Vincenz Pieper

Metaphysikverdacht: Christian Bennes Theorie der literarischen Handschrift

Christian Benne, Die Erfindung des Manuskripts. Zur Theorie und Geschichte literarischer Gegenständlichkeit. Berlin: Suhrkamp 2015. 671 S. [Preis: EUR 28,00]. ISBN: 978-3-518-29747-6.

Christian Benne hat sich vorgenommen, Autorenhandschriften zum Gegenstand einer anspruchsvollen philosophischen und literaturhistorischen Untersuchung zu machen. Er verfolgt zwei ambitionierte Ziele: Er will erstens erforschen, welche Rolle die Handschriften der Autoren in der europäischen Literaturgeschichte seit etwa 1750 spielen, und zweitens eine Theorie literarischer Werke unter besonderer Berücksichtigung von Manuskripten entwerfen. Bei einem so anspruchsvollen Vorhaben wird man über geringfügige Ungenauigkeiten und Irrtümer gern hinwegsehen. Wer ein intellektuelles Risiko eingeht, kann erwarten, dass seine Überlegungen wohlwollend ausgelegt und im besten Licht dargestellt werden. Die Möglichkeit des Rezensenten, den Gang der Untersuchung zu skizzieren und die Resultate herauszuarbeiten, ist allerdings an die Bedingung geknüpft, dass er die Thesen verständlich findet. Das ist bei der vorliegenden Monographie nur eingeschränkt der Fall: Je intensiver man die zentralen Formulierungen prüft, desto mehr Schwierigkeiten zeigen sich und desto größer wird der Klärungsbedarf. Ganz abgesehen davon ist das Buch anregend und bisweilen erhellend.

Die Arbeit ist in fünf umfangreiche Kapitel aufgeteilt. Das erste Kapitel »Literatur der Literatur[!]« ist eine Exposition des Vorhabens, das zweite Kapitel »Theorie der Gegenständlichkeit« stellt den Versuch dar, eine Theorie der Literatur zu entwickeln, die Autorenhandschriften gerecht wird, im dritten »Die Erfindung der literarischen Handschrift« und vierten »Literaturhistorische Zäsuren« Kapitel wird dargestellt, wie Autographen in der europäischen Literatur ab 1750 völlig neu bewertet werden. Das letzte Kapitel »Konsequenzen« enthält diverse Spekulationen über Editionswissenschaft und Schrifttheorie im digitalen Zeitalter. Das übergeordnete Anliegen, die Bedeutung von Handschriften für Literaturtheorie und Literaturgeschichte herauszustellen, darf mit vorbehaltloser Unterstützung rechnen.

1. »Erfindung der Handschrift«

Wer die leitenden Thesen, die Christian Benne aufstellt, verstehen und kritisch prüfen möchte, stößt auf begriffliche Unklarheiten, die sich nicht leicht ausräumen lassen: Es beginnt schon damit, dass schwer zu durchschauen ist, was mit ›Erfindung des Manuskripts‹ gemeint ist. Benne bezieht sich nämlich nicht auf die Erfindung der Schrift und auch nicht auf die Rolle der Handschrift in den ersten Jahrhunderten nach der Erfindung des Buchdrucks. Er stellt vielmehr die Behauptung auf, dass Autographen in der europäischen Literatur ab 1750 eine neue Bedeutung gewinnen. Seine Frage ist, »wie und warum (autographe) Manuskripte, [...] denen noch bis Mitte des 18. Jahrhunderts nach der Drucklegung keinerlei Wert mehr beigemessen wurde, zu dezidiert literarischen Handschriften wurden« (21). Hier werden Voraussetzungen gemacht, die sachlich fragwürdig sind. Einerseits ist es nicht ganz richtig, dass Handschriften, die zu einem gedruckten Werk führen, für Autoren vor 1750 grundsätzlich »keinerlei« Wert mehr hatten, sobald das entsprechende Werk gedruckt vorlag. Immerhin wurden einige Handschriften aufbewahrt – und viele dürften aus Gründen vernichtet worden sein, die nichts mit einem mangelnden ästhetischen Interesse zu tun hatten.[1] Andererseits weiß man nicht, wie es gemeint ist, dass Handschriften im 18. Jahrhundert »dezidiert literarisch« werden. Wenn es heißen soll, dass man Handschriften wertgeschätzt und strategisch aufbewahrt hat, so kann es sich doch nur um einige Handschriften einiger Autoren handeln.

Benne spricht immer wieder von der literarischen Handschrift als solcher, deren allmähliche Entstehung er nachzeichnen will. In der Absicht, diesen Begriff zu konkretisieren, gibt er folgende Erklärung: »Der Begriff des Manuskripts allein kann die ästhetischen und letztlich auch philosophischen Implikationen der Rolle von Handschriften in der modernen Literatur nur schlecht erfassen« (30). Hier irritiert nicht allein die undurchsichtige Konstruktion »Implikationen der Rolle«, es ist vor allem nicht ersichtlich, worin die Relevanz dieser Aussage liegt. Natürlich können wir die Besonderheiten von bestimmten Manuskripten nicht allein mit dem Begriff ›Manuskript‹ beschreiben, aber warum muss das hervorgehoben werden? Benne fährt fort: »Für die Manuskripte der modernen Literatur und für die an Manuskripten ausgerichtete Poetologie und Ästhetik in Buchform werde ich von literarischen Handschriften sprechen.« (31) Vermutlich ist dieser Satz unglücklich konstruiert. Wahrscheinlich sollte es heißen, dass für die eigenhändigen Handschriften moderner Autoren der Begriff ›literarische Handschrift‹ verwendet wird. Allerdings wäre diese Aussage wenig informativ. Also geht es vielleicht darum, dass nur ›moderne‹ Handschriften als ›literarisch‹ bezeichnet werden? Das wäre wiederum eine willkürliche und wenig zweckmäßige Definition. Was ist es also, das Benne an dieser Stelle zu verstehen geben möchte? Irritierend ist zudem, dass Druckerzeugnisse, die sich bloß auf Handschriften beziehen, ebenfalls als Handschriften gelten sollen. Leider stehen diese schwierigen Sätze gerade dort, wo erläutert wird, was die zentrale These ist.

