Uwe Spörl

Interpretationskulturen im (asymmetrischen) Dialog

Marie Lessing/Maike Löhden/Almuth Meissner/Dorothee Wieser (Hg.), Interpretationskulturen. Literaturdidaktik und Literaturwissenschaft im Dialog über Theorie und Praxis des Interpretierens. Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang Edition 2015 (Beiträge zur Literatur- und Mediendidaktik 27). 337 S. [Preis: 59,95 EUR]. ISBN: 978-3-631-65351-7.

Der hier anzuzeigende Band geht auf eine von den Herausgeberinnen initiierte Tagung zurück, die unter dem Titel, den auch der Band trägt, im April 2014 in Berlin stattgefunden hat. Die Initiative, Literaturdidaktik und Literaturwissenschaft in einen Dialog zu bringen über ihr gemeinsames »Kerngeschäft« (7), das Interpretieren literarischer Texte nämlich, ist mehr als begrüßenswert. Denn tatsächlich stellt ein solcher Dialog ein Desiderat dar, sowohl für die wissenschaftlichen Teildisziplinen Literaturwissenschaft und Fachdidaktik im Fach Germanistik als auch für die Ausbildung künftiger Deutschlehrerinnen und -lehrer in den entsprechenden Studiengängen. So lange nämlich dieser Dialog nicht geführt wird, sind Studierende des Faches Deutsch (Lehramt) gezwungen, die jeweils unterschiedlichen Vorstellungen von Interpretation, mit denen sie in der Fachdidaktik einerseits und in der Literaturwissenschaft andererseits bekannt gemacht werden, selbst miteinander in Einklang zu bringen – keine ganz leichte Aufgabe angesichts der erkennbaren Unterschiede in den Konzeptionen von Interpretation und Interpretieren zwischen den Teildisziplinen, aber durchaus auch innerhalb dieser. Diese Heterogenität wiederum ist auch erklärbar durch die sehr unterschiedlichen praktischen Zusammenhänge, in denen sich die jeweiligen ›Interpretationskulturen‹ ausgebildet haben, die literaturwissenschaftliche in einer auf Innovation und Forschung ausgerichteten akademischen Umgebung, die literaturdidaktische in ihrer Ausrichtung auf den Schulunterricht und seine Normierungen. Insofern ist die Entscheidung der Initiatorinnen und Herausgeberinnen, insbesondere die Interpretationspraxen dieser ›Interpretationskulturen‹ zum Gegenstand der (somit ›praxeologischen‹) Untersuchungen und zum Ausgangspunkt des Dialogs zu machen, gut begründet.

Der Band ist in vier Abschnitte untergliedert: Der zweite, »Zur Einführung« (37) überschriebene enthält zwei Beiträge von zwei der Herausgeberinnen (Dorothee Wieser und Marie Lessing-Sattari), die jeweils beide ›Interpretationskulturen‹ in den Blick nehmen und ins Verhältnis zueinander setzen. Der dritte versammelt vier »Literaturwissenschaftliche Perspektiven auf Interpretationskulturen« (91) (von Tom Kindt, Marcus Willand, Claudius Sittig und Ralf Klausnitzer), der vierte entsprechend sechs »Literaturdidaktische Perspektiven« (183) (von Irene Pieper, Volker Frederking u.a., Kaspar H. Spinner, Maike Löhden, Almuth Meissner und Thomas Zabka). Der erste Abschnitt enthält einen einzigen Beitrag der Didaktikerin Juliane Köster, die hier die »Tagung aus literaturdidaktischer Beobachterperspektive« (11) noch einmal reflektiert. Die Entscheidung der Herausgeberinnen, diese summierend-reflektierende ›Perspektive‹ als Auftaktbeitrag zu präsentieren, ist durchaus nachvollziehbar. Da er jedoch tatsächlich eine Rückschau auf die den Einzelbeiträgen des Bandes zugrundeliegenden Tagungsreferate bietet (und somit durchaus das Geschäft des Rezensenten schon übernimmt), hätte er sicherlich gut auch den Band beschließen können.

