Ralf Klausnitzer (Berlin)

Lassen sich Interpretationen bewerten?

Mirco Limpinsel, Angemessenheit und Unangemessenheit. Studien zu einem hermeneutischen Topos. Berlin: Ripperger & Kremers 2013. 399 S. [Preis: EUR 34.90]. ISBN 13: 978-3-943999-01-3.

Wer interpretative Aussagen (über einen Text, ein Bild oder andere Artefakte) macht und sie anderen Menschen (etwa in einem Seminar, auf einer Konferenz oder mit einem wissenschaftlichen Aufsatz) mitteilt, geht in der Regel davon aus, dass diese Aussagen dem interpretierten Gegenstand angemessen sind. Wohl kaum ein Interpret würde seine Auslegungen selbst als unangemessen bezeichnen – denn welcher Hörer oder Leser hätte dann noch Interesse an ihnen? Dementsprechend findet sich das Attribut unangemessen vor allem dann, wenn es darum geht, interpretative Textumgangsformen anderer Akteure bzw. Wissenschaftler zurückzuweisen: In diesen Zusammenhängen fungiert das Attribut zumeist als Synonym für ein fehlgehendes und das ›Wesen‹ der Sache bzw. die ›Wahrheit‹ verkennendes Verständnis (wogegen dann das eigene Verständnis als angemessen abgegrenzt und herausgehoben werden kann). Was jedoch über die Angemessenheit des eigenen Handelns mit Texten und Zeichen entscheidet und wie sich angemessene Interpretationen von unangemessenen Auslegungen abgrenzen lassen, ist ein ebenso brisantes wie systematisch noch weitgehend ungeklärtes Problem der textinterpretierenden Disziplinen. Wie Mirco Limpinsel in seiner hier anzuzeigenden Dissertation bereits in der Eingangspassage der Einleitung festhält, sind die (selbstbezogenen) Behauptungen von Angemessenheit (wie auch der vor allem in Methodenkontroversen vorgebrachten Vorwürfe der Unangemessenheit ubiquitär – »ohne dass freilich klar wäre, was damit überhaupt gemeint sein soll« (S. 7).

Dieses Problemfeld der Angemessenheit und Unangemessenheit im interpretativen Umgang mit Texten bildet das Thema der Doktorarbeit von Mirco Limpinsel, der sich damit viel vorgenommen hat. Denn die Frage nach den Relationen von auslegenden bzw. exegetischen Aussagen zum interpretierten Text betrifft nicht nur grundlegende epistemische Prozeduren im Umgang mit Texten und Textwelten, denen in komplexen Prozessen des Lesens, Verstehens, Interpretierens auf je spezifische Weise Bedeutung (bzw. Bedeutungen) zugeschrieben werden können. Sie tangiert vielmehr auch die kommunikativen und sozialen Aspekte von interpretativen Textumgangsformen. Wie hermeneutische Überlegungen seit Schleiermacher wissen, führen die Prozeduren des individuellen Lesens und Verstehens zu Bedeutungshypothesen, die in nachfolgenden Anschlusskognitionen auf zumeist privative Weise modifiziert oder verworfen werden können. Dagegen sind die nicht minder komplexen Tätigkeiten des Interpretierens an Gemeinschaften gebunden: Interpretiert wird (auf Aufforderung) in Schulklassen und im philologischen Seminar, auf wissenschaftlichen Tagungen und in publizierten Texten, kurz: in Interpretationsgemeinschaften, die nicht erst seit den Nachfragen von Stanley Fish erforscht werden. In diesem Zusammenhängen kommt dem traditionsreichen und aus der antiken Rhetorik stammenden Begriffspaar Angemessenheit/ Unangemessenheit gleich mehrfach dimensionierte Bedeutung zu: Der Topos Angemessenheit markiert die ›Richtigkeit‹ der eigenen bzw. der argumentativ geteilten Bedeutungskonzeption, auf deren Grundlagen interpretative Aussagen gemacht werden (können), funktioniert er doch in seiner Auszeichnung des Interpretationsgegenstandes als gleichsam basale Instanz zur Rechtfertigung von Entscheidungen – ohne dass er offengelegt werden muss. Dementsprechend übernimmt sein Gegenbegriff exkludierende Funktionen: Unangemessenheit ist eine Zuschreibung, die in kommuni kativen Auseinandersetzungen vorgebracht wird, um Geltungsansprüche als nicht adäquat auszugrenzen – und zwar epistemisch (auf der Ebene der Gegenstandskonstitution) als auch sozial (indem damit eine Stopp-Regel impliziert ist, die zum Abbruch der Kommunikation führen kann).

