Loreen Dalski
Potenziale der Kognitiven Literaturwissenschaft – Einblicke in Arbeitsfelder einer jungen Disziplin
Roman Mikuláš / Sophia Wege (Hg.), Schlüsselkonzepte und Anwendungen der Kognitiven Literaturwissenschaft. Münster: mentis 2016. 262 p. [Preis: EUR 48,00]. ISBN: 978-3-897-461-1.
Obgleich die Kognitive Literaturwissenschaft im deutschsprachigen Raum, anders als im anglo-amerikanischen, immer noch eher stiefmütterlich behandelt wird, nimmt sie zunehmend Fahrt auf. Das zeigt sich auch in dem von Roman Mikuláš und Sophia Wege herausgegebenen Sammelband, der als einer der ersten Forschungsbeiträge in überwiegend deutscher Sprache vereint. Im Folgenden soll das Konzept dieses Projektes zunächst situiert, vorgestellt und diskutiert werden. Drei besonders gelungene Beiträge werden anschließend ausführlicher erörtert, um letztlich aus der Diskrepanz dieser Beiträge zu den anderen Aufsätzen des Bandes zu einem kritischen Resümee zu gelangen.
Der im Rahmen des wissenschaftlichen Projektes Hyperlexicon of Concepts and Categories in Literary Studies an der slowakischen Akademie der Wissenschaften entstandene Band knüpft an den von Martin Huber und Simone Winko herausgegebenen Vorgänger Literatur und Kognition[1] an, der besonders die Legitimierung einer kognitiven Literaturwissenschaft in den Bereichen Theoriebildung, Textanalyse und Interpretation forciert hatte. Nicht zu Unrecht betonen Wege und Mikuláš die Sonderstellung ihres Projektes in der deutschsprachigen Forschungslandschaft: Denn dort liegen bisher kaum Publikationen vor, die thematische Breite und Anwendungsorientierung in vergleichbarer Weise kombinieren. Verwiesen sei aber auf die Monografien von Sophia Wege Wahrnehmung, Wiederholung, Vertikalität[2] und von Marcus Hartner Perspektivische Interaktion im Roman[3]. Unter den titelgebenden Untersuchungsschwerpunkten ›Wahrnehmung‹ und ›Perspektivierung‹ gelingt es beiden, eine Vielzahl kognitionswissenschaftlicher Ansätze verständlich und reflektiert darzustellen, diese zu verbinden und evident auf verschiedenste literarische Texte anzuwenden. Nur bedingt lässt sich selbiges über die Theoriedarstellungen und Textanalyse im Sammelband sagen.
Der anzuzeigende Sammelband will die Frage beantworten, inwiefern und welche kognitionswissenschaftlichen Erkenntnisse für literaturwissenschaftliche Fragestellungen in den Bereichen Text, Leser und Kontext fruchtbar gemacht werden können (vgl. 8). Allerdings schleicht sich einmal mehr die unausgesprochene Grundsatzfrage nach dem ›Ob‹ mit ein, die das anhaltende Legitimierungsbedürfnis kognitionswissenschaftlicher Forschung in der Germanistischen Literaturwissenschaft anzeigt. Es verwundert daher nicht, dass die insgesamt 12 Beiträge von Aufsätzen gerahmt werden, die der Anwendung kognitionsorientierter Theorien und Methoden in der textanalytischen Praxis eher skeptisch bzw. kritisch gegenüberstehen.
