Laura Beck

Postkoloniale Theorien und Systemtheorie: Ein erstes Zusammentreffen?

Mario Grizelj, Daniela Kirschstein (Hg.), Riskante Kontakte. Postkoloniale Theorien und Systemtheorie? Berlin: Kulturverlag Kadmos 2014. 335 S. [Preis: EUR 24,90]. ISBN-13: 9783865992093.

1. Allgemeine Konzeption des Bandes

Der von Mario Grizelj und Daniela Kirschstein herausgegebene Band Riskante Kontakte. Postkoloniale Theorien und Systemtheorie? stellt sich die monumentale Aufgabe, postkoloniale Theorien und Systemtheorien als zwei »zentrale theoretische Diskurse unseres Wissenschaftssystems« (8) zueinander in Bezug zu setzen, und gewinnt aus diesem Zusammenprall produktive Perspektiven. Die AutorInnen verorten ihren Band bewusst innerhalb einer Tendenz, »Systemtheorie auf ihre expliziten und impliziten Gemeinsamkeiten und Unterschiede gegenüber anderen Mastertheorien abzuklopfen« (9). Ein Ausgangspunkt des Projektes ist die Charakterisierung von Systemtheorien und postkolonialen Theorien als Differenztheorien. Diese gingen (wie Gendertheorien und Dekonstruktion) davon aus, dass die Herausbildung von Identitäten nur auf der Grundlage von Unterscheidungsleistungen gedacht werden könne. Den Verweis auf das Innovative ihres Projekts verbinden die HerausgeberInnen gleichzeitig mit der kritischen Frage nach dem Sinn und der Möglichkeit eines Vergleichs von bestimmten Differenztheorien. Lassen sich diese wechselseitig füreinander produktiv machen? Dabei deuten sie auch die Möglichkeit an, die Verwendung des Begriffes ›Differenztheorie‹ für Systemtheorie und postkoloniale Theorie selbst in Frage zu stellen bzw. verweisen darauf, dass »die Fragestellung des Bandes, die Differenztheorien als Paradigma und/oder als historischen Diskurs beobachte[t], eine historisch kontingente Fragestellung ist.« (55)

2. Vorstellung der Beiträge

Eine Reflexion über die Relevanz von Konzepten der ›Differenz‹ und der ›Differenzierung‹ für postkoloniale Theorien und die Systemtheorie steht dementsprechend auch im Mittelpunkt des ausführlichen Beitrags »Differenztheorien – als Paradigma oder als historischer Diskurs?« Hier geht es den HerausgeberInnen darum, eine abstrakte Ebene zu entwerfen, auf deren Grundlage eine gegenseitige Perspektivierung von postkolonialen Theorien und Systemtheorie überhaupt erst möglich wird, und theoretische Berührungspunkte anzureißen. In der Entfaltung postkolonialer Fragestellungen, die die HerausgeberInnen im Hinblick auf systemtheoretische Überlegungen für besonders anschlussfähig halten, fällt die starke Konzentration auf die Arbeiten des argentinischen Theoretikers Walter D. Mignolo ins Auge. Dabei spielt für Grizelj und Kirschstein zum einen besonders Mignolos Begriff des ›border thinking‹ eine Rolle, der die Möglichkeit eines ›anders Denkens‹ beschreibt. Zum anderen thematisieren sie sein Konzept der ›border gnosis‹, innerhalb dessen der Einbezug alternativer, an den Grenzen der europäischen Moderne sich produzierender Wissensformen möglich wird. Gerade in dem Fokus auf die innere Dynamik und Differenz der Grenzziehungen und den Einbezug dessen, was jenseits der Grenze liegt, scheint für die AutorInnen ein zentraler Anknüpfungspunkt an die Systemtheorie Luhmanns zu bestehen. Diese interessiere sich nämlich besonders für die stets prozessuale Aufrechterhaltung von Systemgrenzen und für die permanente Beobachtung auch dessen, wovon unterschieden wird. Während sich postkoloniale Theorien tendenziell durch einen politischen Impetus auszeichneten, habe die Systemtheorie »Schwierigkeiten, Grenzen jenseits ihres hochabstrakten Differenzpositivs zu beobachten« (53). Noch schärfer formuliert: »Wenn die einen von Macht und Unterdrückung sprechen, wittern die anderen eine politisch und/oder moralisch motivierte Schlagseite, die aufgrund ihrer niedrigen Abstraktionsstufe die Komplexität der modernen Gesellschaft nicht beobachten kann.« (102) In diesem allerdings deutlich auf die Spitze getriebenen Gegensatz deutet sich für die HerausgeberInnen zwar einerseits die Schwierigkeit, andererseits jedoch auch das Potential der Kombination beider Theorieansätze an. So kann es, wie mehrfach betont wird, nicht um deren bruchlose Vereinbarkeit gehen, sondern um den Versuch einer Kombination der beiden Logiken, die in ihrer Inkompatibilität belassen werden, um dabei die jeweiligen Schwächen und Stärken produktiv zu konturieren.

