Friederike v. Criegern
Ist die Darstellung fremden Bewusstseins ein Alleinstellungsmerkmal fiktionaler Texte? Ein diachron narratologischer Beitrag
Frederike Lagoni, Fiktionales versus faktuales Erzählen fremden Bewusstseins. Berlin/Boston: de Gruyter 2016 (= Narratologia 53). 294 S. [Preis: EUR 99,95]. ISBN: 978-3-11-047705-4.
Der von Frederike Lagoni vorgelegte Band zur Narratologie geht mit neuer Methodik der alten Frage nach, ob es textinhärente Unterschiede zwischen fiktionalen und faktualen Texten gibt. Fiktionalität wird von vielen Autoren neben der Poetizität als ein oder gar als das Bestimmungskriterium von Literatur verstanden;[1] die Dissertation Lagonis ist damit letztlich auch ein Beitrag zur Diskussion, ob und wie Texte als literarische Texte zu identifizieren sind. Die Verfasserin fragt dabei nicht, ob Fiktionalität wirklich ein Kriterium für Literatur sei, sondern verfolgt innerhalb dieses größeren theoretischen Kontextes die sehr interessante Forschungsfrage, ob es überprüfbare und kontextunabhängige Merkmale für Fiktionalität in Erzähltexten gibt. Genauer: Sie untersucht ein Korpus von insgesamt zehn Erzähltexten, je fünf deutschsprachige (fiktionale) Entwicklungsromane und (faktuale) Biographien aus zwei Jahrhunderten, in Hinblick auf das im Forschungsstand als Signpost of Fictionality identifizierte Phänomen der Wiedergabe fremden Bewusstseins in heterodiegetischen Erzählungen. Ihre Analyse verfolgt einen empirischen Ansatz aus diachron narratologischer Perspektive.
Aufbau
Die vorliegende Monographie ist in drei große Teile gegliedert. Nach der Einleitung befasst sich Teil I mit dem Forschungsstand und den Methoden: Lagoni führt hier zunächst (Kapitel 2) in den thematischen Hintergrund ein und zeichnet den Signpost of Fictionality-Diskurs seit Käte Hamburger nach. Das Kapitel ist in Thesen und Antithesen gegliedert und beleuchtet detailliert und nachvollziehbar beide Positionen und ihre Argumente. Das 3. Kapitel führt knapp in die disziplinären Grundlagen der diachronen Narratologie ein, einen Ansatz, der »überzeitlichen Wandel von Erzählformen auf diskursiver Ebene betrachtet« (53). Lagoni definiert ihren Ansatz in Abgrenzung zur literaturwissenschaftlichen Interpretation als Beschreibung »mit interpretationstheoretisch-neutrale[r] Bedeutungszuschreibung« (52f.). Fragen nach dem kulturellen und historischen Kontext, möglichem Funktionswandel oder »interpretative [] Fragen zu den Werken« (50) schließt sie aus ihren Analysen explizit aus. Das 4. Kapitel stellt das Korpus und die Kriterien für dessen Zusammenstellung vor und beschreibt knapp das Verfahren der computergestützten Textanalyse und die dafür genutzte Software CATMA. Vor allem aber enthält es mit dem Unterkapitel 4.4. eine detaillierte Einführung in das Analyseinstrumentarium. Dies umfasst die diskursnarratologischen Kategorien, die inhaltsabstrakten Komponenten des Diskurses sowie Naturalisierungsangebote.
Teil II der Arbeit (Kapitel 5) stellt die Ergebnisse der Korpusanalyse dar. Dafür werden zunächst synchron je die einzelnen Paare des Korpus in Hinblick auf Differenzen und Gemeinsamkeiten betrachtet (5.1.), in Kapitel 5.2. werden diese Ergebnisse sodann diachron zusammengeführt.
