Arne Klawitter

Theorie hoch drei. Das Vortheoretische der Theorie

Mario Grizelj, Oliver Jahraus und Tanja Prokić (eds.), Vor der Theorie. Immersion, Materialität, Intensität. Würzburg: Königshausen & Neumann 2014. 430 S. [Preis: EUR 49,80. ISBN: 978-3-8260-5392-4.

Wie kommen die Geisteswissenschaften zu ihren Gegenständen? Das ist die Grundsatzfrage, die alle Beiträge dieses Sammelbandes auf ihre spezielle Weise zu beantworten suchen. Den Ausgangspunkt bildet die wissenschaftstheoretische Einsicht, dass geisteswissenschaftliche Theoriebildungen (und das Gleiche gilt ebenso für die empirischen Wissenschaften) nicht von vorgegebenen Gegenständen ausgehen können, sondern diese im Vorhinein mit konstituieren, was zu Effekten führt wie dem hermeneutischen Zirkel, zu kybernetischen Rückkopplungsschleifen, dem sich selbst beobachtenden Beobachter oder zur Heisenbergschen Unschärferelation. Doch alle beschreiben sie dasselbe Phänomen und weisen auf dasselbe Problem, nämlich: Was kommt vor der theoretischen Reflexion? Was ist vor der Theorie? Jede Theorie stellt die Frage nach dem, was ihr als Theorie vorangeht. So viel, wie es Theorien gibt, so viele Vor-der-Theorie-Theorien gibt es auch, denn die Frage nach dem »Vor« der Theorie ist, wie könnte es anders sein, eine theoretische Frage.

Die Herausgeber gehen in ihrer Einleitung über die Phantasmen des Vortheoretischen von drei diskursiv uneinholbaren, undarstellbaren und vortheoretischen Momenten aus, die sie als Immersion, Materialität und Intensität charakterisieren. Immersion meint »ein medial induziertes, gegebenenfalls ästhetisches Erleben, das nicht nur seine Voraussetzungen unsichtbar werden lässt, sondern diese auch ihrer theoretischen Erfassung entzieht« (10). Materialität bezeichnet »jene stofflichen Eigenschaften von Medien, die ihrer medialen Funktion noch vorausgehen, diese zwar ermöglichen, aber zugleich stören und im Erleben als Widerständigkeit zu spüren sind«, und unter Intensität ist schließlich »eine skalierbare Qualität des Erlebens« zu verstehen, »die sich ihrerseits einer Theoretisierung umso mehr entzieht, je stärker sie angesetzt wird« (10).

Alle Definitionen beziehen sich auf das ›Erleben‹, also auf die primäre Wahrnehmung. Nun ist dieses Problem eines Vor-der-Wahrnehmung schon in Konzepten wie der diskursiven Ordnung von Foucault längst bedacht worden. Was also ist neu? Die Innovation sehen die Herausgeber, wenn sie nach dem epistemologischen, ästhetischen und praxeologischen Ort und Status dieser vortheoretischen Momente fragen, gerade in dem ausgespannten Begriffsfeld von Immersion, Materialität und Intensität. Es geht ihnen darum, die »Selbstimmunisierung der Theorie auszuhebeln« (12), indem sie die Phantasmen des Vortheoretischen als solche aufzeigen und ihren vortheoretischen Status hinterfragen.

