Dorothee Birke

Was Sie schon immer über den Leser wissen wollten

Marcus Willand, Lesermodelle und Lesertheorien. Historische und systematische Perspektiven. Berlin/Boston: De Gruyter 2014. 362 S. [EUR 99,95]. ISBN: 978-3-11-034184-3.

Was meinen LiteraturtheoretikerInnen, die von ›dem Leser‹ sprechen? Höchst Unterschiedliches – die Menge an in der Forschung gängigen Leserkonzepten, von Wolfgang Isers ›impliziten‹ über Umberto Ecos ›Modell-Leser‹ bis hin zu Judith Fetterleys ›resisting reader‹ signalisiert bereits Vielfalt, lässt aber die Kontraste zwischen den Prämissen, Methoden und Erkenntniszielen der verschiedenen Theorien nur erahnen. Eine gründliche Vermessung des rezeptionstheoretischen Eisbergs unternimmt nun die Studie von Marcus Willand, die an der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen wurde und voriges Jahr in der renommierten erzähltheoretischen Reihe Narratologia bei de Gruyter erschienen ist. Die Arbeit verfolgt zwei Ziele: zum einen macht Willand es sich zur Aufgabe, ein »eindeutiges Begriffs- und Beschreibungsinventar« (S. 16) zu entwickeln, um die Lesermodelle einflussreicher Rezeptionstheorien zu systematisieren und kritisch zu beleuchten. Zum anderen bricht er selbst eine Lanze für einen leserorientierten Ansatz in der Interpretationstheorie: Im Rahmen der »historisierenden Rezeptionsanalyse« soll ein bestimmtes Lesermodell für die Literaturwissenschaft fruchtbar gemacht werden.

Zur Analyse der Lesermodelle entwickelt Willand drei Achsen der Kategorisierung – ›Ontologie‹, ›Funktion‹ und Epistemologie‹ –, die nach einer Einleitung und einer Präzisierung der zentralen Problemfelder im 3. Kapitel (»Kategorisierung«) eingeführt werden. Dieses Kapitel bildet mit fast 200 Seiten den Hauptteil des Buches; es stellt die drei Kategorisierungsachsen nicht nur hintereinander vor, sondern enthält auch ausführliche Anwendungsteile, die eine Vielzahl an Ansätzen und Einzeltheorien der Rezeptionsforschung eingehend analysieren.

Willand unterscheidet Lesermodelle erstens hinsichtlich des ontologischen Status des ›Lesers‹, der durch sie abgebildet werden soll. Damit greift er den Ausgangspunkt der vielen Theoretiker auf, die betonen, dass sie nicht darauf zielen, tatsächliche Leseerlebnisse von real existierenden Personen zu erfassen (da ja, um es verkürzt zu sagen, jeder anders liest), sondern davon in irgendeiner Weise abstrahieren. Die bereits gängige Unterscheidung zwischen dem ›realen« bzw. ›konkreten Leser‹ und einem Leserkonstrukt wie dem ›Textadressaten‹ (Wolf Schmid im Handbuch Literaturwissenschaft) oder dem ›abstrakten Leser‹ (Gerald Prince im Handbook of Narratology) wird auf sehr hohem theoretischem Niveau weiter ausdifferenziert: Willand unterscheidet die Modelle, ob sie auf einen ›realen‹, ›probabilistischen‹, »theoretischen« und ›fiktionalen‹ Leser zielen. Neu ist dabei vor allem die Kategorie des ›probabilistischen Lesers‹, die Theorien beschreibt, die zwar empirische Untersuchungen konkreten Leseverhaltens mit einbeziehen, aber in der Hauptsache auf ein abstrakteres Modell ausgerichtet sind – man könnte sagen, eine Zwischenstufe zwischen einem auf einen ›realen‹ und einem auf einen ›theoretischen‹ Leser gerichteten Interesse. Anhand dieser Kategorie kann Willand überzeugend herausarbeiten, dass die in der Diskussion häufig als recht simpel behandelte Unterscheidung zwischen ›real‹ und ›theoretisch‹ nicht für alle rezeptionstheoretischen Ansätze einfach anwendbar ist, sondern dass differenziert betrachtet werden muss, inwieweit empirische Untersuchungen zu tatsächlichen Lesern als Basis für Durchschnittsbildungen dienen.