Vor diesem ebenso theoretisch anspruchsvollen wie praxeologisch herausfordernden Hintergrund ist es nur folgerichtig, wenn der Autor keine Begriffsgeschichte der Angemessenheit schreiben will, sondern sich den Funktionen dieser Markierungs- und Kampfvokabel innerhalb des Kommunikationssystem der Textauslegung zuwendet. Seine Überlegungen suchen auch nicht nach Bedingungen und Kriterien von Angemessenheit, sondern rekonstruieren Angemessenheit als »argumentative[n] Topos, das heißt als allgemeine Prämisse, die die Plausibilität eines Ansatzes rechtfertigen soll, ihrerseits aber nicht explizit gemacht werden muss« (S. 9).

Mit dieser Auffassung von Angemessenheit als argumentativem Topos und der darauf fußenden Exponierung zu einem »hermeneutischen Topos« (S. 25) sind die entscheidenden Weichenstellungen der Arbeit benannt: Zum einen wird das epistemische Modell der formalen Logik als normative Grundlage für Textinterpretationen zugunsten eines topischen Modells verabschiedet, zum anderen wird Angemessenheit nun nicht mehr als zweiwertiges Wahrheitskriterium, sondern als graduelles Kriterium bestimmt. Die Voraussetzungen und Konsequenzen dieser Weichenstellungen sind noch einmal hervorzuheben: Die explizit ausgesprochene Perspektive als »Beobachtung zweiter Ordnung« (S. 18), die den Streit der literaturwissenschaftlichen Interpretationen als »Gegenstand« behandelt (»anstatt material in sie einzusteigen und auf Ebene des dort Verhandelten einzugreifen«, ebd.) ermöglicht es Mirco Limpinsel, gleichsam einen Schritt zurückzutreten und die Verwendungsweisen des Angemessenheits-Begriffs innerhalb der diskursiven Einsätze zu studieren. Dabei zeigt sich, dass die Verwendungsweisen des Angemessenheits-Begriffs von unhinterfragten Überzeugungen getragen sind: Arbeiteten ältere hermeneutische Positionen »mit gleichsam selbstevidenten Grundannahmen, die kaum sinnvoll als kontingente Wahl beschrieben werden können« (S. 21), so postulierten Vertreter einer analytischen Literaturwissenschaft die »optimale Rationalität« als Qualität von Interpretationen (obwohl doch »die normative Annahme von bestimmten Rationalitätskriterien selbst eine unhinterfragte Überzeugung ist, die zu substantiellem Dissens führen kann«, S. 21). Mit anderen Worten: Bedeutungszuweisende Operationen sind letztlich kontingente Wahlhandlungen, die vor dem Hintergrund zeittypischer Plausibilitäten evident erscheinen mögen, doch keinesfalls aus der Natur der Sache fließen. Eben deshalb plädiert der Verfasser für eine Umstellung, deren Reichweite und Implikationen an späterer Stelle zu diskutieren bleibt: Literaturwissenschaftliche Textumgangsformen und speziell die Hermeneutik sollen nicht nach dem Modell eines deduktiven Systems von Sätzen rekonstruiert und handlungstheoretisch mit formaler Logik traktiert werden, sondern nach dem Modell der Topik erfasst werden: »Die Frage ist dann nämlich nicht mehr, ob eine geäußerte Behauptung wahr oder falsch ist, sondern eher, ob und warum sie zu überzeugen vermag oder nicht.« (S. 24)

Die Substitution der Wahrheitsprüfung durch Plausibilitätsanalyse hört sich zunächst einmal fürchterlich relativistisch an. Tatsächlich aber eröffnet sie den Blick auf die Art und Weise der Begründung hermeneutischer Schlüsse und Theoreme – unabhängig von den inhaltlichen Ausgestaltungen und dem Bezug auf die verhandelten Gegenstände. Indem die topischen Verwendungsweisen der Kategorien »Angemessenheit«/ »Unangemessenheit« in unterschiedlichen Hermeneutiken analysiert werden, geraten kontinuierliche Problemstellungen und veränderte Aspekte dieser Textumgangsformen in den Blick. Damit – und das macht der Autor Mirco Limpinsel explizit deutlich – soll nicht noch einmal eine Geschichte der Hermeneutik geschrieben werden. Ziel ist vielmehr die exemplarische Rekonstruktion dessen, »was im Nachdenken über Texte ihre Interpretation konstant und was variabel ist« (S. 30).