An diesen sehr abstrakt gehaltenen und als eine Art theoretischer Unterbau konzipierten Abriss anschließend, gliedert sich der Band in drei Teile, die mit den Titeln »Kontakte«,

»Welten« und» Literaturen« überschrieben sind. Im ersten Teil, »Kontakte«, soll es darum gehen, einige erste, explizit theoretische Ansätze zu liefern, innerhalb derer beispielsweise durch postkolonial sensible Analysen systemtheoretischer Texte und Konzepte blinde Flecken und verdeckte koloniale Denkstrukturen sichtbar gemacht werden sollen. Auch soll erprobt werden, inwiefern eine Weiterentwicklung postkolonialer Perspektiven durch die systemtheoretische Sensibilität für Differenzen möglich ist. In diesem Sinne problematisieren Lars Eckstein und Christoph Reinfandt in »Luhmann in the Contact Zone. Zur Theorie einer transkulturellen Moderne« dessen Konzept einer modernen Weltgesellschaft aus einer postkolonial informierten Perspektive. Eckstein und Reinfandt verweisen auf Brüche innerhalb der luhmannschen Theorie, die sie besonders durch die Untersuchung von dessen späten Schriften zur Exklusion sichtbar machen. Dabei machen die Autoren gerade die Proklamation einer (auch) massenmedial erzeugten modernen Weltgesellschaft als ein System, welches jegliche Kommunikation einschließt und kein soziales Außen besitzt, zum Gegenstand einer postkolonialen Kritik. Sie weisen darauf hin, dass Luhmann selbst in Inklusion und Exklusion feststellt, dass besonders in sogenannten Entwicklungsländern große Teile der Bevölkerung aus dem vorgeblich übergreifenden Kommunikationssystem Weltgesellschaft exkludiert seien und sich damit, so die Folgerung, systeminterner Beobachtung und Beschreibung entzögeb. Jene Äußerungen Luhmanns, in denen ein »Eingeständnis« (111) von Exklusion aufscheint, setzen Eckstein und Reinfandt punktuell mit dezidiert im postkolonialen Kanon verankerten Texten wie Joseph Conrads Heart of Darkness in Bezug. Dabei problematisieren sie besonders die strategische Ausblendung einer anderen, dunklen Seite der Moderne durch die Systemtheorie sowie die kolonialistische Grundierung von Luhmanns Äußerungen zu fremden Kulturen. Diese manifestiere sich besonders in einer selbstverständlichen Inanspruchnahme der eigenen Beobachtungs- und Unterscheidungsposition für den westlichen Wissenschaftler. Diese Überlegungen machen Eckstein und Reinfandt zum Ausgangspunkt einer postkolonialen Kritik an der systemtheoretischen Konstruktion der Moderne, indem sie sich auf den transmodernen und postkolonialen Ansatz Walter Mignolos und besonders dessen Forderung einer ›border gnosis‹ beziehen.