Im dritten Teil werden zunächst in Kapitel 6 (»Bewertungen und Schlussfolgerungen«) diese Ergebnisse diskutiert und auf die Ausgangsfrage zum Signpost of Fictionality-Diskurs zurückbezogen. In Kapitel 7 werden in Form eines Ausblicks offene Forschungsfragen formuliert. Im umfangreicheren 8. Kapitel, das inhaltlich zu Kapitel 5 mit den ausformulierten Analyse-Ergebnissen gehört, aber zur besseren Lesbarkeit am Ende der Arbeit steht, findet sich die schematische Darstellung aller Ergebnisse in Form von Tabellen und Diagrammen.
Hypothese und Korpus
Die Hypothese, fiktionale und faktuale heterodiegetisch erzählte Texte seien aufgrund des Vorkommens von Darstellungen fremden Bewusstseins auf Diskursebene voneinander zu unterscheiden, gründet auf der Annahme, dass eine solche Darstellung fremden Bewusstseins in faktualen Texten prinzipiell zwar möglich sei, aber aufgrund der »epistemologischen, pragmatischen und konventionellen Restriktionen, die mit dem faktualen Status [] eines Textes einhergehen« (22) von den Autoren dieser Erzählungen vermieden werde. Um die eingangs formulierte Hypothese zu überprüfen, analysiert die Verfasserin vergleichend Erzähltexte beiderlei Status in Hinblick auf das Vorkommen von Darstellungen fremden Bewusstseins. In ihren eigenen Worten geht sie dabei der Frage nach, »ob und wie sich ein diskursiver Unterschied zwischen fiktional-heterodiegetischen und faktual-biographischen Erzählungen manifestiert und wie sich dieser diachron gestaltet.« (53) (Ich verzichte im Folgenden auf Lagonis Zuschreibung ›fiktional-heterodiegetisch‹ vs. ›faktual-biographisch‹ zu den beiden Texttypen und beschränke mich auf das Gegensatzpaar fiktional vs. faktual, da meinem Verständnis nach alle ausgewählten Texte heterodiegetisch und biographisch sind: Wie unten dargelegt, stellt das Vorliegen dieser beiden Merkmale als tertium comparationis ein Auswahlkriterium für das Korpus dar. Die heterodiegetisch erzählten faktualen Texte sind Biographien historischer Personen, die Entwicklungsromane sind ebenfalls heterodiegetisch erzählte Biographien, aber fiktiver Figuren. Der Unterschied zwischen den Textgruppen liegt im Status.)
Das Korpus, das Lagoni zusammengestellt hat, umfasst zehn Texte aus dem 18. bis 20. Jahrhundert. Paarweise gruppiert sind es die folgenden Entwicklungsromane als Beispiele für fiktionale Erzählungen und die zeitgleich entstandenen faktualen Biographien: Johann Wolfgang von Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« [1795/6] und Georg Forster: »Cook der Entdecker« [1787]; Eduard Mörike: »Maler Nolten« [1832] und Karl Falkenstein: »Kosciuszko« [1834]; Gottfried Keller: »Der grüne Heinrich« [1853-55] und Friedrich Meinecke: »Hermann von Boyen« [1896 / 1899]; Thomas Mann: »Der Zauberberg« [1924] und Ernst Kantorowicz: »Kaiser Friedrich der Zweite« [1927]; Sten Nadolny: »Die Entdeckung der Langsamkeit« [1983] und Golo Mann: »Wallenstein« [1971].
Alle Beispieltexte weisen eine heterodiegetische Erzählstimme auf, die vorliegenden Fokalisierungen werden von der Verfasserin nicht bestimmt. Die Vergleichbarkeit der Werk(paar)e sei gegeben, da (faktuale) Biographien wie (fiktionale) Entwicklungsromane »auf chronologisch-realistische Weise die innere und äußere Entwicklung des Protagonisten« erzählten, wobei für die Fragestellung der Arbeit »insbesondere die Darstellung der inneren Entwicklung des jeweiligen Protagonisten und dessen Weltsicht von Bedeutung« seien (57). Zu den Auswahlkriterien gehören neben der heterodiegetischen Erzählweise und der Entwicklung eines Charakters das Datum der ersten Veröffentlichung sowie eine eindeutige Genre- und Statuszugehörigkeit, womit vor allem die eindeutige Rezeption als fiktional respektive faktual gemeint ist. Die Bestimmung der Zugehörigkeit zum jeweiligen Genre und zum dazugehörigen Status wurde ausschließlich anhand text-externer Kriterien vorgenommen.