Die Ratlosigkeit wächst, wenn man in demselben Zusammenhang liest: »Dilthey sah noch nicht, dass Manuskripte weniger als historische Quellen dem [!] vielmehr als literarische Handschriften bereits integraler Bestandteil der Literatur geworden waren« (31). Während sich der Tippfehler (›denn‹ statt ›dem‹) leicht auflösen läßt, bereitet die Einschätzung der These einige Schwierigkeiten. Wenn man nämlich fragt, in welcher Hinsicht die Handschriften der Autoren als Literatur eingestuft werden, so ist die Antwort ›als literarische Handschriften‹ unergiebig. Man braucht hier eine spezifischere Angabe. Prüft man, was Dilthey verkannt haben soll, ergeben sich weitere Probleme: Hat er vielleicht in dem Aufsatz ›Archive für Literatur‹ Handschriften vor allem als historische Quelle und nicht als Objekte aufgefasst, die literarische Wertschätzung verdienen? Diese Ansicht ist schwer aufrecht zu erhalten, wenn man sich vergegenwärtigt, was Dilthey sagt: »Der handschriftliche Nachlaß der Schriftsteller ist [...] unschätzbar. [...] Genuß und Verständnis unserer Literatur empfängt aus diesen Handschriften eine unberechenbar wertvolle Bereicherung«[2]. Er spricht von den »ungedruckten Bestandteilen unserer Literatur«[3] und skizziert, was in seinen Augen ihren Wert ausmacht. Man würde sich wünschen, dass genauer angegeben wird, was Dilthey noch nicht gesehen hat.

Manches deutet darauf hin, dass Benne eine extrem weitreichende These aufstellen will. Wenn er von einer »neuen Bedeutung der Handschrift« (35), einer »moderne[n] literarische[n] Manuskriptkultur« (33) und einem »Zeitalter der literarischen Manuskripte« (435) spricht, scheint er sich allgemein auf ungedruckte Texte aller Art zu beziehen, auf Gedichte, Abhandlungen, Briefe, Tagebücher, auf alles von der ersten Niederschrift bis zum vorläufigen Endprodukt. Wie soll man dann aber die unspezifische Aussage, dass diesen Erzeugnissen im 18. Jahrhundert eine »neue Rolle« (33) zukommt, sinnvoll überprüfen? Was sind die Kriterien dafür, dass sich eine neue Handschriftenkultur entwickelt? Es ist auffällig, dass ›Handschriftenkultur‹ von Benne eigenwillig verwendet wird: Üblicherweise bezieht man sich damit vor allem auf die handschriftliche Verbreitung von Schriften aller Art. Die »Diagnose eines zunehmenden Bedeutungsverlustes der Handschrift« (24) lässt sich ernsthaft nur für die Publikation literarischer Werke behaupten und z.B. nicht für deren Komposition. Diesen Unterschied scheint Benne zuweilen aus dem Blick zu verlieren. Wenn er sich gegen die Behauptung wendet, dass das Manuskript mit dem Triumph des Buchdrucks »verschwand« (23), widerlegt er einen Strohmann, und wenn er von einer »wachsenden Bedeutung der Handschrift als funktionaler Alternative zum Druck« (164) redet, weiß man nicht, welche Funktion der Handschrift er im Sinn hat – vermutlich geht es ihm nicht um die Verbreitung durch Abschriften.

Benne legt großen Wert auf den Umstand, dass die gedruckte Literatur Handschriften nachahmt und darstellt. Dieser Sachverhalt ist interessant, nur fragt sich, ob sich an ihm ein erheblicher Funktionswandel von Handschriften im 18. Jahrhundert festmachen lässt. Solange die Ausgangssituation nicht hinreichend geklärt ist, kann fast alles als neue Entwicklung dargestellt werden: »Für Lichtenberg existieren Handschrift und Druck bereits [!] Seite an Seite, je nach Zweck und Publikum.« (156) Ist das tatsächlich eine neue Situation? Ein anderes Beispiel für dieselbe Tendenz: »Handschrift und Druck bleiben nicht länger in ihren jeweils genau abgezirkelten Bereichen, sondern berühren und beeinflussen einander wechselseitig auf vielfältige Weise« (28) An solchen Stellen würde man gern erfahren, was für Zustände geherrscht haben sollen, bevor die von Benne behauptete Entwicklung stattfand. Es dürfte unstrittig sein, dass sich Buchdruck und Handschrift von Anfang an »berührt und beeinflusst« haben; von »genau abgezirkelten Bereichen« kann in keiner Phase der Geschichte die Rede sein.

Eine andere grundsätzliche Schwierigkeit betrifft das Beiwort ›literarisch‹. Benne unterscheidet zwischen »älterer« und »neuerer, literarischer Manuskriptkultur« (166). Aber warum können die Autorenhandschriften vor 1750 nicht als ›literarisch‹ gelten? Die Tatsache, dass eigenhändige Handschriften im 17. Jahrhundert existiert haben und wertgeschätzt wurden, wird zwar anerkannt, aber stark heruntergespielt: »Zwar existieren auch einige (wenige) autographe Manuskripte aus früheren Jahrhunderten; ihre Erhaltung ist aber fast immer schlüssig aus besonderen Umständen oder dem plötzlichen Tod des Verfassers ableitbar und bestätigt eine Regel, die u.a. das [...] Marbacher Literaturarchiv veranlasste, das Stichjahr für den Sammelschwerpunkt auf das Jahr 1750 festzusetzen.« (21) Wie soll man die Erhaltung von Handschriften aus dem 17. Jahrhundert sonst erklären, wenn nicht aus besonderen Umständen? Man möchte zu bedenken geben, dass aus einer dürftigen Überlieferung von Handschriften nicht folgt, dass Autoren diesen Dokumenten keinen Wert beigemessen haben.