Die Rückschau von Köster erfolgt freilich explizit aus der didaktischen Perspektive, und so trifft es sich gut, dass der Rezensent dem Lager des anderen Dialogpartners angehört und Literaturwissenschaftler ist. Ich werde mich im Folgenden also auf den inner- oder interdisziplinären Dialog, den der Band präsentiert, als Ganzen konzentrieren, da ich für die literaturdidaktischen Folgerungen besten Gewissens auf die Ausführungen Kösters (vgl. 11–35) verweisen kann.

Damit komme ich aber schon zu den im Titel dieser Rezension angedeuteten Asymmetrien: Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik verhalten sich zum Interpretieren von Literatur selbst schon recht unterschiedlich – und das wird hier, etwa von Köster (vgl. 13), durchaus thematisiert. Interpretieren ist für Literaturwissenschaftlerinnen eine typische (wenngleich mitunter nicht sonderlich hoch geschätzte) eigene Praxis, während für die Literaturdidaktiker das schulische Interpretieren ein typischer Untersuchungsgegenstand ist, auf dessen künftige Konturierung sie wiederum, etwa in lehrerbildenden Studiengängen oder über die (Mit-)Gestaltung von Lehrbüchern, Einfluss nehmen.

Die zweite Asymmetrie betrifft die Initiative zum Dialog: Sie ging von der Didaktik aus und das scheint mir für das aktuelle Verhältnis zwischen den beiden Teildisziplinen durchaus bezeichnend zu sein. Denn damit deutet sich an, dass es der Didaktik bewusst ist, auf die Literaturwissenschaft zumindest als Dialogpartner angewiesen zu sein, während die Literaturwissenschaft von sich aus wohl eher annimmt, ohne die Didaktik auskommen zu können – was etwa vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die meisten germanistischen Institute in der akademischen Lehre auch und oft zumeist Deutschlehrerinnen und -lehrer ausbilden, eine Fehleinschätzung sein dürfte.

Umso bemerkenswerter ist die dritte Asymmetrie, die als erste ein Desiderat des Bandes und seiner Anlage ist: Dieser fragt – Köster hebt dies hervor (vgl. 11) – insbesondere nach dem Nutzen der literaturwissenschaftlichen Beiträge für die Literaturdidaktik; er fragt aber nicht nach dem Nutzen der literaturdidaktischen Expertise für die Literaturwissenschaft und ihr Verständnis von Interpretation, etwa unter einer gemeinsamen Perspektive der Vermittlung von Literatur.

Auch die vierte Asymmetrie, auf die ich hinweisen möchte, könnte als Desiderat des Bandes angesehen werden; ganz sicher ist sie ein Desiderat in der Zusammenarbeit zwischen Literaturwissenschaft und Fachdidaktik an den Hochschulen: Denn selbst wenn die beiden Teildisziplinen nunmehr in einen gemeinsamen Dialog eintreten und dieser fruchtbar für mindestens eine der beiden Seiten wird – und das anzunehmen, befördert dieser Band sehr eindrücklich –, so muss er sich doch auch, soll er für künftige Lehrerinnen und Lehrer gewinnbringend werden, in den lehrerbildenden Studiencurricula niederschlagen. Überlegungen dazu fehlen hier allerdings völlig.

Eine letzte Asymmetrie bleibt noch anzusprechen – und auch sie ist vor allem ein Desiderat, freilich keines, das den Herausgeberinnen und ihrer Initiative anzulasten ist: Diese konzentriert sich nämlich auf die germanistische Literaturwissenschaft und das Unterrichtsfach Deutsch, somit im deutschen Sprachraum auf die Muttersprache und ihre Philologie. Das Verhältnis der betreffenden beiden Teildisziplinen zueinander und zum Interpretieren in den Fremdsprachenphilologien und in Unterrichtsfächern wie Englisch oder Französisch dürfte sich jedoch wiederum etwas anders darstellen (etwa weil der Erwerb der Fremdsprache dort Vorrang hat), so dass zu hoffen ist, dass der Dialog künftig auch auf die anderen Philologien ausgeweitet werden kann.