Alle Texte liegen bereits digitalisiert vor oder wurden von der Verfasserin für ihre Analyse digitalisiert. Grundlage der Analyse sind jeweils Textauszüge von 15.000 Wörtern (je 5.000 vom Beginn, aus der Mitte und vom Schluss jedes Werkes ohne Berücksichtigung inhaltlicher Zusammenhänge); ein »zahlenbasiertes« Auswahlverfahren, das auch »Ausdruck einer bewusst gewählten methodischen Abstinenz gegenüber einer hermeneutisch-ganzheitlich inspirierten Textlektüre« (65) sei.
Der diachron narratologische Ansatz der vorliegenden Analyse berücksichtige ausschließlich die Ebene des discours (vgl. 48). Lagoni bezeichnet ihr Vorgehen als »konservativ-moderat«, da sie »alle kontextuellen, interpretatorischen und transdisziplinären Aspekte des Postklassischen ausklammert und sich stattdessen in klassisch-narratologischer Manier auf die beschreibende Analyse der narrativen Darstellungsebene konzentriert« (48f.), dabei aber diachron perspektiviert. Sie schließt eine Berücksichtigung der jeweiligen historischen (und literaturgeschichtlichen, wäre zu ergänzen) Kontexte aus und möchte auch einem möglichen Funktionswandel der als Analysekategorien eingeführten diskursiven Elemente nicht nachgehen. Letzteres mag im Kontext des hier vorgestellten narratologischen Ansatzes konsequent und folgerichtig sein und in diesem Falle auch nicht zu Verzerrungen der Ergebnisse geführt haben. Grundsätzlich wäre aber zu fragen, ob ein möglicher Funktionswandel der beobachteten Phänomene bei Wahl der diachronen Perspektive nicht zumindest in Betracht gezogen werden sollte.
Das Analyseinstrumentarium, das Lagoni in Kapitel 4 ausführlich vorstellt, deckt drei Bereiche ab: erstens diskursnarratologische Kategorien, zweitens inhaltsabstrakte Komponenten des Diskurses und drittens Naturalisierungsangebote. Für alle Kategorien werden Tags definiert, mit denen die untersuchenden Texte annotiert und so quantitative Abfragen ermöglicht werden. Zum Analyseinstrumentarium des ersten Bereichs dienen v.a. die teilweise abgewandelten Kategorien aus der skalaren Taxonomie der Darstellungsformen fremden Bewusstseins nach Semino/Short Corpus Stylistics. Speech, Writing and Thought Presentation in a Corpus of English Writing (2004) (vgl. 70). Lagoni differenziert für diesen Bereich zwischen Darstellungsformen der Introspektion, der Perzeption sowie Rede- und Schriftwiedergabe. Zu den Darstellungsformen der Introspektionen gehören bspw. der ›Bewusstseinsbericht‹, ›Narrator’s Report of Thought‹, ›Indirect Thought‹ oder ›Free Indirect Thought‹; neu von Lagoni eingeführt wird hier die Kategorie ›Erlebtes Erzählen‹. Zu den Darstellungsformen der Perzeption zählen ›Report about a Perception‹ und ›Free Indirect Perception‹. Portmanteau Tags vereinen verschiedene Tags und markieren ambige oder nur unzureichend durch die o.g. Kategorien darstellbare Phänomene. In den ersten Analysebereich gehören außerdem ›Embedded Thought Presentations‹ und ›Hypothetical Thought Presentations‹ (›e/h-Spezifizierung‹).
Der zweite Bereich sucht inhaltsabstrakt die Bewusstseinsinhalte abzubilden, auch wenn dies ein eher diffuses Beobachtungsfeld sei. Unter die inhaltsabstrakten Komponenten des Diskurses fasst Lagoni die Kategorienpaare ›latenter Bewusstseinszustand vs. mentales Ereignis‹, ›Bewusstes vs. Unbewusstes‹, ›Einzelbewusstsein vs. Gruppenbewusstsein‹, ›Psychoanalogie vs. Metaphorik‹ sowie ›Intention‹.