Insgesamt eröffnen die einzelnen Beiträge einen guten Einblick in das breite Spektrum kognitionswissenschaftlicher Disziplinen und Ausrichtungen, interdisziplinärer Verbindungen und Schnittstellen sowie fachexterner Theorie- und Methodenanleihen. Vertreten sind Beiträge aus dem Bereich der Kognitiven Narratologie, der Kognitiven Poetik und Kognitiven Stilistik, wobei das dominierende Interesse dem Leser gilt. Die Reihe wird durch Anja Müller-Woods kontextzentrierten Beitrag »Kognitive Verfahren als Reflexionsmittel in der Literaturwissenschaft« eröffnet. Er befasst sich mit kritischen Positionen zur nur vermeintlich homogenen Kognitiven Literaturwissenschaft sowie Irrtümern und Vorbehalten gegen sie und berücksichtigt dabei besonders die Alltagspsychologie. Dabei gelangt die Autorin zu der Erkenntnis, dass kognitionsorientierte Zugänge zwar als Korrektiv literaturwissenschaftlicher Annahmen über literarische Kommunikation, Interpretationsprozesse und Sinnbildung fungieren, jedoch keine neuen oder originellen Interpretationen hervorbringen können (vgl. 14, 25 f.). In zweifacher Hinsicht ist dieser Befund für den Sammelband richtungsweisend. Einerseits ist damit die besondere Relevanz leserzentrierter Forschung für die Kognitive Literaturwissenschaft behauptet, die der Sammelband durchaus bestätigt: Nach Müller-Woods Beitrag folgt ein größerer Block von sieben Aufsätzen, deren Thesen und Erkenntnisinteressen sich ebenfalls primär auf den Rezeptions- und Interpretationsvorgang richten. Andererseits bestätigt sich das Ergebnis Müller-Woods weitgehend in den textanalytischen Theorieerprobungen des Bandes. Einen anderen Schwerpunkt setzen dagegen die vornehmlich textzentrierten Aufsätze von Roman Mikuláš (»Auf der Spur einer Wahrnehmungsästhetik im Rahmen der kognitiven Literaturwissenschaft – Gestaltung von Wahrnehmung bei Peter Handke«) und Eleonore de Felips (»Zur Wahrnehmungsbegabung Georg Trakls«). Den Schluss bilden wieder kontextzentrierte Beiträge wie derjenige von Ralph Müller, der die Kognitive Literaturwissenschaft kritisch auf ihre einzelphilologische Interpretationseignung untersucht, sowie der Aufsatz der Mitherausgeberin Sophia Wege (»Die Kognitive Literaturwissenschaft lässt sich blenden – Anmerkungen zum Emergenz-Begriff der Blending-Theorie«).
Gemäß dem Vorwort besitzt der Sammelband »einführenden Impetus« (8) und will Kenntnisse kognitiver Begriffe, Theorien und Prinzipien bei seinen Leserinnen und Lesern nicht voraussetzen, sondern »ausführlich vorstellen, aber auch kritisch diskutieren« (ebd.). Jedoch erweisen sich viele der Beiträge, wie etwa derjenige Sibylle Mosers (»Intermedialität und synästhethisches Textverstehen«), als höchst voraussetzungsreich, da sie Konzepte wie das ›Ursprungs-Pfad-Ziel-Schema‹, das ›Container-Schema‹ oder das ›Motor-Schema‹ ohne weitere Erläuterung verwenden (vgl. 67 ff.). Eine Erklärung nichtfrequenter kognitionswissenschaftlicher Begriffe und Konzepte, z. B. in Form eines Glossars wie in der bereits angesprochenen Monografie Hartners, würde die Lektüre erheblich erleichtern. Ebenso hilfreich wäre eine stärkere Systematisierung der Aufsätze gewesen, um dem Leser eine Orientierung über inhaltliche Schwerpunkte und Erkenntnisinteressen zu liefern, die sich nicht immer in der Anwendung plausibilisieren. Zwar betonen die Herausgeber, dass in ihrem Band die Theorie das Primat vor der Anwendung hat, jedoch bleiben die Analysebeispiele oft allzu weit hinter der Theorie zurück. Diese Schräglage scheint der Vermutung, dass die Kognitive Literaturwissenschaft »möglicherweise die begriffliche und methodologische Reife einer eigenen Disziplin noch nicht wirklich erreicht [hat]« (8), in die Hände zu spielen. Entsprechend selten gelingt die Verbindung von Theorie und Anwendung. Bisweilen mündet sie in Listen mit literarischen Mitteln und Strategien, die kognitive Effekte bewirken oder kognitive Leserdispositionen widerspiegeln sollen, ohne dass Kausalitäten oder die jeweilige theoretische Basis freigelegt werden. Das gilt etwa für den Beitrag Eleonore De Felips (»Spiegelbilder einer hohen Wahrnehmungsbegabung«) oder für Rüdiger Zymners Beitrag »Lyrik und Zeit«. Im Folgenden sollen drei Aufsätze besonders hervorgehoben werden, welche die Kognitive Literaturwissenschaft mit einem primär leser-, einem primär text- und einem primär kontextorientierten Beitrag sowie klar exponierten Anwendungsmöglichkeiten zu bereichern in der Lage sind.
