Benjamin Specht

Wie macht kultureller Wandel Sinn?

Stefan Deines/Daniel Martin Feige/Martin Seel (Hg.): Formen kulturellen Wandels. Bielefeld: transcript 2012. 278 S. [Preis: EUR 29,80]. ISBN: 9783837618709.

Nimmt man als Kulturhistoriker, z.B. Literaturgeschichtler, einen Sammelband zum Thema ›kultureller Wandel‹ zur Hand, dessen Beiträge vorwiegend von Philosophen stammen, so erhofft man sich von der Lektüre, dass darin auf abstrakte Weise die konkreten Probleme reflektiert werden, an die man in seinem Tagesgeschäft häufig gerät. Diese betreffen im Wesentlichen die fundamentalen W-Fragen historischer Forschung: das Was, das Wie und das Warum kulturellen Wandels. Natürlich wird man nicht erwarten dürfen, dass die Philosophie die Arbeit der Fachwissenschaften übernimmt. In Bezug auf die erste Frage kann der philosophische Zugriff aber vielleicht helfen, eine gleichermaßen integrative und differenzierte Heuristik verschiedener Kulturbegriffe, -techniken und -segmente auszubilden. Hinsichtlich der Wie-Frage wünscht man sich systematische Überlegungen zu unterschiedlichen Prozesslogiken und Verlaufsformen historischer Ereignisfolgen, etwa für das alte Problem von Kontinuität und Diskontinuität, das spätestens seit den anti-teleologischen Geschichtstheorien des 20. Jahrhunderts notorisch geworden ist. Und was schließlich die Warum-Frage betrifft, die in post-poststrukturalistischen Zeiten wieder verstärkt gestellt wird, so wird man eine Diskussion der Vor- und Nachteile der existierenden Erklärungsmodelle erhoffen dürfen. Auf allen drei Feldern gemeinsam wünscht man sich zudem Vorschläge zu einer verfeinerten, konsistenten und intersubjektiven Beschreibungssprache, die transdisziplinäre Forschungen erleichtern würde.

Viele dieser Aspekte werden in der Tat in dem von Stefan Deines, Daniel Martin Feige und Martin Seel herausgegebenen Band Formen kulturellen Wandels thematisiert. Er basiert auf den Beiträgen zu einer Tagung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt im Jahr 2011, die Vertreter verschiedener philosophischer Subdisziplinen (Ästhetik, Hermeneutik, Handlungs- und Wissenschaftstheorie, interkulturelle Philosophie) mit Soziologen, Kulturwissenschaftlern und Wissenschaftshistorikern zusammenbrachte. Die einzelnen Beiträge werden von den Herausgebern dabei äußerlich zwar nicht in inhaltliche Sektionen gegliedert, aber durchaus entlang erkennbarer gedanklicher Linien angeordnet: vom Allgemeinen (Gesellschafts-, Kultur- und Geschichtsbegriff) zum Besonderen (Kunst, Wissenschaft, Zeitgeschichte) und von der Bestandsaufnahme vergangener und gegenwärtiger Transformationen zur Antizipation von zukünftigen. Wie schon der Titel impliziert, herrscht weitgehende Einigkeit darin, dass kultureller Wandel überhaupt ›Sinn macht‹. So interessieren die Autoren und Herausgeber die kollektiven Formen und Prozesse, aus denen heraus er sich speist, nicht (mehr) seine Dekonstruktion, und mit dieser Prämisse ist der Band passend aufgehoben in der Edition Moderne Postmoderne des transcript-Verlages.