Die Kategorien des dritten Bereichs »Naturalisierungsangebote« (89ff.) wurden von der Verfasserin induktiv aus dem Analysebefund ermittelt. Naturalisierungsangebote sind ihrer Definition nach Diskurelemente, »die in der Lage sind, die der Darstellung fremden Bewusstseins generell inhärente epistemologische Problematik abzumildern« (90). Hierunter fallen zum einen Legitimationsstrategien und zum anderen Plausibilisierungsmöglichkeiten. Legitimationsstrategien sind dabei verstanden als vom Erzähler intendierte Rechtfertigungsstrategien für die Möglichkeit, fremdes Bewusstsein zu kennen und darzustellen; Plausibilisierungsmöglichkeiten finden sich dagegen nicht auf der Diskursebene, sondern sie sind ein »im Inhalt angelegtes Angebot, die Darstellung fremden Bewusstseins durch entsprechendes Weltwissen zu naturalisieren« (93).
Genau zwischen den einzelnen Phänomenen differenzierend und mit Beispielen für jede Kategorie versehen, lässt sich der umfangreiche Überblick über das Analyseinstrumentarium in Kapitel 4.4 auch fast als eigenständiges Kompendium zu Formen der Wiedergabe von Bewusstsein in Erzähltexten lesen. Auch die Einführung des dritten Beobachtungsbereiches (Naturalisierungsangebote) überzeugt, vor allem wenn die hier zu erzielenden Ergebnisse zusammen mit denen des ersten Bereichs gelesen werden.
Diskussion und Ergebnisse
In Teil II, Kapitel 5, werden die Ergebnisse der Korpusanalyse vorgestellt. Zuerst werden dabei alle oben etablierten Analysekategorien Bereich für Bereich synchron auf je ein Werkpaar angewendet. Die Frage, ob und in welcher Form Darstellungen fremden Bewusstseins vorliegen, wird also für jede Zeitstufe einzeln beantwortet. Die Beobachtungen gliedern sich dabei jeweils in die Frage nach den identifizierten Kategorien (also qualitative Faktoren), nach der Frequenz dieser Vorkommen und nach deren in Anzahl der Wörter pro Textstelle angegebenem Umfang (also je quantitative Faktoren). Daraus sei abzulesen, ob und in welchem Umfang sich Differenzen zwischen den fiktionalen und faktualen Texten einer Zeitstufe zeigten. Am Ende jedes Unterkapitels zu einem Textpaar finden sich ausgewählte Beispiele für aufgefundene Phänomene verschiedener Kategorien, die aber – wie angekündigt – nicht interpretiert werden. Anschließend werden alle Ergebnisse der synchronen Analysen diachron zusammengeführt, um so historische Tendenzen und überzeitliche Konstanten zu identifizieren bzw. transparent zu machen (vgl. 111).
