Philipp David Heine

Das Versprechen einer theoretischen (Neu-)Fundierung der Literaturgeschichtsschreibung

Matthias Buschmeier/Walter Erhart/Kai Kauffmann (Hg.), Literaturgeschichte. Theorien – Modelle – Praktiken. Berlin/Boston: de Gruyter 2014. VII, 384 S. [Preis: EUR 99,95]. ISBN: 978-3-11-028723-3.

Die Beschäftigung mit Literatur aus einer historischen bzw. historiographischen Perspektive ist innerhalb der literaturwissenschaftlichen Disziplinen eines der zentralen Arbeitsgebiete. Dennoch gibt es immer wieder Versuche, die Unmöglichkeit dieser Herangehensweise an literarische Texte zu erklären oder sie grundsätzlich in Frage zu stellen. Insbesondere in der Folge der sog. Posthistoire kam es bereits häufiger zu einer Verabschiedung der Literaturgeschichte und der mit ihr verbundenen Forschung. Weder die nach der Erschöpfung der großen Theoriedebatten zeitweise starke Rezeption poststrukturalistischer Ansätze noch die Auseinandersetzungen um eine Öffnung der Literaturwissenschaft in Richtung der Cultural Studies haben aber dazu geführt, dass dieses traditionelle Arbeitsfeld obsolet wurde. Vielmehr erfreuen sich historisch orientierte Projekte und Publikationen ungebrochener Beliebtheit und stellen nach wie vor einen Großteil der inner- wie außeruniversitären Forschungsbemühungen dar. Seit einiger Zeit ist sogar zu beobachten, dass sich die Literaturwissenschaft wieder verstärkt der Diskussion dieses Arbeitsfeldes widmet. Dabei zeigt sich allerdings, dass abgesehen von einem oberflächlichen Konsens zu den Funktionen und Aufgaben der Literaturgeschichte keineswegs Einigkeit darüber herrscht, wie die literarhistorische Arbeit im Detail zu gestalten ist. Vor allem bei der Behandlung theoretischer und methodologischer Zusammenhänge sieht man sich vor das Problem gestellt, dass es weit weniger allgemein verbindliche und anschlussfähige Aussagen gibt, als dies manche Diskussionsbeiträge suggerieren. In dieses Feld gegenläufiger Tendenzen der vermeintlichen Abschaffung und Wiederbelebung, des Niedergangs und der fortdauernden Konjunktur ist auch der hier zu besprechende Sammelband einzuordnen. Orientiert man sich an seinem an ein Kompendium oder ein Handbuch erinnernden Untertitel, scheint er dabei eine grundsätzliche und umfassende Erörterung des in Frage stehenden Forschungsgebietes zu versprechen.

Angesichts einer derart anspruchsvollen Aufgabe stellt sich jedoch die Frage, wie sich der Band genau in dem soeben skizzierten Forschungsfeld positioniert. Um die Programmatik der vorliegenden Publikation in Bezug auf die Diskussionen um die Literaturgeschichte zu erläutern, versuchen die Herausgeber in ihrer informativen, jedoch nur sehr knappen und meist nur exemplarisch illustrierten Einleitung die wesentlichen Stationen und Hintergründe der Debatten zu beleuchten. Im Anschluss an diese wenn auch nur bruchstückhafte Rekapitulation der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklungen kommen sie zu dem Schluss, dass allen Verlautbarungen zum Trotz »[e]in Ende der Literaturgeschichtsschreibung […] keineswegs abzusehen« (2) sei. Allerdings hätten »Literaturwissenschaft und Literaturtheorie […] die Literaturgeschichte in den letzten Jahrzehnten immer mehr zu einem Randgebiet theoretischer Reflexion und forschungsbezogener Fragestellungen erklärt« (ebd.). Das Vorgehen der Forschung in diesem Bereich sei daher »nicht nur widersprüchlich, sondern auch theoretisch prekär« (3). Die Herausgeber sprechen sogar plakativ von einer »Literaturgeschichtsschreibung ohne Theorie« (ebd.) oder einer »Literaturtheorie ohne (Literatur-)Geschichte« (ebd.), die die gegenwärtige Literaturwissenschaft kennzeichne, stützen dieses Urteil aber leider nur durch sehr wenige Beispiele. Als zentraler Punkt wird im Zuge eines kurzen Rückblicks auf die jüngere Entwicklung der Diskussionen um die Literaturgeschichte seit den 1960er Jahren vor allem moniert, dass die »grundlegenden Fragen nach einer theoretisch fundierten Literaturgeschichtsschreibung […] weiterhin offengeblieben« (4) seien und sogar auf ein »eklatantes Theorie-Defizit in der Konstitution literaturgeschichtlicher Gegenstände« (5) hingewiesen werden könne.