In »Die Wahrnehmung der Systemtheorie. Das In-Between der Interaktion« unternehmen Christian Huck und Carsten Schinko den Versuch, eine Brücke zu schlagen zwischen dem systemtheoretischen Ideal einer möglichst nüchternen, präzisen Beschreibung sowie Beobachtung und der postkolonialen Tendenz zu einem politisierten Engagement: Im Zentrum dieses Bestrebens steht die Rückbesinnung auf den systemtheoretischen Begriff der Interaktion, den die Autoren als mögliches Vehikel für die Einführung postkolonialer Fragestellungen ins Auge fassen. Zu diesen zählen für Huck und Schinko besonders Überlegungen zur formenden und normierenden Macht von Diskursen und zur Beobachtungen von Differenzen u.a. in Bezug auf Geschlecht, Ethnie und Klasse. Der systemtheoretische Raum der Interaktion, in dem sich bestimmte Rollen konstituieren, wird hier mit Homi Bhabhas Vorstellung einer performativen Hervorbringung von Positionen und kulturellen Zugehörigkeiten in einem In-Between verbunden, einem Konzept, das gleichwohl kritisch bewertet wird. Dabei versuchen die Autoren aber gerade den bhabhaschen Bezug auf die Literatur mit ihrem spielerischen, oszillierenden Moment des ›Als-Ob‹ für die Systemtheorie produktiv zu machen.

Anja Gerigk entwirft in »Wildes Vergleichen, ein hybridisierendes Kalkül« mit dem titelgebenden ›wilden Vergleichen‹ eine bislang nicht existente kulturtheoretische Praxis, wobei das Thema ihres Beitrags mit dessen Methode und damit auch dem Vorhaben des Bandes zusammenfällt: der Annäherung von postkolonialen Theorien und Systemtheorie. Gerigk rückt hier besonders Bhabhas Implikation einer universellen Hybridität in den Mittelpunkt, welche sie gleichwohl durch die Behauptung einer prinzipiellen Hybridisierbarkeit ersetzt. Dies erlaubt ihr, den Fokus auf Hybridisierung als »gegenstandsbildende Tätigkeit, [als] angewandtes Alteritätsdenken« (155) zu legen. Gerade die Systemtheorie bietet für Gerigk dabei das Instrumentarium, um zu beschreiben, wie Hybridität in der Beobachtung produziert wird: Der Verweis auf »die konstituierende Leistung der Beobachtung« (155) bildet auch die Grundlage und Legitimation für ihr Konzept des ›wilden Vergleichens‹.

Als letzte Beiträgerin des ersten Teiles liefert Barbara Ventarola mit »Weltliteratur(en) im Dialog. Zu einer möglichen Osmose zwischen Systemtheorie und postkolonialen Theorien« einen luziden Überblick über Differenzen und Anschlussmöglichkeiten postkolonialer Theorien und Systemtheorie. Ventarola buchstabiert dabei nicht nur die Schwachstellen in Systemtheorie und besonders Bhabhas Konzept der Hybridität durch. (Stark zusammengefasst: Während das Problem des luhmannschen Ansatzes u.a. in dessen letztlich eurozentristisch grundiertem Universalitätsanspruch liege, beziehe sich auch Bhabha stark auf im Wesentlichen ›westliche‹ Theoretiker und verfalle zudem selbst immer wieder in binäre Logiken und vereinfachende Entdifferenzierungen.) Ihr Beitrag macht sichauch die Skizzierung konkreter Vorschläge zu einer wechselseitigen Revision der beiden Theoriegebäude zum Programm. Ziel ist dabei der Entwurf »einer neuen kulturellen Theorie dialogischer Polysystematizität« (162), die es eher vermag, auf die Komplexität einer globalisierten Weltordnung zu reagieren. Der Beitrag schließt mit dem Vorschlag eines komplexen Programms zu einer theoretischen Revision bekannter Konzepte von Weltliteratur entlang der kritischen Reflexion und Ausdifferenzierung von Kriterien wie transnationaler Zirkulation, Thematik, Textpragmatik und ästhetischem Rang.