Auf eine Wiedergabe der einzelnen Ergebnisse für jedes Werkpaar soll hier verzichtet werden. Zum Teil ist aus der Fülle der Details aus den drei Analysekategorien nicht mehr (oder nicht ohne Zuhilfenahme der Diagramme des III. Teils) ersichtlich, welcher der Texte eines jeweiligen Paares mehr fremdes Bewusstsein repräsentiert. Auch die Gewichtung der qualitativen und quantitativen Faktoren erschließt sich kaum. Beispielhaft sei das am ersten Paar Goethe / Forster dargestellt. Im Gesamtergebnis seien »Wilhelm Meisters Lehrjahre« und »Cook der Entdecker« einander in der Darstellung fremden Bewusstseins qualitativ ähnlich, quantitativ unterscheiden sie sich aber voneinander. Beide Texte zeigten als am häufigsten aufgefundene Kategorie des ersten Analysebereichs den Bewusstseinsbericht, der Text Goethes habe hier allerdings mehr einzelne Textstellen, während der Umfang aller Stellen mit Bewusstseinsbericht bei Forster größer sei. Aus dem Befund, dass Forsters Bewusstseinsberichte im Schnitt sechs Wörter länger seien als die Bewusstseinsberichte bei Goethe, schließt Lagoni, dass »er auch mehr Inhalt wiedergibt« (112). Eine solche Schlussfolgerung scheint mir ohne Betrachtung der Inhalte problematisch – mehr Wörter bei weniger Einzelstellen können ebenso gut auf umständliche Formulierungen, Füllwörter oder Abschweifungen hindeuten. Ein rein auszählendes Verfahren scheint den hier vorgenommenen Rückschluss auf die Inhaltsebene eigentlich nicht zuzulassen. In Bezug auf die inhaltsabstrakten Komponenten habe Goethe mehr Darstellung des Bewusstseins von Charakteren, Forster dagegen vornehmlich verallgemeinernde Aussagen über Bewusstseinsinhalte (vgl. 115). Bei Naturalisierungsangeboten überwiege bei Goethe die eingebettete Darstellung, bei Forster die Konjektur. Ich verzichte hier auf die Wiedergabe der nachgeordneten Trefferzahlen, die Lagoni in allen Analysebereichen bis in den einstelligen Bereich abbildet. Es ist dabei fraglich, wie statistisch bedeutsam die erhobenen Daten sind und wie groß der Erkenntnisgewinn ist, wenn bspw. als Ergebnis festzuhalten ist, dass ein Text bei einem Aspekt mehr Treffer habe als der andere, das Verhältnis aber 159:131 sei (›Plausibilisie rungsmöglichkeiten‹ bei Forster : Goethe). Wie aussagekräftig sind Unterschiede dieser Größenordnung, zumal wenn die geringere Zahl der Treffer zugleich »die qualitativ gewichtigeren, da expliziten« (117) repräsentiere?
Bei den folgenden Paaren, v.a. bei Mörike/Falkenstein, verstärkt sich die Schwierigkeit, bei der Fülle an Belegen für die zahlreichen Einzelkategorien ein Gesamtbild zu erkennen. Dies gelingt noch am besten anhand der Ergebnisse aus der diachronen Zusammenführung in Kapitel 5.2: Hier wird je eine Analysekategorie über den gesamten Untersuchungszeitraum betrachtet, um »herauszufinden, ob sich überzeitliche Konstanten in der Darstellung fremden Bewusstseins ausfindig machen lassen oder ob es Hinweise auf einen historischen Wandel bzw. eine diachrone Entwicklung gibt« (149). Hierbei soll auch festgestellt werden, ob ggf. identifizierte spezifische Strukturen vom Status der Texte abhängig sind.
Als allgemeines und in Hinblick auf die Ausgangsfrage wichtiges Ergebnis ist festzuhalten, dass alle Texte des Korpus, unabhängig davon, ob sie fiktional oder faktual sind, grundsätzlich fremdes Bewusstsein darstellen. Dabei entfalle der weitaus größte Teil von Bewusstseinsdarstellungen auf den Bewusstseinsbericht. Dieser nehme innerhalb der Darstellung fremden Bewusstseins bei allen Texten etwa je 20-30% ein, mit einer Tendenz zu prozentual niedrigeren Anteilen in jüngeren Texten. Eine Ausnahme bilde das letzte Textpaar des Korpus. Hier weichen die Befunde in beide Richtungen stark von den bisher ermittelten Werten ab, der fiktionale Text (Nadolny) weise 50% solcher Darstellungen auf, während der faktuale (G. Mann) mit nur 12% den insgesamt niedrigsten Wert habe. Der Vergleich der Textpaare untereinander zeige, dass dort beim ältesten und jüngsten Paar jeweils die faktualen Beispiele weniger Darstellungen fremden Bewusstseins aufweisen als die fiktionalen, während es bei den drei Paaren der mittleren Zeitstufen umgekehrt sei. Der Trend sei also nicht eindeutig. In Bezug auf die Qualität sei durchgehend der Bewusstseinsbericht Mittel der Wahl, was, wie auch die weitere anteilige Verteilung der Kategorien, als überzeitliche Konstante beurteilt wird. Die Niederschrift aller Einzelergebnisse in diesen Kapiteln entspricht dabei sicher der Sorgfaltspflicht der Verfasserin auch im Sinne des von ihr gewählten »zahlenbasierten« Verfahrens. Ob aber tatsächlich »eine Differenzierung zwischen dem fiktionalen und faktualen Bereich auszumachen« (156) ist, wenn dieser Unterschied sich erst im Vergleich der dritt- respektive vierthäufigsten Verwendung einzelner Darstellungsformen bei einem Textpaar manifestiert, müsste ggf. über die Stichproben hinaus überprüft werden.