Benne gibt der Überlegung, dass die Produktion von Literatur – vor und nach 1750 – nicht notwendigerweise auf ein gedrucktes Werk hinausläuft, auffällig wenig Raum und tut sich sehr schwer damit, Dichter wie Philip Sidney und John Donne einzuordnen, deren Werke in Handschriften kursierten. Sind sie vielleicht »frühe Vertreter der literarischen Manuskriptkultur« (159)? Benne bezweifelt dies: »Gegen diese These spräche [...] die konsequente Verweigerung des Drucks zu Lebzeiten. Literarische Manuskriptkultur ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie Elemente der literarischen Handschriften für die der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellte, also typischerweise gedruckte Literatur fruchtbar macht.« (159) Doch allein mit der willkürlichen Zusatzbestimmung, dass ein gedrucktes Werk vorliegen müsse, lässt sich das Problem nicht vermeiden: Was ist mit frühneuzeitlichen Autoren, deren Werk ungedruckte und gedruckte Schriften umfasst? Wenn man wirklich herausfinden will, ob es im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einer »neuen Verankerung des Werks in der Handschrift« (425) kommt, muss man ein stärkeres Interesse an den relevanten Daten entwickeln.

Um zu präzisieren, was sich im 18. Jahrhundert ändert, hätte es sich angeboten, den sorgfältig angelegten Nachlass Sigmund von Birkens (1626-1681) zu studieren, der sich aus Konzeptheften, Gedichtbüchern, erbaulichen Schriften, Briefen, Tagebüchern und einer Lebensbeschreibung zusammensetzt. Für keinen anderen deutschsprachigen Dichter des 17. Jahrhunderts ist ein solcher handschriftlicher Nachlass überliefert. Benne hätte diesen in mancher Hinsicht interessanten Fall zum Anlaß nehmen können, die Veränderungen, um die es ihm geht, genauer zu erforschen. Eine seiner wichtigsten Thesen zur ›neuen Manuskriptkultur‹ lautet:

Das handschriftliche Material generiert Druckerzeugnisse, ohne im Anschluss zu verschwinden. Vielmehr wachsen aus demselben Boden neue Druckerzeugnisse nach, die wiederum das handschriftliche Material befruchten, verändern und erweitern. Die Drucklegung wird zum Moment eines übergeordneten Schreibprozesses, der erst mit dem Tod des Autors endet. (28)

Das ist nicht so neu, wie Benne anzunehmen scheint. Es ist keine Erfindung des 18. Jahrhunderts, dass Handschriften angelegt werden, um Gedichte zu sammeln und zu ordnen. Was bei Sigmund von Birken nachweisbar ist, gilt mit großer Wahrscheinlichkeit auch für andere Autoren: Ihr gedrucktes Werk »ruht [...] auf einem unterirdischen, weitverzweigten handschriftlichen Stollensystem«[4]. Außerdem hätte der Umstand, dass Birken ein Nachlassbewusstsein entwickelt, bevor sich das Verständnis von Autorschaft im 18. Jahrhundert verändert, bei der Suche nach den Ursachen helfen können, aus denen sich Archivierungssorgfalt und strategisches Aufbewahren literarischer Zeugnisse erklären lässt.

Die »wichtigste Entwicklung bei der ›Erfindung‹ der literarischen Handschrift« besteht nach Benne darin, »dass [...] Werk und Nachlass gar nicht mehr zu trennen sind, dass vielmehr der Nachlass das eigentliche Werk [...] wird, wovon die einzelnen Werke [...] nur die Spitze des Eisbergs darstellen« (231). An anderer Stelle heißt es sogar: »Ohne Archiv [...] keine Edition – und vor allem: kein Autor. Schriftsteller sein heißt nun, ›Papiere‹ zu besitzen, zu ordnen und zu hinterlassen« (260). Wenn man die historische Realität differenzierter betrachten möchte, verlieren diese Aussagen sehr viel von ihrem Reiz: Für einige Autoren gilt, dass ihr Nachlass als das eigentliche Werk aufzufassen ist, für andere nicht. Benne zieht es wohlweislich vor, stärkere Formulierungen zu wählen, und überlässt seinen Lesern die Mühe, das Wahre vom Falschen zu trennen.

2. Handschriften und moderne Literatur

Die Neubewertung der Handschrift wird von Benne mit der »Entstehung des modernen Literaturbegriffs« (27) in Verbindung gebracht. Was aber soll der moderne Literaturbegriff sein? Im 18. und 19. Jahrhundert habe sich ein »neuartiger Begriff des Schreibens« herausbildet, der Ausdruck einer »neuen, selbst- und schreibreflexiven Literatur« (19) sei. Aber leider werden der alte und der neue Begriff des Schreibens nicht voneinander abgegrenzt. Eine Erklärung, welche neuen Formen von Selbstreflexivität sich entwickeln, wird nicht gegeben. Man erfährt, »dass die zunehmend verschriftlichte Kompositionsweise der Dichter [...] die neue Literatur zuallererst hervorgebracht hat (und nicht umgekehrt)« (17). Was heißt »zunehmend verschriftlicht«? Was wird durch den Zusatz »und nicht umgekehrt« ausgeschlossen? Benne erklärt es nicht, und man muss sich mit der etwas vagen Idee einer »sich selbst thematisierenden« (28) und »prozessorientierten« (30) Schreibweise begnügen, die sich offenbar zielgerichtet entwickelt: Die »Wurzeln« (30) liegen im 18. Jahrhundert, den »Durchbruch« (37) bringt die Frühromantik; mit Autoren wie Paul Valéry, Robert Walser, Franz Kafka, Apollinaire und Joyce (29-31) gelangt sie zur vollen Blüte – eine erstaunliche Konstruktion von ›moderner Literatur‹. Es ist fraglich, ob selbst die Autoren, die nach Bennes Verständnis von Literaturgeschichte als ›modern‹ gelten, den eigenen Handschriften besonderen Wert zugemessen haben.