Die Einleitung der drei Herausgeber sondiert und ordnet das weitläufige Terrain. Ein expliziter Kulturbegriff als gemeinsamer Nenner wird zwar nicht offeriert (was wohl auch mehr geschadet als genutzt hätte), implizit ergibt sich aber ein weites Verständnis des Gegenstandsbereichs, das »politische Systeme und technische Innovationen genauso wie den Wandel von wissenschaftlichen Theorien und künstlerischen Strömungen, von Ideen, Werten und Praktiken« (7) betrifft. Zur Bestellung dieses weiten Feldes bilden die Herausgeber vier Rubriken, mit Hilfe derer sie die einschlägigen Problemstellungen sortieren. In der ersten geht es um ›Grundformen des Wandels‹. Gebündelt werden hier etwa die Fragen nach Evolution oder Revolution und nach der Richtung historischer Transformationen (Fortschritt, Niedergang). Die zweite Rubrik befasst sich mit der ›Ausdifferenziertheit des Wandels‹, sowohl der Träger (Praktiken, Institutionen, Normen, Systeme) als auch der Gebiete (Politik, Ökonomie, Kunst, Religion, etc.). Letztere unterscheiden sich, wie die Herausgeber hervorheben, nicht zuletzt nach dem Grad, mit dem sie Transformationsprozesse selbst steuern (in der Politik etwa gibt es Gesetze als Regulative von großer normativer Kraft, in der Kunst weit weniger) sowie nach den unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Verfahren, in denen sich der Wandel jeweils vollzieht. Dies weist bereits in die dritte Abteilung hinüber zu den ›Kräften des Wandels‹, die in unterschiedlichen Bereichen der Kultur auch andere Praxisformen und Handlungen als Moventien implizieren. Hierher gehört außerdem auch die zentrale Frage, welche Spielräume jeweils den Subjekten bleiben, inwieweit kultureller Wandel (auch) von ihren Intentionen abhängt. Der vierte Fragenkomplex schließlich befasst sich mit der ›Antizipierbarkeit des Wandels‹, so dass die ethischen Implikationen kultureller Transformationen in den Blick geraten. Wenngleich nicht ganz trennscharf, so ist mit dieser einleitenden Programmatik insgesamt doch eine Fülle von wichtigen Untersuchungsabsichten umrissen.

In nahezu seiner vollen Breite stellt sich die einleitende Studie des Bandes von Hartmut Rosa über die »Triebkräfte soziokultureller Dynamik« diesem Fragenkatalog.[1] Rosa schlägt ein Vier-Ebenen-Modell vor, das nicht nur die Faktoren kultureller Zirkulation erschöpfend identifizieren, sondern auch ihren Wandel erklären, ja ihre wissenschaftlichen Reflexionsformen systematisieren will und das schließlich gar zu einer begründeten, normativen Kulturkritik befähigen soll. Zunächst bekennt Rosa sich zu einer theoretischen Sozialwissenschaft, die es sich zur Aufgabe macht, die Selbstinterpretationen in einer Kultur ihrerseits zu deuten. Diese liegen vor in viererlei Form: als explizite interpretative Leistungen, niedergelegt in Texten, in Institutionen und den aus ihnen resultierende Praktiken, in den bewussten Überzeugungen einzelner Menschen, aber auch in ihren unreflektierten Körperpraktiken und ihrem Habitus. Für die Interaktion dieser vier Instanzen stellt Rosa ein kohärentistisches Modell auf, bei dem sie sich allesamt wechselseitig beeinflussen, aber stets Teilautonomie gegeneinander bewahren. Spannungen sind dabei wesensmäßig und provozieren eine fortwährende Anpassung und Abstimmung aller Faktoren, die zusammen den kulturellen Wandel konstituieren. Sie können aber dann zu ›Pathologien‹ werden, wenn die Diskrepanzen so stark werden, dass keine Möglichkeit der Adaption und Wiederversöhnung mehr besteht.

Dieser globale Entwurf ist imponierend und bietet vielerlei Anschlüsse für die weitere Forschung, zudem eine nützliche Terminologie, die sich der Komplexität kultureller Dynamiken stellt und doch einer klaren Ordnung folgt. Dies leistet das Modell allerdings vor allem dann, wenn man sich Rosas Prämissen anschließt, die nicht spannungsfrei zu rekonstruieren sind. ›Selbstinterpretationen‹ liegen für ihn in den genannten vier Formaten vor, gehen diesen aber zugleich auch voraus und konstituieren sie. Sie sind also gesetzte Sachverhalte und zugleich die Instanz der Setzung. Woher Selbstdeutungen kommen, wird nicht geklärt, sie sind ›immer schon‹ da, und es ist am Ende nicht leicht zu sagen, was keine Selbstinterpretation sein könnte.