Für die Verwendung der verschiedenen Darstellungsformen gelte also, dass diese vorwiegend überzeitlich konstant und zudem statusübergreifend sei (vgl. ebd.). Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gebe es Veränderungen, die Lagoni als »Hinweise auf eine mögliche Trendwende« (ebd.) deuten möchte. Um die bei einem einzigen Paar abweichenden Befunde als »Trendwende« zu werten, müssten aber m.E. wie von Lagoni selbst im Ausblick formuliert mehr, vor allem aber noch jüngere Text(paar)e analysiert werden. Nur so kann überprüft werden, ob sich hier ein vermeintlicher Trend fortsetzt oder ob es sich um einzeltextbedingte Ausreißer und/oder (dann doch) literaturgeschichtlich zu erklärende Befunde handelt.
Während die Verfasserin im zweiten Analysebereich (inhaltsabstrakte Komponenten) diachron keine relevanten Veränderungen feststellen kann, ist im dritten Analysebereich (Naturalisierungsangebote) der wesentliche Unterschied zwischen faktualen und fiktionalen Texten bei der Verwendung von Quellenangaben zu beobachten, die nur in den jüngeren faktualen Beispielen vorkommen. Überzeitlich gesehen werden, so Lagoni, Legitimationsstrategien »im faktualen Bereich verhältnismäßig häufiger eingesetzt als im fiktionalen« (164). In den fiktionalen Texten betrieben die Erzähler dagegen »keinen besonders großen Aufwand« (ebd.) zur Legitimierung des dargestellten Bewusstseins.
Die Ziele quantitativer Verfahren können allgemein wie folgt gefasst werden: Erstens als Beschreibung der Daten mit Hilfe der deskriptiven Statistik, darauf aufbauendes zweites Ziel ist das Erklären der vorliegenden Daten z.B. durch das Formulieren von Hypothesen, um drittens Vorhersagen über zukünftige Daten zu machen. Lagoni schließt für ihren Ansatz die Schritte zwei und drei aus, ihre Arbeit ist deskriptiv und bereitet das Datenmaterial so akkurat wie möglich auf. Im 6. Kapitel (»Bewertung und Schlussfolgerung«) geht sie aber über die rein deskriptive und »zahlenbasierte« Ebene der Beobachtung hinaus. Als Frage formuliert Lagoni hier bspw. die Hypothese, die Naturalisierungsangebote, für die in den faktualen Texten mehr Belege zu finden sind, könnten »auf eine Sensibilität für diese epistemologische Problematik« (170) hindeuten. In dieser Hinsicht deutet die Verfasserin die vom übrigen Korpus abweichenden Befunde des letzten Doppels, wo sich »der Erzähler des fiktionalen Pendants offenkundig dem Inneren seiner Figuren« zuwende (ebd.), während der faktuale Text hier zurückhaltend sei. Dafür spräche auch die deutliche Bevorzugung des Bewusstseinsberichts gegenüber Formen wie ›Free Indirect Thought‹ oder ›Direct Thought‹ in faktualen Texten. Die Ausgangsthese des Signpost of Fictionality-Diskurses formuliert Lagoni in diesem Sinne und auf Grundlage ihrer Daten um: Die ›Free Indirect Thought‹ sei damit, Semino/Short Corpus Stylistics. Speech, Writing and Thought Presentation in a Corpus of English Writing (2004: 123) folgend, in der Tat in erster Linie, wenn auch nicht ausschließlich, ein Phänomen fiktionaler Texte (vgl. 172). Das erhöhte Vorkommen von Legitimationsstrategien (dritter Analysebereich) im Zusammenhang mit der durchaus vorhandenen Darstellung fremden Bewusstseins dagegen könnte also, wäre ggf. zu ergänzen, als gradueller Marker für faktuale Texte verstanden werden.