Mit Blick auf die Handschriften, die den Gegenstand seiner Untersuchung bilden, erklärt Benne: »Ich interessiere mich für ihre Beschaffenheit genauso wie für ihre allmähliche Entstehung« (31). Abgesehen von der gewagten These, dass ›literarische Handschriften‹ erst im 18. Jahrhundert entstehen, ist auffällig, dass Benne dem Interesse, das er hier bekundet, in seinen weiteren Ausführungen nicht stärker nachgeht: Es gibt nur wenige konkrete Bemerkungen zur Beschaffenheit von Handschriften bestimmter Autoren. Dafür wird die folgende Erklärung gegeben: »Die vorliegende Studie [...] stellt [...] nicht die einzelne Handschrift ins Zentrum und hält sich überhaupt bewusst bei der Präsentation von Anschauungsmaterial zurück, um gar nicht erst in die Nähe eines bloßen Materialfetischismus zu gelangen« (39). Diese Sorge, sich in der Betrachtung des Materials zu verlieren, ist jedoch hinderlich, denn für das gewagte Vorhaben, die »großen Linien« (40) der neueren europäischen Literaturgeschichte anhand der Rolle von eigenhändigen Handschriften darzustellen, wäre eine genauere inhaltliche Analyse einzelner Nachlässe durchaus nützlich gewesen. Es werden zwar einige Befunde diskutiert, doch ist unsicher, welche Beweiskraft ihnen zukommt.

Ein wichtiges Beispiel in Bennes Argumentation ist Samuel Richardsons Clarissa. Er glaubt, in diesem Werk eine Stelle entdeckt zu haben, die »zu den Initialzündungen der Emergenz literarischer Handschriften und literarischer Manuskriptkultur« (173) gehört. Gemeint ist der 261. Brief, in dem Lovelace »scraps and fragments« einfügt, die Clarissa in einem aufgebrachten Zustand produziert hat. Er tut dies »for the novelty of the thing and to show thee how her mind works«.[5] Dazu erklärt Benne: »Zum ersten Mal wird in einem weitverbreiteten literarischen Werk das handschriftliche Original unmissverständlich privilegiert. Die Figuren sind sich der ›novelty‹ selbst bewusst, die darin besteht, dass das Schreiben kein durchgeplanter Kompositionsprozess mehr ist, sondern die Produktion von Zeichen, die auf die geistig-seelische Verfassung ihrer Urheber verweist« (173). Hier möchte man es genauer wissen: Gegenüber was wird die Handschrift »privilegiert«? Ist der Roman an dieser Stelle als Darstellung einer neuen Einstellung zum Schreiben angelegt? Ist das Wort ›novelty‹ nicht mehr ein verhüllter Hinweis auf die Besonderheit der dichterischen Erfindung? Stimmt es, dass das Schreiben zuvor kein Ausdruck von Gedanken und Gefühlen war? Statt diese naheliegenden Einwände auszuräumen, trägt Benne unvermittelt eine unspezifische Vorstellung von moderner Literatur an den Briefroman heran: »Die moderne Literatur ist neu auch deshalb, weil sie auf rekombinierbare und rekombinierte ›scraps and fragments‹ zurückzuführen ist« (ebd.). Auch wenn man die Frage, was diese These mit Richardsons Romans zu tun haben soll, auf sich beruhen lässt, ist sie zu wenig verständlich, als dass man sie überprüfen könnte.

Ein zweites Beispiel sind die ›Manuskripte für Freunde‹, die kürzlich von Carlos Spoerhase kenntnisreich diskutiert wurden.[6] Benne führt sie als »Missing Link zwischen der traditionellen und der literarischen Handschrift« (192) an, eine Formulierung, die hoffen lässt, dass die Entwicklung der neuen Rolle von Handschriften am Beispiel dieser Druckerzeugnisse genauer gefasst wird. Umso enttäuschender ist es, dass Benne seine Ankündigung nicht wirklich einlösen kann. Goethe setzt seinen West-östlichen Divan, indem er ihn als ›Manuskript für Freunde‹ bezeichnet, mit einer handschriftlich oder quasi-handschriftlich verbreiten Arbeit in Analogie: Sie soll als vorläufig, unvollständig und verbesserungsfähig verstanden werden. Sie verlangt nach freundschaftlicher Aufnahme und künftiger Vervollkommnung. Diese Konzeptualisierung eines gedruckten Werks ist eine literarische Technik, die mit Goethes dichterischer Selbstinszenierung zusammenhängt; aber ist sie auch Ausdruck einer neuen Bedeutung der Handschrift? Richtig ist, dass Goethe handschriftliches Material zum Divan aufgehoben hat. Richtig ist auch, dass er Autographen gesammelt hat – aber was soll man daraus schließen? Es wäre zu prüfen, welche Dokumente Goethe aus welchen Gründen aufbewahrt oder nicht aufbewahrt hat. Eine Analyse der Quellen findet aber nicht statt.

