematisch verfolgt. Dies ist der Grund, weshalb Detel in der Tat » interessante neue Aspekte« aufdeckt. So zum Beispiel die Beobachtung, dass Nathanael im ersten Brief selbst eine Erklärung seines Verhaltens gegenüber Coppola gibt und diese von Clara nicht angemessen verstanden wird. Es ließen sich viele weitere Beispiele geben, der Grund ist jedes Mal, dass Detel sehr genau das mentale Leben der Figuren unter die Lupe nimmt.
Schließlich geht mit dem geist-theoretischen Ansatz die Erkenntnis einher – und dies scheint mir der eigentliche Clou aus praxelogischer Perspektive –, dass das systematische Einbeziehen insbesondere der Frage nach den (mangelnden) Verstehensleistungen der Figuren (auf sich selbst oder andere bezogen) für die angestrebten Erklärungen immens wertvoll ist; sowohl in seiner Sandmann- als auch in seiner Bovary-Interpretation kann Detel diese Fragestellung fruchtbar machen. Aus Detels Perspektive sehen wir unser eigenes interpretatorisches Tun in den Handlungen der Figuren gespiegelt (mit dem Zusatz, dass Figuren innerhalb der Textwelt nicht nur das geistige Leben anderer Figuren verstehen wollen, sondern auch ihr eigenes). Detel identifiziert nicht nur die Gedanken der Figuren und versucht Erklärungen zu geben, er identifiziert die Gedanken der Figuren über ihre Gedanken, Gefühle, Stimmungen usw. Das scheint mir die Pointe des Ansatzes, und in Detels systematischer Befragung der metarepräsentationalen Dimension scheint mir tatsächlich etwas Neues für die Interpretation literarischer Werke zu liegen. Man kann darüber streiten, ob das mit der geist-theoretischen Perspektive einhergehende Wissen aus praxeologischer Sicht einen neuen Ansatz konstituiert (wie viele Ansätze gäbe es dann?) und ob in der Beschränkung seines Blickfeldes wirklich etwas Neues liegt. Das systematische Einbeziehen der Interpretationsleistungen der Figuren in die eigene Interpretation scheint mir demgegenüber in der Tat ein neuer lohnender Blick auf Literatur zu sein.
[1] Jan Borkowski, Neue hermeneutische Zugangsweisen zu bekannten literarischen Texten aus geist-theoretischer Sicht, IASLonline (2016), http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=3987 (31.08.2017) [zurück]
[2] Wolfgang Detel, Geist und Verstehen. Historische Grundlagen einer modernen Hermeneutik, Frankfurt a. M. 2011. [zurück]
[3] Wolfgang Detel, Kognition, Parsen und rationale Erklärung. Elemente einer allgemeinen Hermeneutik, Frankfurt a. M. 2014. [zurück]
[4] Hermann Fränkel, Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, München 1962. [zurück]
2017-10-16
JLTonline ISSN 1862-8990
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