Es spricht für die intellektuelle Redlichkeit des Verfassers, wenn er schon in seiner Einleitung auf die methodischen Probleme seiner exemplarischen Rekonstruktion hinweist: In den hermeneutischen Theorien ist kaum wörtlich und nur selten in systematischer Weise von »Angemessenheit« die Rede; dementsprechend klärungsbedürftig sind die heuristischen Schritte, die eine Identifizierung des Topos gestatten sollen. Mirco Limpinsel entscheidet sich für die historische Perspektive und zieht die antike Rhetorik heran, in der Angemessenheit (aptum) nicht selten als wichtigste Stilqualität des überzeugenden Orators galt. Das erste Kapitel (Rhetorische Topik der Angemessenheit, S. 35-54) trägt also zunächst Bedeutungsaspekte zusammen: Angemessenheit einer Rede an ihre Umstände; Maß und Mitte zwischen zwei Extremen; Verhältnis von Teil und Ganzem; Urteilsvermögen des Redners; Erfordernisse der Sache selbst. Die so gewonnenen »Suchbegriffe« (S. 32, 33 u.ö.) erlauben es, in nachfolgenden Texten spezifische Referenzen zu entdecken und diese als »Aktualisierungen des Angemessenheitstopos« zu behandeln. Der nachfolgende Abschnitt (Die logischen Hermeneutiken der Aufklärung, S. 53-98) widmet sich den Auslegungslehren von Johann Martin Chladenius und Georg Friedrich Meier, verzichtet also auf frühere (bibelhermeneutische) Einsätze und zeigt auch, »was an Meiers Theorie verändert werden müsste, damit wir sie heute als valide Theorie zur Textinterpretation ansehen könnten« (S. 98). Das zentrale und umfangreichste dritte Kapitel (Philologie zwischen Kunst und Wissenschaft, S. 99-290) widmet sich der »Entstehung der hermeneutischen Angemessenheit« (so eine Zwischenüberschrift S. 100) und erklärt sie aus der Umstellung von rhetorischer Kopier- und Normenkultur zu einer scheinbar regelbefreiten Individual-Ästhetik: »Wenn aber jedes Kunstwerk einzigartig ist, dann muss auch die Hermeneutik sich jedes Mal neu fragen, ob sie ihm wohl gerecht wird. [...] Es verkehrt sich nun die Richtung der Angemessenheit. Gerade weil das Werk seinen Umständen nicht mehr (im rhetorischen Sinne) angemessen sein muss, muss sich die Hermeneutik ihrerseits dem Werk anmessen, das heißt: Sie muss die Maßstäbe der Interpretation auf das als Selbstzweck vorausgesetzte und anerkannte Kunstwerk je neu anpassen.« (S. 103)

Durchaus nachvollziehbar rekonstruiert Mirco Limpinsel die sich daraus ergebenden Konsequenzen, namentlich für Friedrich August Wolf. Doch scheinen die Verhältnisse vielleicht etwas komplizierter zu sein, als es die großflächige Darstellung suggeriert – so etwa, wenn es im Zusammenhang mit der »Entstehung der hermeneutischen Angemessenheit« heißt, mit dem individuell erscheinenden Kunstwerk des 18. Jahrhunderts könne man sich »nicht mehr auf allgemein verbindliche Konventionen verlassen, sondern muss jedes Werk als einzigartiges Gebilde ansehen, für dessen Beurteilung und Interpretation es keine vorab gewisse Regeln mehr geben und das auch nicht mehr durch die Analyse seiner Ursachen erklärt werden kann« (S. 102). Ohne die wichtige Frage nach den Regeln von Bedeutungszuweisungen hier auch nur ansatzweise entfalten und klären zu können, sei nur kurz darauf hingewiesen, wie weitreichend bestimmte Regularien wirkten und wie komplex sich die Transformationen von Regelwissen vollzogen. Ein Beispiel für die langwierigen Umstellungsprozesse ist etwa das im Rahmen der interpretatio grammatico-historica ausgebildete Prinzip des sensus auctoris et primorum lectorum, das Möglichkeiten zur Bedeutungszuschreibung fixierte und limitierte – und zwar durch methodische Berücksichtigung jener Sinnhorizonte, die den historischen Adressaten prinzipiell mitteilbar und verständlich gewesen waren. Dieser Rekurs auf die historischen Entstehungsumstände wird im 18. Jahrhundert noch verstärkt und als Regel fixiert: Es war Christian Gottlob Heyne, der im Göttinger Seminarium philologicum grundlegend wirkte und in seiner bekannten Lobschrift auf Winkelmann [sic] als ›erste Regel bey der Hermeneutik der Antike‹ formulierte: »Jedes alte Kunstwerk muß mit den Begriffen und in dem Geiste betrachtet und beurtheilt werden, mit welchen Begriffen und in welchem Geiste der alte Künstler es verfertigte.«[1] – Ähnlich betont es Friedrich August Wolf, der mit seinen Prolegomena ad Homerum und der Begründung eines Philologischen Seminars an der Universität Halle wesentliche Anstöße für die Disziplinierung der philologischen Wissenskultur gab: »Was erforderlich ist, dass man bei der Er klärung eines jeden Schriftstellers, sich in das ganze Zeitalter und in eine Reihe von Dingen versetzt und auch im Stande ist, sich in den Kreis zu versetzen, worin die Verfasser schrieben.«[2] – Und so formuliert es auch August Boeckh, der in Halle bei Wolf und Schleiermacher studiert hatte und 1810 einem Ruf an die neu gegründete Berliner Universität folgt. Der »Sinn einer Mittheilung« sei bedingt durch die »realen Verhältnisse«, unter denen sie erfolgt und »deren Kenntnisse bei denjenigen vorausgesetzt wird, an welche sie gerichtet sind. Um eine Mittheilung zu verstehen, muss man sich in diese Verhältnisse hineinversetzen«, heißt es vor der Formulierung eines Imperativs, der als »wichtiger Kanon der Auslegung« hervorgehoben ist: »man erkläre nichts so, wie es kein Zeitgenosse könnte verstanden haben«.[3] Noch Emil Staiger, der im 20. Jahrhundert als Wortführer einer vermeintlich ›werkimmanenten Interpretation‹ auftritt, sieht explizit die Leistung kulturgeschichtlicher und sozialhistorischer Kontextinformationen darin, den Interpreten »in die Lage eines zeitgenössischen Lesers« zu versetzen.[4]