Diese Intention bestimmt insbesondere die ersten beiden Aufsätze des Sammelbandes. Dieter Mersch geht in seinem Beitrag »Vor dem ›Realen‹« zu der alten Differenz von Sein und Erkenntnis zurück, um die Art und Weise der Bezugnahme zum Realen zu ergründen, denn »[j]eder Konstruktivismus find[e] an dieser Differenz seine Grenze« (19). Eine Bezugnahme setzt stets ein ›Anderes‹ voraus, das sich nicht in der jeweiligen Begriffsordnung auflösen lässt. Doch schreibt sich das ›Reale‹ des vor der Theorie als die Differenz eines ›es gibt‹, dessen Neutrum ›es‹ unbestimmt bleibt, in die theoretische Ordnung ein und lässt dabei die Modalität des Bezugs erkennen und gibt so die Kontur dessen vor, was ›ist‹ und sein kann. Was aber mit dem Ausdruck ›das Reale‹ letztlich angesprochen werde, so Mersch, sei »jene Negativität, die nicht negiert werden k[önne], ohne die ›Vor-aus-Setzungen‹ des Denkens mit abzugraben« (32). Begriffe wie das ›Unverfügbare‹ weisen darauf hin, dass hier etwas »ekstatisch aus sich heraus[steht]« (32), das sowohl dem Denken als auch dem Realen selbst zuvorkommt. Mersch beschließt seinen Aufsatz mit dem Fazit: »Nicht die Logik, Alogik oder Differentialität des Denkens, die Infinität der Figuren und ihrer Defigurationen interessiert, sondern das, was ins Denken hineinscheint, um sich ihm unlöschlich einzuprägen, das als solches nicht gedacht werden kann, aber dennoch seine unverzichtbare Anerkenntnis verlangt: Eine Ethik der ›Ex-sistenz‹ [...]« (34).

Auch der zweite Beitrag von Oliver Jahraus versucht jenen »Nullpunkt« zu erfassen, der sich als das Vortheoretische kennzeichnen ließe, jedoch »ohne dass die theoretische Bestimmung es von Anfang an kontaminiert, verfälscht und ein undurchschautes oder gar undurchschaubares Phantasma evoziert« (39). Ein Text, der eindrucksvoll den Bezug zum Vortheoretischen verdeutliche, so Jahraus, sei Kafkas Parabel »Vor dem Gesetz«, denn in ihm werde nicht nur die Idee des ›Vor‹ in einer ganz einzigartigen und gleichnishaften Szenerie zur Darstellung gebracht, sondern darüber hinaus auch noch ein anderer Bereich evoziert, nämlich der des Gesetzes, den man sowohl juristisch als auch religiös verstehen könne – und auch reflexiv-theoretisch, wie Derrida in seiner Interpretation (in Préjugés) gezeigt hat. Am Ende seiner Ausführungen schlägt Jahraus eine theoretische Modellierung des Vortheoretischen vor, in der die Begriffe Literatur und Gesetz als »abkürzende Begriffe« (54) aufgefasst werden, wobei mit Literatur Formen von Texten und mit Gesetz eine Text-, Literatur- und Medien-Theorie gemeint seien. Das Vortheoretische wäre in diesem Modell das, »was die Theorie an den Texten als dasjenige produziert (hervortreibt), was sie selbst nicht erfassen kann« (54).

Die darauf folgenden Beiträge ordnen sich nach drei Schwerpunkten: Theorie, Medien, Geschichte. Mario Grizelj zeigt in seinem Aufsatz über Clemens Brentano und dessen Hang zur religiösen Mystik, wie die Grenze des Denkens an Figuren sichtbar wird, die zugleich Grenzfiguren sind: Bruch, Riss, Wunde, und an denen die Form der Bezugnahme auf das ›Andere‹ deutlich werde. Mirjam Schaub demonstriert, wie der Zombie als theoretische Denkfigur und ›phänomenales Unding‹ während der 1960er Jahre in die Pop-Kultur eindrang und fortan als Transgressionsfigur und als Explikationsfigur für verschiedenartige Störungen durch die theoretischen Diskurse geistert. »Der Zombie kündet als Kunstfigur wie als Begriffsdummy von der unfreiwilligen ›Rückkehr des Verdrängten‹. Er wird zum Menetekel der Unausrottbarkeit, wenn eine Zivilisation – oder Theorieschule – fürchten muss, über das Stupende, Läppische, Missliebige und Unerwünschte weder durch Missachtung noch durch Argumente länger triumphieren zu können« (125).