Doris Gerber nimmt in ihrem Aufsatz »Möglichkeit und Intentionalität« das fatalistische Geschichtsbild in Tolstois Krieg und Frieden zum Bezugspunkt und hält ihm entgegen, dass Ereignisse, die Geschichte im gehaltvollen Sinne konstituierten, immer Handlungsereignisse und daher nicht ›zufällig‹ seien. Mit dieser These weist sie ›narrative‹ Modelle der Historiographie zurück (Hayden White), und sie insistiert auf einer Struktur historischer Geschehnisse, die von unseren variierenden Geschichtsbildern unabhängig ist: ›geschichtliche Ereignisse‹, die diesen Namen verdienen, sind wesentlich mit Intentionen verbunden, und sie besitzen »das Merkmal einer kausalen Wirksamkeit, die nicht unbeabsichtigt ist« (74). Sie implizieren zudem stets ein Spektrum mehrerer Möglichkeiten – dies im Gegensatz zu bloßer ›Kontingenz‹, die als bloßes Gegenteil von ›Notwendigkeit‹ definiert und terminologisch von Gerber in Synonymie zu ›Zufall‹ gebraucht wird. Viele dieser begrifflichen Weichenstellungen bedürften weiterer Erläuterung, welche freilich im Rahmen eines Aufsatzes nur bedingt zu leisten sind.[2] Überdies ist Gerbers Konzept von Geschichte sehr exklusiv. Vieles, was nach gängigem Verständnis mit dem Begriff ›Geschichte‹ bezeichnet wird, ist aus ihm ›herausdefiniert‹ worden. Nur intendierte und nicht-intendierte Folgen der Handlungen personaler Akteure, keine Widerfahrnisse, lässt Gerber als ›geschichtlich‹ gelten. Dem will man entgegen halten, dass Geschichte zwar immer einzelne Subjekte mit Zielen und Absichten voraussetzen wird, dass dies allerdings nicht bedeuten muss, dass deren konkrete Intentionen bei der Geschichte ganzer Gruppen und Kulturen auch eine tragende Rolle spielen müssen. Solch kollektiven Trägern kulturellen Wandels muss es durchaus nicht immer gelingen, sich wie einzelne Personen zu Geschehnissen in ein Verhältnis zu setzen, das als ›intentional‹ beschrieben werden kann. Die Historie scheint im Gegenteil eine Reihe von möglichen Gegenbeispielen zu bieten (etwa im Umgang mit Ökokatastrophen, Modernisierungs- und Differenzierungsprozessen, etc.).

Emil Angehrn nimmt in seiner Untersuchung »Kultur zwischen Bewahrung und Veränderung« eine hermeneutische Perspektive ein und unternimmt eine explizite Ausgangsbestimmung und Differenzierung des Kulturbegriffs, nämlich entlang seiner Gegenkonzepte (Natur, Gesellschaft, unreflektierter ›Ausdruck‹). Angehrn abstrahiert anschließend drei Dynamiken von ›Kultur‹ im engeren Sinne, nämlich als eines reflexiven Selbstverhältnisses des Menschen – die weiterführende Tradierung, die ›dekonstruktive‹ Kritik und die kreative Hervorbringung –, und diagnostiziert, dass ›Sinn‹ einerseits durch diese Formen der Selbstbewegung von Kultur entstehe (von ihm ›Dialektik‹ genannt), ›Kultur‹ andererseits nichts anderes als die aus dem unhintergehbaren Sinnbedürfnis des Menschen resultierende kontinuierliche Dynamik nach den genannten Verlaufsformen bedeute. An der offenkundigen Zirkularität dieses Arguments mag man sich stören oder nicht – immerhin ist die Hermeneutik sich ihrer stets bewusst und blendet sie nicht aus. Gerne würde man aber noch mehr und Konkreteres erfahren über das Verhältnis der drei Kulturmuster untereinander, zumal Angehrn seine Leser selbst neugierig macht mit der überzeugenden kurzen Feststellung, dass zwischen ihnen keine volle Parität herrscht, weil auch die Dekonstruktion noch ein Minimum an Traditionsbezug unterstellen muss.