Diese Aspekte erneut in den Fokus der Diskussionen zu rücken und dabei von einem wieder aufzunehmenden Dialog zwischen den Literatur- und den Geschichtswissenschaften zu profitieren, ist erklärtes Anliegen des Bandes. Denn der Band wird nicht zuletzt in eine Reihe weiterer Veranstaltungen und Publikationen der Herausgeber eingereiht, als deren grundlegende Einsicht nach einer kurzen Rekapitulation (vgl. 4–7) formuliert wird, dass die gegenwärtige Aufgabe der Diskussion um die Literaturgeschichtsschreibung vor allem darin bestehe, »geschichtstheoretische Modelle, innovative Auswahlkriterien und narrative Konzepte für eine neu zu entwerfende Geschichte der Literatur zu entwickeln und jeweils miteinander zu verbinden« (7). Um diesen Zielen zu entsprechen, finden sich im vorliegenden Band insgesamt 18 Beiträge, die auf ein von 2011 bis 2013 an der Universität Bielefeld veranstaltetes Kolloquium zurückgehen und deren Aufgabe es sein soll, Perspektiven zu eröffnen und Versuche zu dokumentieren, die an den zuvor formulierten Ansprüchen weiterarbeiten. Die Vortragenden waren dazu angehalten, wie explizit in der Einleitung formuliert wird, »einerseits über aktuelle theoretische Perspektiven der Literaturgeschichtsschreibung zu informieren und zu diskutieren, andererseits neue Konzepte und Modelle einer Geschichte der Literatur im jeweils nationalphilologischen oder globalen Kontext vorzustellen und zu erproben« (ebd.).

Angesichts dieser recht offenen Zielsetzung verwundert es nicht, dass der Band entsprechend vielseitig ausgefallen ist. Sein Themenspektrum reicht von disziplin- und wissenschaftsgeschichtlich orientierten Ausführungen und Erfahrungsberichten aus der Forschungspraxis über die Präsentation einzelner theoretischer Ansätze bis hin zur Erörterung von einzelnen Problembereichen aus der Theorie und Methodologie. Eine kompendien- oder gar handbuchartige Publikation liegt jedoch nicht vor, auch wenn der Untertitel und die in der Einleitung formulierten Ansprüche dies zunächst suggerieren mögen. Gerade in diesem Zusammenhang ist zu kritisieren, dass die Gliederung der Publikation in zwei Teile mit den eher vagen Bezeichnungen »Methodische Überlegungen zur Literaturgeschichte« und »Modelle von Literaturgeschichtsschreibung« lediglich oberflächlich erscheint und kaum Informationswert besitzt. Zum einen steht diese Unterteilung in keinem erkennbaren Verhältnis zum dreiteiligen Untertitel, der Einblicke in Theorien, Methoden und Praktiken verspricht. Insbesondere die Forschungspraxis, die laut der Programmatik in theoretischer Hinsicht defizitär sein soll, da sie durch ein indifferentes Verhältnis zu elaborierten Konzepten der Literaturgeschichtsschreibung gekennzeichnet ist, scheint unterrepräsentiert. Zum anderen ist alles andere als klar, worin die Rationale hinter der Zweiteilung des Bandes bzw. der Unterschied zwischen den jeweils zugrunde gelegten Kategorien der methodischen Überlegungen und der Modelle besteht. Die recht knappen Bemerkungen der Einleitung bieten in dieser Hinsicht jedenfalls keine weiteren Hinweise und es ist nicht immer ohne Weiteres verständlich, weshalb manche Beiträge dem einen und nicht dem anderen Teil zugeordnet werden. So sind beispielsweise Dirk Werles Ausführungen, die mit einer an problemgeschichtlichen Ansätzen orientierten »Literaturgeschichte semantischer Einheiten« (63) ein eigenes Konzept von Literaturgeschichtsschreibung präsentieren, dem ersten und nicht dem naheliegenden zweiten Teil zugeordnet. Der Beitrag von Monika Schmitz-Emans hingegen ist in den Bereich der methodischen Ausführungen eingeordnet, obwohl es ihr nach eigener Aussage explizit »nicht darum [geht], Wege aufzuzeigen, auf denen die methodischen Probleme der (oder: ›einer‹) Literaturgeschichtsschreibung gelöst werden könnten« (123).