In Bezug auf diesen dritten Analysebereich wäre allerdings zu fragen, in welcher Form bei dessen Auswertung die Zahlen des ersten Bereichs berücksichtigt wurden, hängt doch die Möglichkeit, überhaupt Darstellungen fremden Bewusstseins zu legitimieren, auch von dem absoluten Vorkommen dieser Darstellungen ab. So weisen Lagoni zufolge »drei der fünf Biographien ca. 70 bis 100 Darstellungen fremden Bewusstseins mehr auf als ihr jeweiliges fiktionales Pendant« (169): Das macht mehr Legitimationen in dieser Textgruppe nicht nur möglich, sondern geradezu erwartbar und als Deutung ebenso plausibel wie der von der Verfasserin genannte mögliche gattungsspezifische Druck, bei faktualem Schreiben zur Wahrung des Status stärker legitimieren zu müssen als in fiktionalen Texten.
Im zweiten Analysebereich unterscheiden sich die Befunde für beide Textgruppen nur darin, dass in den fiktionalen Texten mehr mentale Ereignisse als latente Bewusstseinszustände dargestellt werden, in den faktualen Texten sei das Verhältnis umgekehrt. Die Verfasserin führt diesen Unterschied nicht auf den Status der einzelnen Textgruppen zurück, sondern hält ihn für genrespezifisch (vgl. 174). Wie eine solche Entscheidung allein aufgrund der Fallzahlen, also ohne Berücksichtigung der Gesamttexte und der sich in ihnen und kontextuell manifestierenden Gattungskonventionen getroffen werden kann, wird nicht deutlich.
Insgesamt hält die Verfasserin den Befund der fiktionalen Texte für erwartbar, den der faktualen aber für erklärungsbedürftig. Sie führt als Hypothesen für die nicht geringere Darstellung fremden Bewusstseins in den faktualen Texten »rezeptionsästhetische und genrespezifische Gründe« (181) an, so beispielsweise Leserinteresse am Innenleben der Figuren, die Biographie als Zwitterform zwischen Historiographie und Belletristik (was bspw. zugunsten der Lesbarkeit formale Quellenangaben verhindere) und schließlich auch die Darstellung fremden Bewusstseins als (paradoxen) Hinweis auf das Expertentum des Biographen. Dass zwischen den Textgruppen überhaupt ein Unterschied in den Darstellungen fremden Bewusstseins auszumachen war, wertet Lagoni als Hinweis auf »faktualitätsspezifische Konventionen […], die sich von denen des Entwicklungsromans unterscheiden. Diese Konventionen markieren die Grenze zum fiktional-heterodiegetischen Bereich« (183). Hier läge kein idealtypischer Antagonismus vor, aber eine graduelle Differenz. Für die Erkennbarkeit des (faktualen) Status von Biographien führt die Verfasserin schließlich deren Para- und Kontexte an. Diese »leisten demnach entscheidenden Vorschub für die Glaubwürdigkeit des faktualen Status und gewährleisten, dass dieser durch Darstellungen fremden Bewusstseins, wenn sie sich in den aufgezeigten Grenzen bewegen, nicht in Frage gestellt wird« (184). Entscheidend sei dabei nicht tatsächlich objektivierbares Wissen um das Innenleben der (historischen) Person, sondern die »Möglichkeit der Naturalisierung durch den Rezipienten« (ebd.). Die vermeintlichen Fiktionalitätsmarker könnten demzufolge bei ausreichenden Naturalisierungsangeboten dann auch in diesen faktualen Texten Verwendung finden. Als rein textinhärentes Merkmal für Fiktionalität scheinen sie dann aber nicht oder nur in der oben modifizierten Form zu funktionieren. Ich halte die hier erfolgte Definition von Faktualität über die Para- und Kontexte zwar für lösungsorientiert und durchaus sinnvoll, sie widerspricht m.E. aber dem Ansatz, interpretationsabstinent und rein auf der Textoberfläche Hinweise für den Status des Textes zu identifizieren.