Der erste hervorzuhebende Beitrag stammt von Roswitha Rust Cesaratto, die erstmalig das von ihr entwickelte Embodiment Narrative Model vorstellt. Es versucht die Kategorie des ›Embodiments‹ sowohl für die Textanalyse als auch für den Rezeptionsvorgang fruchtbar zu machen. Ihre These lautet: »Embodiment is an important link between real readers and narrative texts« (117). Sie wird nicht allein aus dem Theoriemodell abgeleitet, sondern auch durch empirische Erhebungen gestützt. Ähnlich wie weitere Autoren des Bandes wie etwa Müller-Wood, Moser und Mikuláš verweist auch Cesaratto auf die Unerlässlichkeit der Interaktion zwischen Leser und Text für die literarische Sinnbildung und betont dabei insbesondere die körperliche Interaktion als grundlegendes Moment jeglicher literarischen Erfahrung. Der Rezeptionsprozess interessiert dabei nicht etwa als individueller, sondern vielmehr als Akt einer kulturellen Praxis (vgl. 103). In ihr werden universale Embodiment-Effekte und deren Bedingungen aufzuspüren versucht. Überzeugend und erfreulich textnah plausibilisiert sie ihre These in detaillierten Analysen der Figurensensomotorik anhand von Kafkas Die Verwandlung, FontanesEffi Briest und Storms Der Schimmelreiter. Dabei zeigt sie im Detail, welche textuellen Markierungen ein signifikant hohes Maß an Embodiment-Effekten auslösen und inwiefern körperliche Erfahrung nicht nur als Basis jeder kognitiven Interpretationsleistung, sondern als Komplement dieser Leistung fungiert. Indem der Beitrag theoriegeleitete Analyse und empirische Erhebung kombiniert, kommt er zu dem Schluss, dass sich »highly embodied scenes« (112) positiv auf literarisches Verstehen, Empathie, die Fähigkeit zur flexiblen Perspektiveinnahme und die Transferfähigkeit in die Lebenswirklichkeit auswirken (vgl. 112ff.). Lediglich auf das Leseinteresse konnte die empirische Stichprobe keine signifikanten Rückschlüsse ziehen. Rust Cesarattos Beitrag erfüllt zum einen ein kognitiv-literaturwissenschaftliches Forschungsdesiderat, indem er ein Muster zur Analyse von Embodiment liefert, das nicht allein auf der Rezipienten-, sondern auch auf der Textebene anwendbar ist. Zum anderen bietet er über die sehr textnahen Analysen der Sensomotorik theoretische Impulse für materiale Kultur- sowie soziale Praxistheorien und insbesondere Anknüpfungspunkte für eine praxeologische Subjekt- und Sozialforschung in den Literaturwissenschaften.
Der zweite Beitrag ist eine textzentrierte Untersuchung des Mitherausgebers Roman Mikuláš (»Auf der Spur einer Wahrnehmungsästhetik im Rahmen der kognitiven Literaturwissenschaft. Gestaltung von Wahrnehmung bei Peter Handke«), der ein Thema der Kognitionswissenschaft als Gegenstand literarischer Darstellung verhandelt. Der Beitrag will wissen, »wie sinnliche Wahrnehmung literarisch realisiert wird und mit welchen Konsequenzen dies verbunden ist.« (185) Die leitende Annahme lautet, dass die Literatur zur Reflexion und Kommunikation der Vielfalt an Wahrnehmungsphänomenen besonders prädestiniert ist und daher Realität und Wahrnehmung als konstruktiven Akt hervorhebt. Dabei versucht Mikuláš, die dargestellten Wahrnehmungsakte als »Schüssel zu Handkes Poetik« auszuweisen (198). Ausgehend vom Standpunkt des Radikalen Konstruktivismus und insbesondere von der Annahme, dass jegliches Wissen ein Emergenzphänomen unterschiedlicher Wahrnehmungsmodule ist, wird die literarische Darstellung von Wahrnehmungen im Unterschied zur ephemeren, realen Wahrnehmung theoretisch zugänglich und sogar in ihrer Medialität analysierbar (vgl. 187). Nach einer ausgesprochen gründlichen, wenn auch zeitweilig überkomplexen