Unerfreulich ist hinsichtlich der Konzeption des Bandes außerdem, dass die Kriterien für die Auswahl und Zusammenstellung der Beiträge und Themen keinerlei nähere Erläuterung finden. Die Autoren stammen zwar aus unterschiedlichen Philologien und vertreten neben verschiedenen Nationalliteraturen auch verschiedene Ansätze des historiographischen Arbeitens, jedoch werden keine Hinweise darauf geliefert, ob sie in dieser Zusammensetzung ein repräsentatives Bild der Forschungslandschaft bieten. Nimmt man weiterhin den in der Einleitung formulierten Anspruch des Sammelbandes beim Wort, auch zukunftsträchtige Ansätze zu integrieren, dann ist zudem unverständlich, dass beispielsweise kein Vertreter empirisch orientierter Ansätze aus dem Bereich der Digital Humanities zu Wort kommt. Irritierenderweise ist zudem kein einziger Beitrag vertreten, der den in der Einleitung als abgebrochen beklagten Dialog mit der Geschichtswissenschaft erneut aufnimmt. Es werden lediglich einige wenige explizite Hinweise auf die Nähe der Literaturgeschichtsschreibung zu diesem Fach wie bei Jörg Schönert (vgl. 36–39) und Daniel Fulda (vgl. 101) oder Verweise der Herausgeber auf andere Publikationen geboten, die diese Zusammenhänge behandeln. Das den Band abschließende Verzeichnis mit bio-bibliographischen Angaben zu den Autoren kann diese Unklarheiten nicht kompensieren.

Bedenkt man, dass die Beiträge Einblicke in bereits etablierte und auch neue Theorien, Methoden und Praktiken des literarhistorischen Forschens bieten und einer theoretisch fundierten Literaturgeschichtsschreibung vorarbeiten sollen, dann erweisen sich die soeben formulierten Kritikpunkte an der Konzeption als einschneidend. Es drängt sich daher die Frage auf, ob der Band diesen Ansprüchen auf andere Weise gerecht werden kann. Zu ihrer Beantwortung gilt es die inhaltliche Breite der versammelten Aufsätze in Rechnung zu stellen, da auf diese Weise einige der Kritikpunkte abgemildert werden können.

Dies gilt etwa für den zuvor erläuterten Kritikpunkt, dass der Bereich der Praxis im Untertitel angekündigt, aber in der Gliederung nicht repräsentiert ist. Die einzige Ausnahme scheint bei einem oberflächlichen Blick Ralf Bogners Beitrag zu sein, der einen Einblick in seine Arbeit an einem am Kanon orientierten literarhistorischen Handbuch gibt, aber als weniger gelungen zu bezeichnen ist. Der Autor gibt zwar interessante Einblicke in die konzeptionelle Arbeit an einer derartigen Publikation und ist auch um generalisierbare Aussagen und grundsätzliche Einblicke in den Zusammenhang von Kanonisierungsprozessen und Literaturgeschichte bemüht. Allerdings beschränkt er sich dabei auf einen reinen Erfahrungsbericht, weshalb seine Ausführungen eine explizite Auseinandersetzung mit der Forschung und den hinter seinen Entscheidungen stehenden theoretischen und methodischen Bezügen vermissen lassen und nur bedingt anschlussfähig sind, da sie unterkomplex wirken. Im Zuge einer genaueren Lektüre der weiteren Beiträge zeigt sich allerdings, dass sich einige weitere an der Forschungspraxis orientierte Ausführungen zu disziplin- und wissenschaftsgeschichtlichen Aspekten finden lassen oder sogar breit angelegte Untersuchungen zu ausgewählten Ansätzen und Forschungsthemen geboten werden. Dabei verfahren einige dieser Beiträge eher konventionell und bieten Rekonstruktionen historischer Stationen der Literaturgeschichtsschreibung oder der Arbeit einzelner Vertreter. Peter Sprengel beleuchtet beispielsweise in seinen Ausführungen die Ansichten Wilhelm Scherers und seiner Nachfolger in ihrem Verhältnis zu zeitgenössischen Autoren und deren programmatischer Modernität. Der Anglist Klaus Stierstorfer präsentiert mit seinem Aufsatz zu Robert Chambers und dessen Bezug auf die Evolutionstheorie außerdem einen Beitrag, der bereits an früherer Stelle veröffentlicht wurde und nun in überarbeiteter Form vorliegt.