Der zweite und kürzeste Teil, »Welten«, konzentriert sich auf die Untersuchung konkreter kultureller und gesellschaftlicher Phänomene mithilfe sowohl postkolonialer als auch systemtheoretischer Beobachtungstechniken und Begriffskomplexe. So untersucht Enrique Alcantara Granados in seinem Beitrag »Semantik und Negativität. Die Einführung der christlichen Doktrin in Mexiko« mithilfe von systemtheoretischen Kategorien untersucht, wie sich im Rahmen der Eroberung des aztekischen Reiches und der Christianisierung der indigenen Volksgruppen Mexikos eine differenzierende Semantik herausbildete, die zu einer »stratifizierten sozialen Ordnung« (197) beitrug, indem sie Spanier und Indigene in ein hierarchisch strukturiertes Verhältnis zueinander setzte. Das behandelte Problem verortet Granados deutlich im Interessensbereich postkolonialer Ansätze. Diese möchte er besonders durch die von der Systemtheorie bereitgestellten präzisen »Konzepte von Gesellschaft, Kommunikation und selbstreferentieller Sinnproduktion« (199) ergänzen, um so eine größere Komplexität in der soziologischen Beschreibung der modernen Gesellschaft zu erreichen. Sarah Hilterscheid wiederum bezieht sich in ihrem Artikel »Weltkunst – Beobachtung der Differenz und Differenz der Beobachtung« auf aktuelle Tendenzen und Bestrebungen in der modernen Ausstellungspraxis, im Sinne eines postkolonialen Impetus auch bislang aus dem Kanon westlicher Kunst ausgeschlossene Werke zu präsentieren. Sie betont dabei die Notwendigkeit, die Bedingungen und Möglichkeiten neuer globaler Ausstellungspraktiken und deren potentiell ebenfalls essentialisierende Selektionskriterien kritisch zu reflektieren. Dabei bieten sich für die Autorin besonders systemtheoretische Ansätze an, um diese Mechanismen der Differenzbildung genauer zu untersuchen. Diese Ansätze, so Hilterscheid, eröffneten »Beobachtungsmöglichkeiten auf einer Meta-Ebene, um die Bedingungen und globalen Mechanismen des Kunstsystems zu reflektieren«. (232)

Im dritten Teil, »Literaturen«, sollen schließlich mögliche Synergieeffekte von Systemtheorie und postkolonialen Theorien, die sich aus dem beiden Denksystemen inhärenten differenztheoretischen Potential ergeben, im Hinblick auf die Analyse konkreter Texte herausgearbeitet werden. Der erste Beitrag mit dem Titel »Anschlussfähigkeit und postkoloniale Welt. Zum Stellenwert des Romans in Luhmanns Systemtheorie« von Vladimir Biti löst dieses Versprechen des konkreten Textbezugs zunächst nur bedingt ein. Biti liefert eine umfassende theoretische Reflexion über die Situierung luhmannschen Denkens insbesondere Spannungsfeld von Strukturalismus und Poststrukturalismus und stellt dabei eine Überlegung zur Anschlussfähigkeit von Systemen in den Mittelpunkt. Die größtmögliche Anschlussfähigkeit, so Biti, wird im Denken Luhmanns sowohl in der Weltgesellschaft als auch im Erzählkunstwerk erreicht. Luhmann beschreibe beide einerseits als zunächst indifferent und formbar, betone dann aber, dass sie andererseits vorgeblich implizite Notwendigkeiten in sich bergen. Diese Überlegungen reflektiert Biti im Folgenden kritisch und bringt sie mit der Frage nach der Beschreibbarkeit eines ›Anderen‹ in Verbindung, wobei er besonders die Anschlussfähigkeit des Romans in seiner engen Verknüpfung zum europäischen Kolonialismus und dessen Exklusionsgesten problematisiert.

In ihrem an Biti anschließenden Beitrag »Zwischen Tropenfieber und Menschenfleisch. Robert Müllers Tropen differenztheoretisch« liefert Daniela Kirschstein eine differenzierte Analyse von Müllers Text. Sie zielt darauf ab, vor dem Hintergrund postkolonialer Fragestellungen und mit Begrifflichkeiten der Systemtheorie in der Rezeptionsgeschichte des Textes bereits beschriebene Aspekte gewissermaßen verfremdend und anders zugänglich zu machen. Anschlussfähig sind für sie besonders systemtheoretische Überlegungen zur Stabilität von Differenzstrukturen trotz deren theoretischer Instabilität und Dekonstruierbarkeit. Auch rückt sie die systemtheoretische Sensibilität für die Rolle des Beobachterstandpunktes als Bedingung des Wie der Unterscheidung in den Blick. Dabei macht sie einerseits sichtbar, wie in Müllers Text u.a. durch das beständige Shiften von Positionsunterscheidungen eine »Unentscheidbarkeit des gesamten Textes« (299) entstehe. Andererseits kommt Kirschstein zu dem Schluss, dass in Tropen die Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen Beobachter und Beobachtetem in letzter Instanz nie völlig aufgehoben wird, »denn gerade das Zusammenbrechen der identitätssichernden Struktur garantiert [...] das Fortbestehen der Struktur.« (311)