Die einzelnen Beiträge des Bandes sind allesamt lesenswert, auch wenn einige der didaktischen Untersuchungen (zu Lehrwerken und ihrem Einsatz im Schulunterricht etwa) für (den Rezensenten als) Literaturwissenschaftler vielleicht doch nur mittelbare Relevanz haben. Gerade diese Ausführungen, deren Tenor mitunter eine gewisse Ernüchterung angesichts der schulischen Realitäten ist, machen freilich dem Außenstehenden eindrücklich klar, dass die schulische Interpretationspraxis ganz anderen Regeln, Normen und Begrenzungen unterliegt als die akademische, in der schulministerielle Vorgaben, entkontextualisierende Textausgaben oder Lernzieldefinitionen zum Glück keine Rolle spielen. Sie bestätigen zudem den praxeologischen Grundansatz des Bandes.

Dennoch kann ich an dieser Stelle die Beiträge des Bandes nicht alle besprechen und würdigen. Stattdessen will ich noch einige der jeweils angesprochenen Argumente und Beobachtungen hervorheben, die mir für die Fortsetzung des Dialogs (und auch für die Literaturwissenschaft) bedeutsam zu sein scheinen:

Köster resümiert, dass es »auf literaturwissenschaftlicher Seite [...] ein stärkeres Bewusstsein für die Schwierigkeit bestimmter Operationen und Prozeduren [des Interpretierens] zu geben [scheint] als auf der Seite der schulischen Praxis und der z.T. verantwortlichen Bildungsadministration.« (28) Alle vier Beiträge von Literaturwissenschaftlern belegen das: Tom Kindt plädiert und argumentiert in »Deskription und Interpretation. Handlungstheoretische und praxeologische Reflexionen zu einer grundlegenden Unterscheidung« (93–112) für diese Unterscheidung in klassifizierende und auf Terminologie ausgerichtete Textbeschreibung einerseits und als Erklärung modellierbare Textinterpretation andererseits, so dass beide ›Operationen‹ (auch in der Schule) unabhängig voneinander vermittelt werden können, in der Praxis aber natürlich aufeinander zu beziehen sind. Marcus Willand stellt in »Theoriereflexion als Forschungsdesiderat: Versuch einer Systematik von Lesertheorien« (113–136) eine solche, auf den Ebenen der Ontologie, der Funktionalität und der Epistemologie Unterschiede ansetzende Systematik von Lesertheorien und Lesermodellen vor, die es erlaubt, Interpretationspraxen daraufhin analysierbar zu machen. Claudius Sittig kann in seinem Aufsatz »Interpretationen, wie sie im Lehrbuch stehen. Zum Stellenwert von literaturwissenschaftlichen Modellinterpretationen in der Lehr- und Fachkultur der Germanistik« (136–150) zeigen, dass solchen Modellinterpretationen eine doppelte Rolle zukommt, zum einen als Einführung in den »Denkstil« (141) einer Praxisgemeinschaft, zum anderen als Ort der innerfachlichen Auseinandersetzung um interpretationstheoretische Fragen. Ralf Klausnitzer schließlich untersucht in »Wie lernt man, was geht? Konstitutive und regulative Regeln in Interpretationsgemeinschaften« (151–181) praxeologisch diese Regelsets, deren konstitutive Regeln Interpretationsgemeinschaften erst begründen und immer auch eine »Stopp-Regel« (177) kennen, die dann greift, wenn andernfalls »der Charakter des Spieles im Ganzen« (ebd.) wechselt (und man, um ein Beispiel zu geben, nicht mehr den Text interpretiert, sondern die Psyche seines Autors analysiert). Kurz: Alle vier ›literaturwissenschaftlichen‹ Beiträge analysieren Operationen, Regeln oder Standards in der Praxis des Interpretierens, so dass diese Einzelbestandteile als solche sichtbar – und letztlich auch: verhandelbar – werden.

Doch auch die Literaturdidaktik kann einiges Bemerkenswertes zur (literaturwissenschaftlichen) Interpretationspraxis beitragen. Irene Pieper etwa führt in ihrem Aufsatz »Zur spezifischen Rahmung des Interpretierens in der Schule: Willkommen und Abschied als Unterrichtsgegenstand in der Mittelstufe« (185–217) die (verheerenden) Folgen einer Textausgabe vor, die einzig auf den Einsatz im Schulunterricht abzielt, so den eigentlichen Textgegenstand, Goethes Gedicht, zum Lernobjekt macht und damit entwertet. Solcher ›Einsatz‹ von Literatur als Lerngegenstand ist jedoch, gerade unter den Bedingungen der Modularisierung und Kompetenzorientierung, auch in den Hochschulen eine naheliegende Versuchung. Kasper H. Spinner plädiert in ähnlicher Absicht mit seinem Beitrag »Expressive und appellative Emotionalität als Aspekt des wertschätzenden Interpretierens« (243–258) für die wertschätzende Funktion des Interpretierens, nicht nur des schulischen. Die Interpretation ist so – hier zitiert Spinner den jüngst verstorbenen Karl Eibl – »›ein schöpferischer Akt, mit dem wir uns ein Werk aneignen, indem wir selbst unsere Erregungen semantisch interpretieren.‹« (250)[1]