Im Vergleich zu diesen wenn auch gelungenen Einzelstudien erweisen sich die breiter angelegten Studien zur Praxis der Literaturgeschichtsschreibung, wie diejenigen von Jörg Schönert, Isabella von Treskow oder Fabian Lampart, als weitaus gewinnbringender. Letzterer erörtert das »Problemfeld Literaturgeschichte und Raum« (337) nämlich nicht nur in abstrakter beziehungsweise theoretischer Form, sondern auch im Hinblick auf seine Bearbeitung in konkreten Forschungsprojekten der italienischen Literaturwissenschaft und versucht auf diese Weise, das oft lediglich metaphorisch beschworene Raumparadigma hinsichtlich seiner Produktivität für eine künftige Literaturgeschichtsschreibung zu untersuchen. Jörg Schönert leistet in seinen Ausführungen einen Beitrag zur Präzisierung der unterschiedlichen Funktionen literarhistorischer Arbeit, indem er die Ausgestaltung verschiedener Forschungspublikationen zur Literatur des Realismus in Relation zu ihrem adressierten Zielpublikum in Wissenschaft, Studium und nicht-akademischer Öffentlichkeit analysiert. Und von Treskow widmet ihren Beitrag einer systematischen Rekonstruktion der Auswirkungen des Cultural Turn in der französischen Literaturgeschichtsschreibung auf der Basis eines stichprobenartig angelegten, aber dennoch breiten Textkorpus. Der Ertrag und die Bedeutung derartiger Untersuchungen für eine Versachlichung der wissenschaftlichen Diskussion kann kaum genügend betont werden. Denn die pessimistische Diagnose, dass die Praxis der Literaturgeschichtsschreibung auf einem defizitären theoretischen Fundament basiere beziehungsweise ein solches überhaupt vermissen lasse, sich theoretischen Neuerungen gegenüber verweigere oder unter den allzu schnellen Wechseln der Disziplinen zwischen verschiedenen turns leide, wird oft formuliert, aber nur selten tatsächlich belegt. Insbesondere der im zuletzt genannten Beitrag Anwendung findende Fragenkatalog (vgl. 309), der unter anderem Aspekte wie den Aufbau, die Periodisierung und den zugrunde liegenden Literaturbegriff der jeweiligen Darstellungen fokussiert, kann dabei, unter Voraussetzung entsprechender Anpassungen, als vorbildlich für Untersuchungen zur Praxis der Literaturgeschichtsschreibung gelten. Denn hiermit werden Einsichten in ihre Theorie und Methodologie gegeben, die nicht einfach auf einem allgemein geteilten Grundkonsens über diesen Arbeitsbereich, sondern auf materialbasierten Studien zur tatsächlichen Forschungspraxis und ihren Ergebnissen beruhen.