Als zweite Ordnungskategorie zur Beschreibung von Lesermodellen versteht Willand deren ›Funktionen‹ – sowohl für die Theoriekonzeption als auch für die Interpretationspraxis. Hierbei geht es zum einen um das Verhältnis zwischen Lesermodell und seinem theoretischen Rahmen. Zum anderen führt Willand in Anschluss an Klaus Hempfer drei Unterkategorien ein, die beschreiben sollen, in welcher Hinsicht Lesermodelle verschiedene Eingrenzungen des Untersuchungsgegenstandes erlauben: Lesermodelle können diastratisch restriktiv sein und damit Unterscheidungen gesellschaftlicher Schichten oder Gruppen von Lesern in den Blick nehmen; sie können diatopisch auf geographische Unterscheidungen bezogen sein oder diachronisch ausdifferenziert werden, um die zeitliche Situierung von Lesern zu berücksichtigen.

Während die Kategorie der ›Funktion‹ den Status eines Lesermodells innerhalb einer bestimmten Theorie zu bestimmen sucht, nimmt Willand mit der ›epistemologischen‹ Kategorisierung die Frage in den Blick, welcher Art das Erkenntnisinteresse einer spezifischen Theorie in Bezug auf ›den Leser‹ ist bzw. welche Position die jeweilige Theorie in Hinblick auf die Frage vertritt, »welche Möglichkeiten ein (wie auch immer näher definierter) Leser hat, literarische Texte zu verstehen.« (S. 126) Unterschieden werden subjektivistische Modelle, die den Leser selbst als Zentrum der Bedeutungsgenerierung verstehen, objektivistische Modelle, die diese Rolle dem Text zuschreiben, und interaktionistische, die die Interaktion zwischen Leser und Text in den Mittelpunkt stellen. Besonders ausführlich rekonstruiert und kritisiert werden in diesem Teil die subjektivistischen Lesermodelle des Poststrukturalismus (v.a. Roland Barthes und Jacques Derrida). Als ›interaktionistischer‹ Ansatz wird etwa das im deutschen Raum wohl bekannteste Lesermodell, Wolfgang Isers impliziter Leser, beschrieben. Gegen diejenigen Kritiker, die Iser als in erster Linie auf den Text oder den Autor bezogen sehen, betont Willand dessen Fokus auf die Prozesshaftigkeit des Lesens (vgl. S. 236). In die Kategorie der ›objektivistischen‹ Modelle wiederum fällt ein breites Spektrum an Theorien: hierunter fasst der Autor nicht nur die Positionen, die den Text selbst als stabilen Bedeutungsträger verstehen (also als ›objektiven‹ Gegenpol zu den ›subjektiven‹ Bedeutungszuschreibungen des Lesers). Die Kategorie enthält auch empirische und systemtheoretische Lesermodelle, die den literarischen Text nicht mehr in erster Linie als Sinnträger, sondern als Objekt sehen, mit dem Leser sich auf (empirisch oder systemtheoretisch) zu erfassende Art und Weise auseinandersetzen.