Analyse und Konzeptualisierung des Begriffs ›Wahrnehmung‹ richtet Mikuláš sein Interesse vor allem auf den Zusammenhang zwischen Kommunikation und Wahrnehmung, welchen er bei Handke vor allem als brüchig ausmacht. Demgemäß sehen sich Handkes Figuren permanent herausgefordert, sich der Kohärenz ihrer Wahrnehmung zu versichern und diese mit der Kommunikation in Einklang zu bringen. Die typische Ruhelosigkeit der handkeschen Figuren sieht der Autor als Resultat dieser strapazierenden Bemühungen und die typisch dysfunktionale Sprache als Folge des Mangels an kohärenter Wahrnehmung, die von den Figuren selbst als Unfähigkeit zu ›normaler‹ Kommunikation empfunden wird. Anhand von 17 Werken Handkes, darunter Die Hornissen, Falsche Bewegung, Wunschloses Unglück, Langsame Heimkehr undDie Wiederholung, versucht Mikuláš die These zu belegen, dass die Entwicklung der Sinne stets die Entwicklung anderer kognitiver Fähigkeiten beeinflusst und die Behinderung eines Sinnes den Zugang zu neuen Wahrnehmungsformen ermöglicht (vgl. 197f.). Dies führt zu der wenig aufregenden Schlussfolgerung, dass sich in Handkes Poetik »ungeahnte Beschreibungs- und Darstellungsmöglichkeiten« (198) ergeben, die aus der eingeschränkten, verzerrten oder täuschenden Figurenwahrnehmung resultieren. Dazu heißt es: »Die Besonderheiten der Wahrnehmung werden zum Prinzip der poetischen Gestaltung, die in der poetischen Introspektion in Erscheinung treten. « (198) Der Raum der Introspektion sei für Handkes Figuren ein notwendiges Refugium, da sich weder das Wahrgenommene noch die Vielfalt an Wahrnehmungsarten in adäquate sprachliche Bezeichnungen fassen lasse. Anstelle der Sprache, die nicht mehr als sinnstiftendes Medium empfunden werde, trete die körperliche Kommunikation mittels Mimik und Gestik oder ikonischer Zeichen. Analog zur Embodiment-Forschung betont Mikuláš die Relevanz körperlicher Bewegung für die Möglichkeit von Erkenntnis, die nicht allein in der Wahrnehmungsfähigkeit liegen kann. Hierzu lotet er unterschiedliche Funktionen körperlicher Raum- und Zeiterfahrungen zur Intensivierung und Restrukturierung von Wahrnehmung aus. Anhand von Bewegungspraktiken des Gehens und Wahrnehmungspraktiken der Langsamkeit erläutert der Autor, wie die Figuren habitualisierte Ordnungsmechanismen und routinierte Handlungsschemata dekonstruieren, um »unter neuen Voraussetzungen Neues wahrzunehmen und einen neuen Code zu assimilieren, der nicht wieder nur aus der präpotenten Totalität der Sprache resultiert.« (205) Hinter diesen Bestrebungen stehe das »Bedürfnis nach einer ursprünglichen Wahrnehmung und Kommunikation weitab jeder Alltagsfolklore und jeder Manier.« (206)
Am Beispiel Handkes zeigt Mikuláš überzeugend, inwiefern kognitionswissenschaftliche Fragestellungen und Erkenntnisse als ergiebige Interpretationsfolie dienen können, ohne den literarischen Texten bloße Illustrationsfunktion zuzuschreiben. Vielmehr verdeutlicht seine Interpretation, wie das Wissen über Wahrnehmung und Kommunikation in den Werken Handkes nicht nur freigelegt, sondern auch in Frage gestellt wird, sodass ausgehend von der Literatur Modifikationen kognitionswissenschaftlicher Thesen und Wissensbestände angeregt werden können. Entgegen einem verhärteten Disziplinverständnis, das sich in der klassischen Dichotomie von Körper-Kognitionswissenschaft und Geist-Literaturwissenschaft bewegt, weist er seinen kognitiv-literaturwissenschaftlichen Interpretationszugang nicht als ›kategorial anderen‹ aus, sondern markiert Schnittstellen zu eingeführten Zugangsweisen wie Philosophie, Anthropologie, Kommunikationswissenschaft oder Linguistik.