Im Rahmen des vorliegenden Sammelbandes stellen solche Studien, die sich explizit der Forschungspraxis und den aus ihr resultierenden literarhistorischen Publikationen zuwenden, jedoch eher die Ausnahme dar. Der Großteil der Beiträge widmet sich entweder der Vorstellung individueller Ansätze oder theoretischen und methodologischen Problemen und erörtert die Praxis lediglich mittelbar oder zum Zwecke der Illustration. So nutzen beispielsweise Dirk Werle und Moritz Baßler ihre Beiträge, um ihre im Zusammenhang anderer Publikationen bereits vorgestellten Ansätze für eine »Literaturgeschichte semantischer Einheiten« (63) beziehungsweise eine »Verfahrensgeschichte deutscher Erzählprosa 1850-1950« (231) erneut zu präsentieren. Monika Schmitz-Emans macht den Vorschlag einer engeren Kopplung der Forschung zur literarischen Moderne an die Geschichte der Photographie, um im Rahmen einer »Mediendiskursgeschichte« (122) von den Parallelen und Rückkopplungseffekten zwischen Bildmediengeschichte und Literaturgeschichte zu profitieren. Inwiefern dies über eine bloße Diskurs-, Motiv- oder Stoffgeschichte hinauszugehen vermag und weitergehende Erkenntnisse verspricht, die mit den bislang zur Verfügung stehenden Mitteln der Literaturgeschichtsschreibung nicht erreicht werden konnten, bleibt in den sehr allgemein gehaltenen Ausführungen jedoch offen. Jürgen Paul Schwindt und Wolfgang Braungart hingegen geben umfangreiche Einblicke in ihre großangelegten und ambitionierten Projekte. Zum einen handelt es sich im Falle Schwindts um den Abdruck seiner bereits 2001 gehaltenen Antrittsvorlesung, in der er eine »Literaturgeschichte der Intensität« (143) im Anschluss an die Querelles des Anciens et des Modernes anstrebt. Zum anderen legt Braungart den ambitionierten Versuch zu einer Geschichte der Literatur seit dem 18. Jahrhundert vor, der insbesondere den Problemen der Individualität des Kunstwerks und der Subjektivität des Künstlers gerecht werden will.

So interessant und bedenkenswert die in diesen Beiträgen gemachten Ausführungen als individuelle Modelle der Literaturgeschichte auch sein mögen, so ist dennoch Kritik angebracht: Denn zur Erforschung des in der Einleitung diagnostizierten Desiderats einer theoretisch fundierten Literaturgeschichtsschreibung tragen sie nur bedingt bei. Obwohl es sich um Ausführungen handelt, die in großem Umfang auf theoretische Bezüge und methodologische Problemstellungen eingehen, werden Grundlagenprobleme nur in dem Maße behandelt, wie sie sich im Rahmen dieser spezifischen Ansätze stellen. Eine allgemeine Debatte der theoretischen Voraussetzungen der Literaturgeschichtsschreibung kann auf diese Weise nicht erreicht werden.

Anders verhält sich dies bei den zahlreichen Beiträgen, die sich einem einzelnen Problemkomplex oder einem individuellen Aspekt aus Theorie und Methodologie widmen. Zum einen geht es bei diesen um klar identifizierbare Probleme aus der wissenschaftlichen Praxis, die in abstrakter Form oder auch mit Bezug auf exemplarische Forschungsbeiträge diskutiert werden. Beispiele hierfür sind die Aufsätze von Manfred Engel oder Kai Kauffmann, die sich jeweils Fragen der Periodisierung und Epochenkonstruktion im Bereich der literarischen Moderne beziehungsweise der Gegenwartsliteratur zuwenden. Zum anderen bieten manche Beiträge allgemeingültige Überlegungen zu den Bereichen der Theorie und Methodologie der Literaturgeschichtsschreibung. So votiert Matthias Buschmeier beispielsweise in der Nachfolge Stephen Greenblatts für eine pragmatisch orientierte, das heißt bei ihm: mit einer kulturpolitischen Funktion versehene Literaturgeschichtsschreibung, bleibt aber im Zuge seiner programmatischen Erläuterungen eine schlüssige Begründung dieser Perspektive schuldig. Friedmar Apel behandelt in seinem Beitrag das für die Literaturgeschichtsschreibung zentrale, aber komplexe Verhältnis von historischer und ästhetischer Erkenntnis, während Martina Wagner-Egelhaaf sich ebenfalls erkenntniskritischen und methodologischen Aspekten zuwendet und die Implikationen der auf die konzeptuelle Metapher des Geschichtsstroms zurückgehenden »operativen Fiktion« (92) der Literaturgeschichte als eines auf Fortschritt hin angelegten geschichtlichen Prozesses beleuchtet. Daniel Fulda formuliert in seinen lesenswerten, methodologisch wie auch disziplingeschichtlich orientierten Ausführungen ein Plädoyer für eine »starke[] Historisierung« (102) der Literaturgeschichtsschreibung. Diese soll dafür Sorge tragen, dass sich die Forschung, im Gegensatz zum von ihm so benannten »schwachen Sinn von Historisierung« (ebd.), nicht nur darum bemüht, individuelle Texte im Lichte ihrer historischen Kontexte zu erklären, sondern Projekte anstrebt, die »auf die Rekonstruktion historischer Verläufe, d. h. von Veränderungsprozessen in der Zeit« (ebd.) abzielen. Ähnlich positiv sind außerdem die in Hinblick auf allgemeine theoretische Einsichten sehr ergiebigen Ausführungen Jan-Dirk Müllers hervorzuheben, der vor allem in Auseinandersetzung mit der poststrukturalistischen Kritik an der Literaturgeschichtsschreibung für den Bereich der vormodernen Literatur den Vorschlag macht, »Literaturgeschichte als Geflecht von Partialgeschichten zu schreiben« (178).