In ihrem Schlusswort bemerkt die Verfasserin noch einmal, dass ihr Korpus nicht besonders umfangreich sei, weshalb keine allgemeingültigen Aussagen, wohl aber Tendenzen zu formulieren seien. Auf Grundlage ihrer Daten könne demnach die Darstellung fremden Bewusstseins an sich nicht mehr »grundsätzlich der Gruppe der ›Signposts‹ zugerechnet werden […], die Art und Weise ihres Einsatzes in einer Erzählung [ist] aber durchaus als ›Signpost‹ und damit als Hinweis auf eine bestimmte Erzählform anzusehen« (186). Lagoni geht also weiterhin von einem (identifizierbaren) Unterschied zwischen fiktionalen und faktualen heterodiegetischen Erzählungen aus, modifiziert die Ausgangshypothese aber im Sinne einer nur graduellen (und mithin relationalen) Bestimmbarkeit dieser Marker.
Die von der Verfasserin betonte und nachvollziehbare Aufwendigkeit des Analyseverfahrens scheint in diesem Sinne leider in einem gewissen Widerspruch zu der von ihr selbst konstatierten bedingten Aussagekraft der Ergebnisse zu stehen, so seien »allein Tendenzen für ein Teilgebiet aller Erzählformen« (194) zu verzeichnen, die Differenzen seien »nur relational« (ebd.) zu erkennen und aufgrund der Größe des Korpus hätten die Ergebnisse vorwiegend exemplarischen Charakter. Die von ihr und im Anschluss auch von mir formulierten weiteren Forschungsfragen sind darum ausdrücklich nicht als offen gebliebene Anforderungen an diese Arbeit zu verstehen, sondern als Möglichkeiten, die hier gelegten Grundlagen sinnvoll zu vertiefen und zu erweitern:
In Bezug auf »Faktualitätsspezifika« (196) legt Lagoni einen Perspektivwechsel nahe. Diese müssten im Signpost of Fictionality-Diskurs stärker berücksichtigt werden. Als Beispiele für Faktualitätssignale nennt sie die Darstellung verschlossenen Bewusstseins und Naturalisierungsangebote. Diese und ggf. andere Faktualitätsspezifika stellten ein Forschungsdesideratum dar. In einem umgekehrten Verhältnis von faktualem zu fiktionalem Erzählen wären auch Authentizitätsstrategien zu untersuchen. Dies scheint mir sowohl als eigenständiges Forschungsfeld als auch zur genaueren Konturierung des vorgelegten Beitrags innerhalb des Fiktionalitäts-Diskurses interessant zu sein. Als weiterführende Forschungsfragen nennt die Verfasserin außerdem eine Vergrößerung des eigenen Korpus über den Status von Stichproben hinaus, außerdem könnte auch mündliches faktuales und fiktionales Erzählen auf Fiktionalitäts-/Faktualitätssignale hin untersucht werden. Schließlich regt sie eine Überprüfung ihrer Annahmen in anderen Medien und in anderen Kulturkreisen an.
Die Verfasserin hat die sich selbst gestellte Aufgabe sicher erfüllt; mit ihren Schlussfolgerungen und Deutungen der Befunde geht sie auch etwas über das selbstgesteckte Ziel der präzisen Abbildung von Darstellung fremden Bewusstseins in vergleichbaren fiktionalen und faktualen Erzähltexten hinaus. Gerade diese Thesen machen aber meines Erachtens deutlich, dass auch die dezidiert ausgeschlossene ›traditionelle‹ Interpretation der jeweiligen Texte im Sinne der Fragestellung erhellend für die von ihr aufgezeigten Verhältnisse sein und Zusammenhänge anders darstellen könnte. Will man gerade in diachroner Perspektive Veränderungen nicht nur konstatieren, sondern auch deuten, scheint mir doch der interpretatorische Blick auf die Einzeltexte und auf ihre literaturhistorischen Kontexte nötig.
[1] Vgl. Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin 2001, 314ff. [zurück]
2017-11-29
JLTonline ISSN 1862-8990
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