Remigius Bunias abschließender Beitrag »Seid fruchtbar und diversifizieret euch! Zu Differenz und Identität gleichgeschlechtlich Liebender unter anderem in Rimbauds Une Saison en enfer« umkreist die Frage nach der »Benennung und Schaffung einer Differenz und einer Identität« (317) ›des Homosexuellen‹. Die Feststellung, dass diese Differenz erst im Laufe des 20. Jahrhunderts institutionalisiert und damit literarisch inszenierbar wurde und in Rimbauds Texten so noch nicht zu finden sei, dient Bunia dabei nur als Ausgangspunkt dafür, über die Möglichkeit einer immer weiteren Ausdifferenzierbarkeit homosexueller Identität nachzudenken. Genau in dieser Idee einer weiteren Ausdifferenzierbarkeit durch die Schaffung von Identität durch Abweichung und damit auch in der Absage an Universalismen sieht Bunia den Berührungspunkt von systemtheoretischen, dekonstruktivistischen und kulturwissenschaftlichen Positionen. Diese Überlegung gipfelt für ihn aber letztlich in der Forderung, die Konzepte von Identität und Differenz zugunsten des (auf eine deutlichere Prozessualität) abzielenden Begriffs der ›Efformation‹ aufzugeben.

3. Zusammenfassende Bemerkungen

Zunächst einmal ist festzustellen, dass besonders die voraussetzungsreiche Einleitung des Bandes in der Systemtheorie weniger beschlagenen LeserInnen den Einstieg nicht gerade leicht macht. Dies ist nicht nur dem auf den ersten Blick relativ hermetischen systemtheoretischen Jargon geschuldet, der die LeserInnen hier gewissermaßen in medias-res mit einer Vielzahl an Fachtermini konfrontiert. Auch das teilweise nur stichworthafte Anzitieren bestimmter Konzepte und Namen dort, wo eine etwas genauere Erklärung des Kontextes wünschenswert erscheint, erweist sich als eine erste Hürde. Zudem manifestiert sich bereits in der Einleitung das Problem, dass das Zusammenbringen zweier so monumentaler und in sich heterogener Theoriegebäude wie der Systemtheorie und der postkolonialen Theorien zwangsläufig eine starke Selektion und Konzentration auf bestimmte Aspekte erfordert. Dass dieses notwendige Verfahren dementsprechend Gefahr läuft, sich dem Vorwurf einer erratischen oder punktuell verkürzenden Darstellung bestimmter Aspekte auszusetzen, liegt auf der Hand. So wird auch in der kurzen Einleitung nicht immer ganz klar, warum so großes Augenmerk auf bestimmte AutorInnen wie beispielsweise Tzvetan Todorov gelegt wird, deren Überlegungen inzwischen in den postkolonialen Studien extensiv weiterentwickelt und zum Teil scharf kritisiert wurden, und warum demgegenüber andere, wie Homi Bhabha oder Gayatri Spivak zunächst bestenfalls kurz anzitiert werden. Auch haben sich in die Wiedergabe bestimmter Aspekte postkolonialer Theorien teilweise Ungenauigkeiten und Vereinfachungen eingeschlichen, die die Komplexität mancher Ansätze missrepräsentieren. So ist die Feststellung, für Susanne Zantop disqualifiziere sich ein Text durch die Verwendung bestimmter binärer Kategorisierungsmuster als kolonialistisch zumindest etwas zu stark formuliert. Dem differenzierten Umgang postkolonialer Theoretiker mit literarischen Texten, der sich eben nicht in der moralischen Aburteilung oder Disqualifizierung von Texten aus Gründen der political correctness erschöpft, wird mit dieser Darstellung nicht Rechnung getragen. Hier deutet sich aber auch ein prinzipielles Imageproblem postkolonialer Studien an. Bereits das theoretische Kapitel »Differenztheorien« jedoch kann eine Vielzahl dieser Kritikpunkte wieder einholen, indem es eine ausführlichere Auffaltung theoretischer Grundannahmen liefert und dadurch auch die starke Konzentration auf bestimmte TheoretikerInnen besser plausibel machen kann. Besonders einige der Einzelanalysen erweisen sich dann auch als ausgesprochen lohnenswert und brechen gerade in ihrer Heterogenität den in den theoretischen Vorannahmen teilweise stark auf die Spitze getriebenen Binarismus ›Postkolonialismus = konkret und überpolitisch‹ vs. ›Systemtheorie = abstrakt und blind für Machtstrukturen‹ auf.