Ein drittes Beispiel ist die ›Ossian‹-Rezeption. Benne schreibt: »Mit der Echtheitsdebatte um die Ossian-Gedichte wurde der Authentizitätsdiskurs erstmals an die Existenz von Manuskripten geknüpft« (166). Soll das bedeuten, dass im Zusammenhang mit ›Ossian‹ die Frage nach der Autorschaft erstmals mit der Frage nach den Handschriften verbunden wurde? Diese These ist wenig plausibel – man kann sich aber aufgrund der unbestimmten Ausdrucksweise auch gar nicht sicher sein, dass Benne sie vertreten will. An anderer Stelle heißt es: »Mit Ossian wurde die Bedeutung der Handschriften dem europäischen ästhetischen Bewusstsein zum ersten Mal auf eindrückliche Weise offenbar« (460). Da nicht gesagt wird, was die Bedeutung der Handschriften ist, weiß man nicht, was man bejahen oder verneinen soll. »Der Fall Ossian öffnete die Augen für die Bedeutung der Handschriften als Authentizitätskriterium auch der zeitgenössischen Literatur – als die Grundlage ihrer Produktionsverfahren« (454). Man kann mit guten Gründen vermuten, dass die Ossian-Diskussion das Bewusstsein für Probleme der Produktion von Literatur geschärft hat. Die eigentliche These ist jedoch so unklar formuliert, dass man ihr die Zustimmung einstweilen vorenthalten muss.

Auf ähnliche Schwierigkeiten stößt man, wenn man Bennes Ausführungen über Friedrich Schlegel, Jean Paul oder Balzac untersucht. Es soll nicht in Abrede gestellt werden, dass sich die literarische Kultur im Verlauf des 18. Jahrhunderts tiefgreifend verändert und dass sich diese Veränderung vielleicht auch an einem stärkeren Interesse an Handschriften als Zeugnissen der Entstehung von literarischen Werken festmachen lässt. Bennes Ausführungen leiden jedoch an einer mangelhaften Begriffsbildung: Dies zeigt sich besonders deutlich, wo er sich explizit um Definitionen bemüht. So sieht er einen »entscheidenden kategorialen Unterschied [...], der Geltung für alle Literaturen und alle Autoren beanspruchen kann: [...] zwischen der einsamen und der zirkulierenden Handschrift, zwischen dem Manuskript, das vornehmlich dem Autor selber dient, und jenem, das auch für andere verfasst oder zumindest autorisiert worden ist« (183). Mit dieser Einteilung – was es mit dem Wort »kategorial« auf sich hat, ist nicht klar – bereitet Benne die Pointe vor, dass einige Autoren diesen Unterschied ›aufheben‹. Da aber schon in der Definition von »einsamen« Handschriften die Einschränkung ›vornehmlich‹ auftaucht, wirkt die umständliche Beweisführung, dass manche Autoren um 1800 »einsame« Handschriften zirkulieren lassen oder für die Nachwelt aufbewahren, witzlos. Es finden um 1800 interessante Entwicklungen statt, aber man müsste sie mit geschärften Begriffen erforschen.

3. Ontologie der Literatur

Sehr vielsprechend beginnt jenes Kapitel, in dem Benne über eine Theorie der Literatur unter besonderer Berücksichtigung von Handschriften nachdenkt: »Was bisher fehlte, war eine Arbeit, die philologisch-textkritische Praktiken der intensiven Beschäftigung mit Handschriften literaturhistorisch und theoretisch motiviert und begründet, warum sich Handschriften überhaupt für den Bereich des Literarischen aufdrängen.« (39) Das erklärte Ziel ist »das theoretische Verständnis einer Praxis« (42). Nun wird aber gar nicht der Versuch unternommen, den Wert verschiedener Arten von Handschriften für die Praxis der Textauslegung zu untersuchen. Es geht Benne eigentlich nur um das »Durchdenken des Themas« (42). Ein Vorbild in der Auslegungspraxis ist ihm Dieter Burdorfs Arbeit über das Homburger Folioheft: »Burdorfs Akribie und sein subtiles Durchdenken des Gegenstandes sind eine Ausnahme« (52). Ein Verständnis seiner Methode wird jedoch nicht angestrebt, denn mit der »handschriftlichen Herausforderung von Hölderlins Spätwerk« (51) und ähnlich konkreten Dingen befasst sich Benne nicht. Ihm geht es um »eine echte ontologische Auseinandersetzung« (49) mit Handschriften als solchen, um den »Gegenstand in seiner Gegenständlichkeit« (49).

Aus Bennes Sicht herrscht in der Literaturwissenschaft ein »informelles Denkverbot« (49). Philologen zeigten eine »Berührungsangst« (55) gegenüber der Philosophie. Er spricht von einer allgemeinen »Ontologieangst« (49), einer »antiontologischen Ausrichtung« (55), einem »ontologischen Eskapismus« (82), ja sogar von einem »ontologische[n] Vakuum (50). Es fehle überall »an echtem und nicht nur vorgespiegeltem ontologischen Interesse« (50). Wer es »philosophisch genauer wissen will« (57), sei mit einer verbreiteten »Furcht vor intellektuellen Tabuverletzungen« (49) konfrontiert. Es ist kaum zu übersehen, dass Benne eine Studie präsentieren will, die eine unbegründete Angst überwindet, sich über ein Denkverbot hinwegsetzt, ein Tabu bricht. Wie berechtigt diese günstige Selbsteinschätzung ist, kann aufgrund der schwankenden Bedeutung des Wortes ›Ontologie‹ nicht zweifelsfrei festgestellt werden.

Benne ist davon überzeugt, dass »jeglicher Versuch ontologischer Bestimmung unter Metaphysikverdacht« steht, weswegen er eine »Ontologieangst im Zeichen der Metaphysikverschrecktheit« (58) vermutet. Die Bewertung dieser Aussage, hängt davon ab, was ›ontologische Bestimmung‹ bedeutet. Es könnte heißen: ›die Beschaffenheit von Handschriften bestimmen‹ oder ›die Beziehung zwischen Handschrift und veröffentlichtem Werk bestimmen‹. Aber dann ist die Behauptung, dass Philologen eine solche Beschäftigung allgemein vermeiden oder starke Vorbehalte dagegen haben, überzogen. Manche zeigen ein gewisses »Desinteresse an literarischen Texten als materialen Gegenständen« (72), indem sie etwa dem Schriftbild oder den Zeugnissen der Entstehung nicht genügend Beachtung schenken; aber diesen Umstand zu einer allgemeinen »Ontologieangst« aufzubauschen, ist ungerecht. Benne glaubt, dass die universitäre Lehre »unberührt von der Ontologie ihrer Gegenstände bleibt« (51), deswegen wüssten viele Studenten nicht, dass Werke ursprünglich in Manuskriptform vorlagen. Richtig daran ist, dass die Textkritik in der Lehre leider oft eine geringe Rolle spielt, aber Benne bleibt eine Erklärung schuldig, was dieser Umstand mit Metaphysik zu tun hat.