Den »Theoretizismus als Problem« geht Marc Rölli mit den Philosophen Nietzsche, Deleuze und Dewey an und unterstreicht die Dringlichkeit einer pragmatischen Theorie des ›situierten Wissens‹, während Stephan Günzel den Aspekt der Räumlichkeit vor der Theorie untersucht. Einen stärker politischen Bezug weisen dagegen die Aufsätze von Vladimir Bitti mit Verweis auf Hannah Arendt und Ivana Perica auf, die Hannah Arendt und Jacques Rancière aufeinander bezieht, während Tanja Prokić den poetologischen Text Magdalena am Grab (2003) von Patrick Roth vor dem Hintergrund neuerer Intermedialitätstheorien liest und zu dem Ergebnis kommt, dass vor der Theorie Literatur sei, »insofern sie sich poetologisch reflektier[e]« und dabei »keine Supertheorie, auch keine Metatheorie« entwickle, sondern »vielmehr eine Metareflexion auf die Prozessualität von Literatur, ihrer produktions- und rezeptionsästhetischen Parameter« (233).

Der zweite Block mit Aufsätzen zum Schwerpunkt »Medien« setzt sich hauptsächlich mit dem Bild auseinander und mit dem, was vor dem Bild ist. In seiner Analyse fotografierter Schreibszenen hebt Matthias Bickenbach den Moment des innehaltenden Stifts hervor, der den Riss zwischen Bewegung und Stillstand anzeigt, und geht der Frage nach, wie das Schreiben als eine entzogene Eigenmacht inszeniert wird. Die durch Bilder implizierte Gegebenheit von Tat-Sachen beleuchtet Christoph Reinfandt in seinem Beitrag »Was der Fall ist« mit Bezug auf Luhmann, während J. Alexander Bareis den ›blinden Fleck‹ der Erzähl- und Interpretationstheorie ins Visier nimmt und aufweist, inwieweit jeder Narratologe notwendigerweise fiktionale Wahrheiten generieren muss, um beispielsweise die Kategorie des Erzählers identifizieren zu können (vgl. 320).

Der dritte Block mit dem Schwerpunkt »Geschichte« beschäftigt sich zum einen mit vortheoretischen Affekten, vor allem dem Staunen als einer ästhetischen Emotion zwischen Genuss und Erkenntnis, und zum anderen mit dem Akustischen, das z.B. bei Herder der theoretischen Reflexion und mithin der Philologie vorausgeht. Christian Kirchmeier befasst sich schließlich mit dem »historischen Ort von Schillers Ueber naive und sentimentale Dichtung« und geht dazu der Begriffsgeschichte von ›Naivität‹ nach, um dann Schillers Ansatz selbst zwischen Typologie und Historiographie zu verorten. Im letzten Beitrag versucht Christian Kohlross, das Grundproblem aus Sicht der philologischen Forschung noch einmal auf den Punkt zu bringen und fragt, was denn eigentlich eine philologische Frage sei. Die Antwort darauf führt ihn zur Maxime von Leibniz zurück, dass letztlich nichts ohne Bedeutung sei: »Indem die Philologie des Nichts vom Nichts handelt, handelt sie im Grunde gar nicht vom Nichts, sondern von all dem, von dem überhaupt gehandelt werden kann.« (429)

Alle Beiträge verbindet, dass sie verschiedene Positionen der jüngeren Theorieentwicklung kritisch und produktiv auszuwerten versuchen, die sich gleichzeitig als Überwindung oder Übersteigerung bisheriger Theorien verstehen, sei es im Sinne eines Konstruktivismus oder einer Posthermeneutik. Die Frage nach dem Vor-der-Theorie bedeutet keineswegs ein Ausweichen des Theoretischen, sondern, ganz im Gegenteil, eine Intensivierung der theoretischen Reflexion. Doch wird das Gesamtbild des Bandes dadurch getrübt, dass sich die einzelnen Beiträge zum Teil zu sehr in ihren Gegenständen verlieren, ohne auf die entscheidende Frage nach der diskursiven Konstruktion des Vortheoretischen zurückzukommen, oder dass sie lediglich altbekannte Modell-Lösungen bieten. Auch werden die verwendeten poststrukturalistischen Ansätze nicht ergiebig genug genutzt und hätten noch tiefgründiger ausgelotet werden können. So bleibt das Vortheoretische auch weiterhin ein spannendes Thema und mithin ein Desiderat (in) der Literaturtheorie.

2015-03-23

JLTonline ISSN 1862-8990

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