Auch die praxeologische Grundausrichtung des Bandes und der Untersuchungen seiner Beiträge ist ein Verdienst des didaktischen Dialogpartners und ist diesem sicherlich vertrauter als der Literaturwissenschaft mit ihrer Ausrichtung nicht auf Praxen, sondern auf Texte. Diese praxeologische Fokussierung auf »Interpretationskulturen« wird im einführenden Beitrag der Mitherausgeberin Dorothee Wieser – »Interpretationskulturen: Überlegungen zum Verhältnis von theoretischen und praktischen Problemen in Literaturwissenschaft und Literaturunterricht« (39–60) – umfassend dargestellt und begründet. Hier wird auch die eingangs schon angesprochene Thematik der Literaturvermittlung angesprochen, freilich als »Vermittlungsproblem« (48), zu dem sich Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik unterschiedlich (asymmetrisch!) verhalten: Denn erstere hat die durchaus nicht einfache Vermittlungsaufgabe, »Novizen zu Experten zu machen« (ebd.), ist sich dieser Herausforderung in der Lehre aber wohl weniger bewusst als Didaktik und Lehrerschaft, die stets mit dem ›Vermittlungsproblem‹ konfrontiert sind. Auch eine weitere Beobachtung Wiesers ist ebenso interessant wie zutreffend: Der Schulunterricht ist stark normiert, die Literaturwissenschaft hingegen hat – wie alle Wissenschaften– einen ausgeprägten »Individualisierungsdruck« (53).

Marie Lessing-Sattari schließlich macht in ihrem Einführungsbeitrag »Hermeneutischer Zirkel reloaded: Perspektiven der Problemlöseforschung auf die Frage der Modellierung und Vermittelbarkeit von Interpretationsprozessen« (61–89) einen durchaus bedenkenswerten Vorschlag, das der Literaturdidaktik und der Literaturwissenschaft gemeinsame »Interpretationsproblem« (61) – Komplexität, Nicht-Operationalisierbarkeit, Zirkelhaftigkeit des Interpretierens – mit Konzepten aus der Problemlöseforschung zu modellieren. Durch ein solches Verständnis des Interpretationsprozesses als Problemlöseprozess können etwa und insbesondere die (gerade in Wissenschaft und Schulunterricht) unterschiedlichen Ziele des Interpretierens oder seiner Teilprozesse besser identifiziert und so das Erreichen dieser Ziele eindeutiger bewertet werden (vgl. 75–77).

Ein letztes Wort noch zu einer guten Idee der Herausgeberinnen: Sie haben im Vorfeld der Tagung den Teilnehmerinnen und Teilnehmern nahegelegt, sich auf einige wenige Textbeispiele zu beziehen. Eines davon war Goethes Mir schlug das Herz / Willkommen und Abschied und ist von mehreren Beiträgen aufgegriffen worden, so dass sich dieses Gedicht wie ein Leitmotiv durch diesen Band zieht – und so zusätzlich stets an den ästhetischen Wert von Literatur in Schule und Wissenschaft erinnert, aber auch eine weitere Frage aufwirft: die nach den Kanones, ihrer Bedeutsamkeit und nach den Kanonbildungsprozessen, die sich wiederum in Wissenschaft und Schule unterscheiden dürften.

Es ist beiden beteiligten Teildisziplinen zu wünschen, dass der von diesem Band angestoßene Dialog fortgesetzt wird.

Anmerkungen

[1] Karl Eibl, Lusttexte und ihre Interpretation, Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 49:2 (2002), 172–185, hier: 184. [zurück]

2016-07-03

JLTonline ISSN 1862-8990

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