Ein ähnliches Anliegen verfolgt auch Sophia Weges kontextzentrierter Beitrag (»Die kognitive Literaturwissenschaft lässt sich blenden. Anmerkungen zum Emergenz-Begriff der Blending- Theorie«). Er setzt die Zielsetzungen des Vorworts konsequent um und ist deutlich mehr als nur ein »kritisch-konstruktiver Kommentar« (243), als welchen ihn die Autorin annonciert. Knapp und präzise führt Wege in die Blending-Theorie ein, beschreibt Teilphasen des Blending-Prozesses und erörtert anschaulich die Leistung des Blendings etwa in Form von ›double-scope blends‹ (Hybriden aus unterschiedlichen mentalen Konzepten, z. B. menschlicher Geist und Tierkörper), ohne die Relevanz für die Literaturwissenschaft aus dem Auge zu verlieren. Von klaren Theorieentscheidungen ausgehend entfaltet Wege über die Kritik am Emergenz-Begriff eine Kritik der Blending-Theorie und verweist darüber hinaus auf allgemeine Schwachstellen und Ungereimtheiten in der Kognitiven Literaturwissenschaft.
Dabei moniert Wege unter besonderer Bezugnahme auf Turner und Fauconnier den universalistischen Geltungsanspruch der Blending-Theorie, die Blending als Essenz menschlichen Denkens überhaupt ausweise (vgl. 247 f.) und es damit zum omnipräsenten Produkt kognitiver Aktivität erkläre. »Die Kulturphänomene werden dem Blending-Konzept einverleibt« (249) – was bleibt, ist eine Worthülse, ein »anything goes« (ebd.). Präzise identifiziert Wege das Kernproblem der Theorie in einer mangelnden Reflexion der eigenen Methodik, die keine Kategorien für die Flut vermeintlicher Blending-Phänomene bereitstelle. Gemäß Wege fungiere die Blending-Theorie daher »wie ein Schlüssel ohne Bart, der in jedes Schloss passt, aber analytisch ›greift‹ er nur dann, wenn man sich den Bart aus anderen Theorien leiht.« (250) Nicht etwa die Anleihe wertet Wege als problematisch, sondern vielmehr die mangelnde Reflexion und Transparenz. Diese Kritik betrifft zugleich symptomatische Schwachpunkte der Kognitiven Literaturwissenschaft, auch im vorliegenden Sammelband. Dreh- und Angelpunkt der Kritik Weges bildet der unreflektiert verwendete Begriff der Emergenz, das Herzstück der Blending-Theorie. Wege erkennt hier einen Zirkelschluss, denn sowohl der mentale Raum, in dem emergente Bedeutung generiert wird, als auch die konzeptuellen emergenten Strukturen werden letztlich als ›Blend‹ bezeichnet. Dabei bleibt die Genese des Emergenzbegriffs, aber auch die Abgrenzung gegenüber semantisch ähnlichen Konzepten und nicht zuletzt seine disziplinäre Verortung unbeachtet. Der kritisierten Isolation des Emergenzbegriffs setzt Wege eine Reihe von Anschlussmöglichkeiten entgegen, etwa in Form des philosophischen Diskurses der Imagination und Kreativität, der kognitiven Semantik (z. B. über das Textweltmodell von Schwarz), der kognitionspsychologischen Forschung, der Interferenzbildung bspw. über die Situations-Modell-Theorie von Tapiero oder kognitiv-literaturwissenschaftlicher Konkurrenztheorien wie der Theory of Mind, der konzeptuellen Metapherntheorie oder der Theorie der Embodied Cognition (vgl. 250–254). Aus dieser breiten und differenzierten Analyse ergibt sich, dass die Blending-Theorie einerseits den Emergenzbegriff und andererseits die Bedingungen für das Auftreten von Emergenz spezifizieren muss; andernfalls bleibt sie für die Kognitive Literaturwissenschaft, die Blending überall entdeckt (z. B. im Verhältnis Autor und Werk, Zeit und Raum, Plot und Diskurs oder innerhalb der Gattungsüberschneidung), unbrauchbar (vgl. 256). Unter Hinweis auf Natalia Igls Beitrag »Romantische Rahmen-Binnen-Konstruktionen als ›Mapping‹ von inner- und außertextuellen Räumen« im anzuzeigenden Sammelband gesteht Wege zwar zu, dass eine Kombination aus Blending-Theorie und tradierten literaturwissenschaftlichen