Man kann sich fragen, ob Philologen tatsächlich eine »Angst vor dem Gegenstand in seiner Gegenständlichkeit« (49) haben oder ob sie lediglich auf große Wörter wie »Ontologie« und »Gegenständlichkeit« verzichten, wenn sie die Beschaffenheit ihres Gegenstands studieren. Vernachlässigen sie z.B. Zeugnisse der Entstehung, so liegt das wohl nicht an einem Mangel an ›Ontologie‹. Manchmal scheint es so, als wolle Benne lediglich eine verstärkte »Hinwendung zu so unterschiedlichen, aber für die literarische Gegenständlichkeit wesentlichen Faktoren wie etwa der graphischen und topologischen Dimension der Schrift, der Textgenese, den Redaktionsprozessen« (81) empfehlen. Die Wichtigkeit dieser Aspekte wird aber nur behauptet und nicht mit Sachkenntnissen untermauert – auch dies ist nicht das eigentliche Anliegen.

Manches spricht dafür, dass Bennes vorrangiges Ziel eine philosophische »Beschäftigung mit der Seinsweise der Literatur« (50) ist. Roman Ingarden, dessen Arbeiten bei diesem Vorhaben einige Anknüpfungspunkte bieten könnten, propagiert dabei offenbar nicht die richtige ›Ontologie‹. Er habe, so Benne, »die Ontologieangst mit befördert« (65). Die Theory of Literature von Wellek und Warren wird als »[d]er letzte umfassende und einflussreiche Versuch einer traditionellen ontologischen Bestimmung des literaturwissenschaftlichen Gegenstands im Rahmen einer in sich schlüssigen und tatsächlich primär auf Literatur bezogenen Theorie« (59) dargestellt. Ob das Buch die Bezeichnungen »umfassend« und »in sich schlüssig« verdient hat, sei einmal dahingestellt. Jedenfalls kritisiert Benne die darin vorgetragene These, dass nicht »jede unterschiedlich gedruckte Auflage« schon ein »unterschiedliches Kunstwerk« ist. Was er dieser Auffassung entgegenhält, ist verblüffend: Er verweist auf die »Rezeptionstheorie«, die gezeigt habe, »dass unterschiedlich gedruckte Werke tatsächlich als unterschiedliche Kunstwerke wahrgenommen werden« (60). Die Ansicht, die Benne einer nicht näher definierten »Rezeptionstheorie« unterschiebt, ist nicht haltbar. So richtig es ist, dass Unterschiede in den Druckfassungen manchmal als ästhetisch relevant erachtet werden, so falsch ist es, dass ein anderer Druck zwangsläufig als ein neues Kunstwerk wahrgenommen wird. Der Satz, dass verschiedene Druckfassungen nicht dasselbe Kunstwerk sein können, ist keine empirisch überprüfbare Aussage, sondern eine stipulative Definition, die von Benne als metaphysische Einsicht in das Wesen der Dinge missverstanden wird.

Falls Benne mit einer »ontologischen Bestimmung« den Anspruch erhebt, durch eine »Wesensschau« (62) zu erforschen, was einen Gegenstand eigentlich ausmacht, unabhängig von den Interessen, unabhängig von den Begriffen der Autoren und Leser, dann ist ›Metaphysik‹ eine geeignete Bezeichnung für dieses Vorhaben. Ein so erhabenes Verständnis von Ontologie zeigt sich etwa in dieser Erklärung:

Wie im beliebten Topos des Zeichentrickfilms, dessen Figuren erst dann den Grenzen der Schwerkraft gehorchen, wenn sie erkennen, dass sie längst über den Rand des Abgrunds hinausgelaufen sind, wird man die Vorstellung einer rein auf Druck basierenden literarischen Kultur und eines abstrakten Textbegriffs als gleichsam physikalische Unmöglichkeit ansehen müssen. (37)

Die bloße Feststellung, dass nicht nur gedruckte Werke, sondern auch Handschriften zur Literatur gezählt und wertgeschätzt werden, genügt nicht. Es muss eine »gleichsam physikalische Unmöglichkeit« behauptet werden. Hier scheint Benne selbst allmählich den Boden unter den Füßen zu verlieren.

4. Dualismus von Geist und Schrift

Bei dem Versuch, die Seinsweise der literarischen Handschrift zu bestimmen, stößt Benne auf das Leib-Seele-Problem: Er springt von der richtigen Beobachtung, dass sich Schrift nicht in ihren materiellen Aspekten erschöpft, zu dem Schluss, dass sie mit Geist »angereichert« (97) sein müsse. Hier zeigt sich wieder ein erhabener, ein metaphysischer Anspruch, denn es geht ihm nicht um eine Klärung von Aussagen über Gedanken, Gefühle und Absichten, um eine logische Analyse der psychologischen Begriffe, mit denen über Autoren und ihre Werke nachgedacht wird, sondern um das Wesen des Geistes und das Wesen der Schrift – unabhängig von der Frage, wie die relevanten Begriffe verwendet werden. Seine »bergsonistische Lösung des Geist-Körper-Dualismus« läuft darauf hinaus, »dass Schreiben nicht als Externalisierung einer internen, mental repräsentierten Botschaft aufzufassen ist, sondern dass bereits in der ›Materie‹, in der die Schreibhandlung stattfindet, ›Geist‹ vorhanden ist, der durch die Handlung selbst, durch die Transformation der ›Materie‹ aktualisiert wird« (602). Die Forderung, die Repräsentationstheorie des Geistes aufzugeben, mag man berechtigt finden, aber Benne erklärt nicht, aus welchen Gründen er sie ablehnt. Seine eigene Theorie ist rätselhaft: Geist soll in der Materie »vorhanden« sein.