Das Spektrum der im Band behandelten Theorien ist ebenso eindrucksvoll wie die Präzision, mit der Willand deren Inhalte rekonstruiert und kritisch hinterfragt. Das vorgestellte komplexe und systematisch entwickelte Ordnungssystem erlaubt sowohl eine Bestandsaufnahme einflussreicher (und auch vieler weniger bekannter) Rezeptionstheorien als auch die Auslotung von deren Potential für die Interpretationspraxis. Immer wieder erweist sich das Beschreibungsmodell zugleich auch als ein brauchbares Instrument zur kritischen Analyse, anhand dessen sich Inkonsistenzen der Theoriebildung oder Verkürzungen in der bisherigen Diskussion über die Theorien aufzeigen lassen. Eine gewisse Herausforderung stellt allerdings der Umstand dar, dass der Autor, wie oben bereits angedeutet, zwei unterschiedliche Projekte verfolgt: zum einen die Modellierung und Anwendung eines Systems zur Beschreibung und Analyse bestehender Lesemodelle, zum anderen die Entwicklung eines Arguments für die von ihm selbst favorisierte und theoretisch ausdifferenzierte historisierende Rezeptionsanalyse. Diese beiden Stränge sind freilich auf elegante Weise miteinander verwoben. Erstens bildet das erste Projekt die Grundlage zur begrifflichen und argumentativen Ausdifferenzierung des zweiten, indem es den nötigen Reflektionshorizont und das Beschreibungsvokabular entwickelt. Zweitens versteht Willand sein zweites Projekt als Konsequenz aus den Ergebnissen des ersten: Die kritische Auseinandersetzung mit nicht-realen (also, in seiner Terminologie, probabilistischen, theoretischen und fiktionalen) Lesermodellen führt ihn zu dem Schluss, dass nur ein reales Lesermodell für eine historisierende Rezeptionsanalyse geeignet ist, da die anderen Modelle stets Gefahr laufen, eigene theoretische Vorannahmen unreflektiert zu importieren.

Die Verschränkung von Rekonstruktion und eigenem Argument schlägt sich allerdings auch in einer etwas unübersichtlichen Struktur des Bandes nieder; wer in erster Linie an der Beschreibung einzelner Theorien interessiert ist, muss sich in vielen Fällen Argumentationsteile aus verschiedenen Kapiteln zusammensuchen (dabei hilft allerdings der Index). Zudem führt Willands eigenes Interesse an interpretationstheoretischen Aspekten dazu, dass er anders gelagerte Schwerpunkte einzelner Theorien eher ausblendet. Theoretikerinnen wie etwa Jane Thompson und Janice Radway, deren Ansatz hier ebenfalls umrissen wird, haben dezidiert nach Wegen gesucht, »Lesen« jenseits von Textverstehen (also etwa als soziale Praktik) zu begreifen und zu untersuchen. Das vorgestellte Modell scheint durchaus dazu geeignet, derartige Unterscheidungen in den Blick zu nehmen – die Kategorie der Epistemologie verschiedener Lesermodelle erlaubt solche Diversifizierungen, die auch hin und wieder kurz angesprochen werden. Im Großen und Ganzen dominiert aber Willands eigener Fokus auf Lesen als Interpretation . Diese Tendenz zeigt sich vor allem in der Besprechung der ›objektivistischen‹ Ansätze, deren Objektivismus sich auf sehr viel unterschiedlichere Aspekte zu beziehen scheint, als der einleitende Hinweis auf den Text als objektive Instanz der Bedeutungsgenerierung nahelegt (vgl. S. 127). Hier manifestieren sich die Probleme des Spagats zwischen einer umfassenden Beschreibung existierender Lesermodelle und der Entwicklung eines eigenen interpretationstheoretischen Beitrags .

Inwieweit sich der mit so viel Sorgfalt entwickelte Ansatz der historisierenden Rezeptionsanalyse als fruchtbar erweisen kann, wird die Zukunft zeigen – Willand selbst unternimmt in der Studie keine konkreten Anwendungen (was angesichts der Materialfülle der vorliegenden Arbeit durchaus nicht als Manko zu werten ist). Was sich jetzt schon sagen lässt, ist, dass der Band einen wegweisenden Beitrag zur Theoriediskussion um die Rezeptionstheorie und deren Stellenwert für die literaturwissenschaftliche Interpretationspraxis darstellt.

2015-07-06

JLTonline ISSN 1862-8990

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