Zwar bleibt in einigen Beiträgen der Einbezug postkolonialer Theorien relativ punktuell, tappen manche AutorInnen selbst in ihrem Bezug auf kulturelle Alterität in die Essentialisierungsfalle oder treffen verallgemeinernde Aussagen bspw. über ›die‹ postkolonialen Theorien. Insgesamt jedoch eröffnet die Mehrzahl der Beiträge interessante Perspektiven und Anschlussmöglichkeiten, die eine weitere Bearbeitung des Themenkomplexes von ›beiden Seiten‹ als sinnvoll erscheinen lassen. Dies gilt beispielsweise für das von Lars Eckstein und Christoph Reinfandt angestoßene Projekt einer postkolonialen »Revision der Systemtheorie« (122). Mit ihrer postkolonial inspirierten Lektüre einiger Textpassagen aus Luhmanns späteren Werken lenken die Autoren den Blick auf einen in der postkolonialen Theorie bisher weitgehend unbeachtet gebliebenen Textkorpus, dessen weitere Untersuchung ein wichtiger Beitrag zur einer weitreichenderen postkolonialen Neuperspektivierung theoretischer Texte sein könnte. Auch der systemtheoretische Fokus auf die Beobachtung zweiter Ordnung und die damit verbundene Forderung einer stetigen Standortreflexion scheint geeignet, innerhalb der postkolonialen Theorien bestehende, festgefahrene Binarismen zu problematisieren. In eine ganz ähnliche Richtung geht auch der anregende Beitrag von Barbara Ventarola, der deutlich die jeweiligen Schwachstellen in Systemtheorie und postkolonialen Studien (hier Bhabhas Konzept des Hybriden) aufzeigt, systematisch Programmpunkte zu einer bilateralen Revision und »katachrestischen Osmose« (184) der beiden Theoriekomplexe skizziert und eine explizite Anschlussmöglichkeit besonders für literaturwissenschaftliche Untersuchungen liefert.

Die Kopplung systemtheoretischer Ansätze mit Konzepten von Vertretern der postkolonialen Studien, die im europäischen postkolonialen ›Kanon‹ bislang teilweise unterrepräsentiert geblieben sind (wie beispielsweise mit den Arbeiten des argentinischen Historikers Walter Mignolo), ermöglicht zudem nicht nur eine fruchtbare Erweiterung postkolonialer Perspektiven in Richtung der Systemtheorie, sondern auch in Richtung der blinden Flecken innerhalb bestimmter Traditionen der Theorierezeption. Dabei untermauert der immer wieder auftauchende Verweis auf eine als stark moralisch gefärbt wahrgenommene Tendenz innerhalb der postkolonialen Studien auch die besonders in der postkolonialen Literaturwissenschaft in den letzten Jahren immer dringlicher gewordene Forderung nach einer expliziten Rückbesinnung auf das spezifisch ästhetische Potential von Texten, ihren »literarischen Eigensinn«.[1] Dass diese zentrale Tendenz innerhalb der postkolonialen Studien in dem langen Theoriekapitel nur in einer Fußnote explizit benannt wird, verdeutlicht aber auch, dass durch eine noch stärkere interdisziplinäre Zusammenarbeit bspw. auch mit Vertretern der postkolonialen Germanistik viel zu gewinnen wäre. Dabei erfüllt sich gerade in der partiellen Widersprüchlichkeit des Bandes das durch die HerausgeberInnen angekündigte Projekt, Systemtheorie und postkoloniale Theorien in einen riskanten Kontakt miteinander zu bringen und so einem »Denken im Dilemma den Weg zu eröffnen« (100) – trotz einiger Kritikpunkte bildet der vorliegende Band hierfür einen aussichtsreichen Auftakt.

Anmerkungen

[1] Herbert Uerlings, „Ich bin von niedriger Rasse“. (Post-)Kolonialismus und Geschlechterdifferenz in der deutschen Literatur. Köln: Böhlau 2006, S. 15f.. [zurück]

2016-05-29

JLTonline ISSN 1862-8990

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