Es scheint, als habe sich Benne von dem Dualismus, den er offiziell ablehnt, noch nicht ganz befreit. Denn die Frage, ob psychische Phänomene ›im Inneren‹ oder außerhalb davon ›in der Materie‹ vorhanden sind, ist eine Entscheidung zwischen zwei Spielarten des Dualismus von Geist und Schrift. Die Intuition, dass die Schrift ein äußeres Zeichen des Geistes ist, und die Intuition, dass der Geist in den Zeichen vorhanden ist, beruhen beide auf einer verdinglichenden Auffassung von ›Sinn‹, ›Absicht‹› ›Gedanke‹, ›Gefühl‹, die nur verschieden ausgestaltet wird. Wenn Benne eine innige »Verbindung« der »Dualität« (149) behauptet, vertritt er also immer noch einen Dualismus.

Nach einem langen Umweg über Immanuel Kant, Nicolai Hartmann, Walter Benjamin, Martin Heidegger, Richard Hönigswald und Boris Groys gelangt Benne zu einem Ergebnis, das viele wichtige Fragen offen lässt: »Literatur ist ein extended mind kultureller Signifikationsprozesse. Sinn und Gegenständlichkeit lassen sich nicht mehr in absoluter Hinsicht trennen, da der Sinn nur in distribuierter Form existiert« (150). Sich gegen die extreme Behauptung einer ›absoluten Trennung‹ von Geist und Schrift zu wenden, ist leicht; die vordringliche Aufgabe würde darin bestehen, die Leitvorstellung des Dualismus, dass zwei Dinge miteinander in Verbindung gebracht werden müssen, kritisch zu überprüfen. Benne gibt zu verstehen, dass er die traditionelle Auffassung des Geistes als Behälter innerer Repräsentationen ablehnt. Es ist jedoch ein problematischer Gegenvorschlag, dass sich der Geist auf die Handschrift »erweitert« und »verteilt« (150). Dilthey war der Auffassung, dass »der Atem der Menschen [...] uns aus Entwürfen, Briefen, Aufzeichnungen entgegenkommt« – ganz im Gegensatz zu den »kühl dastehenden Druckwerken«[7]. Er glaubte, man könne »vermittelst solcher direkten einfachen Äußerungen« in der »Seele« des Autors »lesen«[8]. Benne zitiert diese Worte nicht, aber er scheint sich einer solchen Denkweise anzunähern. Hier muss man differenzieren: denn zum einen schüttet der Autor nicht in jedem Brief und jedem Tagebucheintrag sein Herz aus, zum anderen können sich Gefühle auch in gedruckten Werken zeigen.

Es mag sein, dass in den Streichungen und Ersetzungen einer Arbeitshandschrift die Anliegen eines Autors erkennbar werden oder dass sich in seinen Briefen und Tagebüchern deutlich zeigt, was ihn im Innersten bewegt. Man sollte sich nur davor hüten, in einen Mythos der Unmittelbarkeit zu verfallen, indem man eine Präsenz des Geistes in der Handschrift beschwört und darüber vernachlässigt, dass Behauptungen wie ›hier zeigt sich, welche Absichten der Autor verfolgt‹ Ausdruck einer Interpretation sind, die man versuchsweise aufstellt. Das schließt freilich nicht aus, dass eine Interpretation die Beschaffenheit des Textes richtig beschreiben kann.

5. Schrift als Spur

Die ontologische Bestimmung führt zu der Intuition, dass Handschriften wesentlich Spuren sind. In der Erläuterung dieser These mischt sich verspielte Dunkelheit mit einer gewissen Oberflächlichkeit: »Die Spur enthält ihre Entstehungsgeschichte schon als Teil ihrer Bedeutung; sie existiert wegen ihrer Ent-stehung[!], ohne mit dieser identisch zu sein« (141). Was könnte es heißen, dass die ›Spur‹ mit ihrer Entstehung identisch ist? Was zählt zur Entstehung der ›Spur‹? Nur der Schreibvorgang im engeren Sinn oder auch die Begleitumstände? Wie ist es gemeint, dass die Entstehung in der Spur »schon enthalten« ist? Was ist mit Abschriften, die vom Verfasser nachträglich autorisiert wurden? Gehört die Autorisierung der ›Spur‹ zu ihrer Entstehung? Ist es zwingend ein »Teil ihrer Bedeutung«, welche Hand sie hervorbringt? Ist der Begriff der ›Spur‹ ausschließlich auf Handschriften oder auch auf Druckwerke anwendbar? Wie verhält sich die bloße ›Spur‹ auf dem Papier zu dem Wort‹, von dem wir unterstellen, dass der Autor es verwendet? Wie gelangt man von der Feststellung von ›Spuren‹, die jemand erzeugt, zu dem Schluss, dass es sich um die Fortsetzung eines Gedichts oder den Anfang eines neuen Gedichts oder eine Randnotiz handelt? Die Gelegenheit, den Begriff der Spur zu klären und dadurch fruchtbar zu machen, bleibt ungenutzt.