Dieser knappe Hinweis kann und soll die Einsichten nicht schmälern, die in diesem sowie im darauffolgenden historischen Kapitel vorgetragen werden, bevor eine systematische Synopse die stets flüssig geschriebene und gut lesbare Arbeit beschließt. Das Kapitel »Dichtung und Wahrheit im 20. Jahrhundert« (S. 291-336) erhellt die Wirkungen der Philosophen Wilhelm Dilthey und Hans-Georg Gadamer auf literaturwissenschaftliche Textumgangsformen und zeigt, wie hier auf unterschiedliche Weise der »Gegenstand ›Kunstwerk‹ nicht mehr topisch vorausgesetzt, sondern philosophisch expliziert« wird (S. 291) – was dann eine »buchstäbliche Philosophie des Angemessenen« auftreten lässt (ebenda). Auch wenn hier explizit davon ausgegangen wird, dass »Diltheys Hermeneutik« vorrangig institutionell von Bedeutung war (denn sie »begründet die Geisteswissenschaften und nicht so sehr die Interpretation«, S. 294), mobilisiert Limpinsel dennoch genug Aufmerksamkeit, um die gewichtigen Umstellungen des Schleiermacher-Programms durch Dilthey und also den paradigmatischen Wechsel vom Text als organischer Ganzheit zum Text als Erlebnisausdruck zu erfassen. Die im letzten systematischen Kapitel u.d.T. »Der hermeneutische Topos der Angemessenheit« (S. 337-356) sowie im »Ausblick« (S. 357-360) vorgetragenen Systematisierungen vernetzen die diversen Aspekte des mehrschichtigen Begriffs und erlauben fruchtbare Anschlüsse – sowohl für eine hermeneutisch interessierte Historiographie der text- und zeicheninterpretierenden Disziplinen als auch für aktuelle praxeologische Überlegungen zur Konzeptualisierung und Vermittlung des Verstehens und Interpretierens. Der Schlusssatz des Buches macht noch einmal mit wünschenswerter Klarheit deutlich, was mit der hier vorgelegten Erinnerung an die Traditionen der Hermeneutik auf dem Spiel steht – denn er erklärt den »Angemessenheitstopos« zu einer Verkörperung der »Hauptfunktion der Hermeneutik«: »Sinnzuschreibungen zu ermöglichen, sie zugleich aber auf ein kontrolliertes Maß zu beschränken« (S. 360).

Es bleibt zu wünschen, dass dieser Band – wie auch der noch junge Verlag Ripperger & Kremers, der diese Publikation in ansprechender und leserfreundlicher Gestalt ermöglichte – die verdient Aufmerksamkeit findet.

Anmerkungen

[1] Christian Gottlob Heyne, Lobschrift auf Winkelmann: welche bey der Hessen Casselischen Gesellschaft der Alterthümer den ausgesezten Preis erhalten hat. Leipzig 1778, S. 13. [zurück]

[2] Friedrich August Wolf/ J.D. Gürtler (Hg.), Vorlesung über die Encyklopädie der Alterthumswissenschaft [1798]. Leipzig 1839, S. 283. [zurück]

[3] August Boeck/ Ernst Bratuschek (Hg.), Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften. Leipzig 1877, S. 82, 106. [zurück]

[4] Emil Staiger, Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters. Untersuchungen zu Gedichten von Brentano, Goethe und Keller. Zürich und Leipzig 1939, S. 13. [zurück]

2015-03-13

JLTonline ISSN 1862-8990

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