Ansätzen – in Igls Fall der Text-World-Theory nach Wert – zweckdienlich sein kann, jedoch hält sie die Blending-Theorie nicht »für eine Wunderwaffe zur Beschreibung literarischer Sinnbildung« (257). Ihre Pointe lautet vielmehr, dass die ausschließliche Arbeit mit dem noch unpräzisen Blend-Begriff überflüssig ist und durch bereits vorhandene, ausgereiftere kognitive Textverstehenstheorien ersetzt werden kann. Bei diesem Befund bleibt Wege allerdings nicht stehen, vielmehr benennt sie konstruktive Fragen zur Spezifizierung eines literaturwissenschaftlichen Emergenz-Begriffs. Damit entwickelt sie implizit erste Kriterien zur begrifflichen Konkretisierung, zu denen bspw. die ästhetische Funktion, die Untersuchungsebene (Plot- oder Rezeptionsaspekte), die Rolle von Kontexten (Epoche oder Gattungen) und die Effekte des Emergenzphänomens gehören. Das Ende von Weges scharfsinnigem Aufsatz skizziert anhand von Impulsfragen, inwiefern Kafkas Verwandlung als »Geschichte einer Emergenz« (257) gelesen und als double-scope blend analysiert werden kann. Ihr eindrucksvoller Fragenkatalog zeigt auf konstruktive Weise sowohl bisher vernachlässigte Fragestellungen als auch unausgeschöpfte Potenziale einer kognitiv-literaturwissenschaftlichen Blending-Theorie auf.
Das Fazit kann sich den Worten der Mitherausgeberin des Sammelbands anschließen: »Für die kognitive Literaturwissenschaft aber gilt in besonderem Maße, dass sie die aus ihren Bezugstheorien rekrutierten Operatoren gelegentlich hinterfragt und modifiziert« (258). Wege bringt damit auf den Punkt, was der Leser vom Sammelband erwarten darf, aber nicht immer geliefert bekommt. Ausgenommen der Beiträge von Cesaratto, Mikuláš und Wege fehlt es dem Sammelband weitgehend an präzisen Instrumentarien und methodischer Reflexion, ohne die viele Analysen oberflächlich und teils auch beliebig bleiben. Offen bleibt auch, mit welchem Interesse die aus einem prototypischen Leseprozess gewonnenen Instrumentarien als Analysewerkzeug eines spezifischen Textes verwendet werden. Da die Analysekriterien aus den Kognitionen des Lesers entwickelt werden und der Text selbst als Produkt von Kognitionen verstanden wird, ist oft nicht eindeutig, worauf sich die Untersuchungen der Autorinnen und Autoren beziehen. Aus diesem Grund bleibt diffus, ob auf Ebene des Textes, des Rezipienten oder gar auf beiden gleichermaßen argumentiert wird.[4] Wünschenswert wäre daher eine Explikation des Verhältnisses zwischen kognitionswissenschaftlicher Theorie und Literatur sowie Kognition und Text. Wer sich allerdings für die Frage interessiert, auf Grund welcher material-struktureller Aspekte Texte als Modelle kognitiver Prozesse verstanden werden können, wird im angezeigten Sammelband vielfach fündig. Auch diejenigen, die sich für die Kombination unterschiedlicher Theorie- und Methodenangebote interessieren, erhalten inspirierende Impulse.
[1] Martin Huber/Simone Winko (Hg.), Literatur und Kognition. Bestandsaufnahmen und Perspektiven eines Arbeitsfeldes, Paderborn 2009. [zurück]
[2] Sophia Wege, Wahrnehmung – Wiederholung – Vertikalität. Zur Theorie und Praxis der Kognitiven Literaturwissenschaft, Bielefeld 2013. [zurück]
[3] Marcus Hartner, Perspektivische Interaktion im Roman. Kognition, Rezeption, Interpretation, Berlin/Boston 2012. [zurück]
[4] Dieses systematische Problem der Kognitiven Literaturwissenschaft erläutert Rüdiger Zymner ausführlicher in: ders., Körper, Geist und Literatur. Perspektiven der ›Kognitiven Literaturwissenschaft‹, in: Martin Huber/Simone Winko (Hg.), Literatur und Kognition. Bestandsaufnahmen und Perspektiven eines Arbeitsfeldes, Paderborn 2009, 135-154. [zurück]
2017-10-17
JLTonline ISSN 1862-8990
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