Besonders bedauerlich ist, dass Benne sich kaum für die Beziehung zwischen der Analyse der Entstehungsgeschichte und der Interpretation des (vorläufigen) Endprodukts interessiert. Ein möglicher Diskussionspunkt wäre, ob Dokumenten, die aus einer Phase fruchtbaren Arbeitens hervorgehen, ein anderes Gewicht beizumessen ist als Änderungen, die zu einem späteren Zeitpunkt vorgenommen werden, wenn die letzte intensive Arbeitsphase schon länger zurückliegt.[9] Im Falle von Zensur zeigen Handschriften die Interessen des Autors gegebenenfalls unverstellter als das gedruckte Werk, auf die er sich aus verschiedenen Motiven eingelassen hat – man denke etwa an Goethes Venezianische Epigramme. Andererseits kann man nicht behaupten, dass die Handschrift, die in einer intensiven Arbeitsphase entsteht, gegenüber einer Reinschrift, die als Druckvorlage dient, oder gegenüber dem gedruckten Werk prinzipiell ein besserer Ausdruck der Interessen des Autors ist. Solche und ähnliche Probleme würden sich für eine Literaturtheorie, die den Handschriften des Autors stärker Rechnung tragen will, anbieten – sie werden jedoch nicht in Betracht gezogen.

Zu den wertvollsten Resultaten der Arbeit gehört die Einsicht, dass ein Werk nicht als ein abstraktes Gebilde unabhängig von seiner Entstehungsgeschichte und seiner beabsichtigten Darbietungsform interpretiert werden sollte. Die Behauptung, dass weder das Werk selbst noch das, was man aus den ›Spuren‹ erschließt, eine »mentale Repräsentation« ist, die sich »im Kopf des Autors befindet« (60), verdient besondere Aufmerksamkeit und weiteres Nachdenken. Es ist wohl richtig, »dass die Wörter – ob geschrieben oder gesprochen – keine Verunreinigung einer Botschaft oder einer Struktur darstellen, sondern bereits das Eigentliche sind« (72). Nur wäre noch das Problem zu lösen, wie man von den ›Spuren‹ auf dem Papier zu höherstufigen Sprachgebilden wie ›Briefentwurf‹, ›Exzerpt‹, ›Tagebucheintrag‹ oder ›Gedichtanfang‹ gelangt, die doch Eigenschaften aufweisen, die den Spuren des Schreibens nicht zukommen.

Fazit

Bennes Arbeit ist an vielen Stellen frustrierend ungenau, doch sie fördert – auch indem sie zum Widerspruch reizt – die Einsicht in die Sache. Literaturhistoriker werden dazu angeregt, die Beziehung von gedruckten Werken und Handschriften zu untersuchen, allerdings mit präziseren Begriffen. Wer sich mit Literaturtheorie befasst, wird an die Herausforderung erinnert, sich dem Hang zur Idealisierung literarischer Werke zu widersetzen und den Handschriften der Autoren deutlich mehr Beachtung zu schenken. Auf den stolzen Namen ›Ontologie‹ kann man dabei verzichten: Entweder man untersucht die Beschaffenheit von Werken oder man kümmert sich um eine logische Analyse der Begriffe, mit denen – wahre oder falsche – Behauptungen über Handschriften aufgestellt werden können. Eine Ontologie, die den »Gegenstand in seiner Gegenständlichkeit« bestimmen möchte, ist Metaphysik im unvorteilhaften Sinn: eine Methode des Forschens, die, wie Hume treffend sagt, zu »sophistry and illusion«[10] führt.

Anmerkungen

[1] Vgl. Hans-Henrik Krummacher, Der Autor und sein Text im 17. Jahrhundert. Probleme der Überlieferung und der Autorisation am Beispiel des Herzogs Anton Ulrich von Braunschweig-Lüneburg und anderer Autoren. In: Kurt Gärtner / H.-H. K. (Hg.), Zur Überlieferung, Kritik und Edition alter und neuerer Texte, Stuttgart 2000, S. 189–222. [zurück]

[2] Wilhelm Dilthey, Archive für Literatur, in: Gesammelte Schriften, Band XV, Göttingen 1970, S. 1–16, hier S. 4. [zurück]

[3] Ebd.. [zurück]

[4] Klaus Garber, Sigmund von Birken: Städtischer Ordenspräsident und höfischer Dichter. Historisch-soziologischer Umriß seiner Gestalt, Analyse seines Nachlasses und Prolegomenon zur Edition seines Werkes, in: Martin Bircher / Ferdinand von Ingen (Hg.), Sprachgesellschaften, Sozietäten, Dichtergruppen. Hamburg 1978, S. 223–254, hier S. 231. Vgl. Klaus Garber / Harmut Laufhütte, Einleitung, in: Sigmund von Birken, Werke und Korrespondenz, Bd. 1: Floridans Amaranten-Garte, Tübingen 2009, S. XIX-CXLVI. [zurück]

[5] Samuel Richardson, Clarissa; or, The History of a Young Lady [1747–48], hg. von Angus Ross. Harmondsworth 1985, S. 889. [zurück]

[6] Carlos Spoerhase, »Manuscript für Freunde«: Die materielle Textualität literarischer Netzwerke, 1760–1830, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 88 (2014), S. 172–205. [zurück]

[7] Dilthey, Archive für Literatur, S. 7. Vgl. Dilthey, Archive der Literatur in ihrer Bedeutung für das Studium der Philosophie, in: Gesammelte Schriften, Band IV, Göttingen 1959, S. 555–575: »Pläne, Skizzen, Entwürfe, Briefe: in diesen atmet die Lebendigkeit der Person« (562). [zurück]

[8] Dilthey, Archive für Literatur, S. 5. [zurück]

[9] Dafür hat besonders Hershel Parker argumentiert: Flawed Texts and Verbal Icons. Literary Authority in American Fiction. Evanston 1984. [zurück]

[10] David Hume: Enquiries concerning Human Understanding and concerning the Principles of Morals. Hg. von P.H. Nidditch, Oxford 1975, S. 165. [zurück]

2016-04-23

JLTonline ISSN 1862-8990

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