Nimmt man diese thematische Vielfalt als Bemessungsgrundlage, dann zeigt sich, dass der Band trotz der an seiner Konzeption formulierten Kritik durchaus von der offen formulierten Zielsetzung profitieren und einen umfangreichen Einblick in die gegenwärtige Landschaft der Literaturgeschichtsschreibung bieten kann. Dass es sich nicht um ein vollständiges Bild handelt, wie es der auf eine kompendienartige Publikation hindeutende Untertitel suggerieren mag, kann hierbei verschmerzt werden. Allerdings bleibt trotzdem zu monieren, dass der eingangs formulierte Anspruch einer Verbesserung der theoretischen und methodischen Diskussionen und die damit geweckten Erwartungen nur bedingt erfüllt werden. Denn auch wenn die Beiträge meist auf einem hohen Niveau argumentieren und wichtige Vorarbeiten für die von den Herausgebern anvisierte Grundlegung einer theoretisch-fundierten Literaturgeschichtsschreibung leisten, vermögen sie es nicht, diese Klärung selbst im großen Umfang anzustellen. Es muss zugestanden werden, dass dies angesichts des Entstehungszusammenhangs der einzelnen Aufsätze wohl zu viel verlangt wäre und die erneuerte Aufmerksamkeit für Fragen der Literaturgeschichtsschreibung, ihre Theorie, Methodologie und Praxis in jedem Fall begrüßenswert sein mag. Allerdings entlässt der Band zumindest den Rezensenten mit einem seltsam unbefriedigenden Eindruck. Dass man sich trotz der Vielfalt existierender Auffassungen zur literarhistorischen Arbeit und ihrer ansatzspezifischen Probleme den Aufgaben für eine allgemeine theoretische Grundlegung durchaus bewusst war, zeigen nämlich zumindest manche Beiträge, indem sie auf derartige Desiderate der Forschung explizit hinweisen oder Erörterungen zu zentralen Begrifflichkeiten und Voraussetzungen der Literaturgeschichtsschreibung vornehmen (vgl. bes. 30–35, 86 f., 101–105, 165–178, 246f.). Hierbei wird nicht nur immer wieder auf den Klärungsbedarf bezüglich theoretischer Grundlagen und des Verhältnisses der Literaturgeschichtsschreibung zu anderen Bereichen wie der Mediengeschichte oder der Geschichtsschreibung im Allgemeinen und den dort zu verzeichnenden neueren Entwicklungen hingewiesen. Weit mehr noch werden Einblicke in Problembereiche und Versäumnisse der bisherigen Diskussionen gegeben. Diese Einsichten für eine umfassende theoretische (Neu-)Fundierung der Literaturgeschichtsschreibung zu nutzen und die Diskussion um die Literaturgeschichte auf ein neues Niveau zu heben, bleibt anderen überlassen.

2015-07-28

JLTonline ISSN 1862-8990

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