Genau diese Frage, ob und wie auch kulturelle Rupturen noch ein Moment der Konstanz voraussetzen, beschäftigt Stefan Deines in seinem Aufsatz »Wieviel Herkunft braucht die Zukunft?« Er unterscheidet zunächst ›reformistische‹ von ›revolutionären‹ Formen kulturellen Wandels und zeigt, dass de facto beide abhängig bleiben von ihren ›Herkünften‹, nur in anderem Ausmaß und auf verschiedene Weise, weil sie sich strukturell unterscheiden – wie Deines durch klare Referate der Positionen Gadamers, Heideggers, Kuhns und Rortys herausarbeitet, die sich derselben Opposition widmen, wenn auch unter Verwendung je verschiedener Begrifflichkeiten und Präferenzen. So zeigt sich, dass auch der revolutionäre Wandel Restriktionen kennt, die Deines als ›Grenze der Imaginationsfähigkeit‹ und ›Grenze der Akzeptierbarkeit‹ charakterisiert. Damit tun sich interessante Differenzierungen auf, doch in einer entscheidenden Frage bleibt Deines noch unentschieden: Ist die Differenzierung der beiden generellen Formen kultureller Transformationen am Ende eine graduelle oder kategoriale?

Auch Cornelis Menke bezieht sich in seinem Beitrag »Fortschritt als Merkmal wissenschaftlichen Wandels« auf Kuhns Rekonstruktion der Diskontinuität der Wissenschaftsgeschichte und geht der Frage nach, wie die Anerkennung dieses Modells mit der Annahme wissenschaftlichen Fortschritts vereinbar sei. Ähnlich wie in der Normalwissenschaft erscheint es nach Kuhn in der Wahrnehmung der Forschergruppen, aufgrund ihrer gleichbleibenden Zusammensetzung und autonomen Gruppendynamik, auch über Paradigmenwechsel hinweg so, als bedeuteten diese einen Fortschritt. Von außen betrachtet, ließe sich davon allerdings nur sprechen, wenn tatsächlich durch die Zäsur Systemprobleme gelöst und dennoch möglichst viele Teillösungen des vorherigen Paradigmas bewahrt worden sind. Mit Popper stellt sich Menke die konsequente Frage, wie viele Verluste es dann geben darf, damit noch von ›Fortschritt‹ gesprochen werden könne, und er schlägt vor, darüber nicht allein aufgrund der Anzahl von gelösten Problemen zu entscheiden, sondern auch anhand des Gewichts ihres Erfolgs. Aber auch dies wirft wieder Folgeprobleme auf: Gibt es kontinuierliche qualitative Kriterien? Wie sind die Perspektiven der Akteure und des Beobachters zu koordinieren? Es ist bedauerlich und überraschend, dass Menke seine interessanten Überlegungen an dieser Stelle abbricht und keine weiteren, eigenen Antwortvorschläge folgen lässt.

Astrid Erlls Forschungsbericht Kultureller »Wandel und transkulturelle Erinnerung« sondiert, wie das Zusammentreffen von verschiedenen Kulturen und Gedächtnissen historischen Wandel bewirken kann. Zunächst skizziert sie die Notwendigkeit einer Einbeziehung des transkulturellen Aspekts, weil es aufgrund der Bedeutung von Phänomenen wie Globalisierung, Migration und Diaspora kein ›Container-Gedächtnis‹ gebe, das auf der unausgesprochenen Annahme einer Isomorphie zwischen ethnischen und sozialen Gruppen beruhe. In einer Fülle von Fällen wird, bewusst oder unbewusst, die Erinnerung einer Kultur und ihr Wandel vielmehr durch das Gedächtnis einer anderen vorbereitet oder allererst ermöglicht. Zur Systematisierung solcher Phänomene stellt Erll zwei Konzepte aus den amerikanischen memory studies vor, nämlich Michael Rothbergs multidirectional memory und Alison Landsbergs prosthetic memory, denen beiden eine emphatische Bejahung transkultureller Erinnerungsprozesse zu eigen ist. Diese beiden Ansätze lassen sich, so Erll, aber nicht nur auf symmetrische transkulturelle Gedächtnisformationen anwenden, wie die beiden Autoren sie in den Blick nehmen, sondern auch auf Phänomene der asymmetrischen Funktionalisierung, Okkupation und ›Kolonisierung‹ von Erfahrungen anderer Kulturen, und sie lassen sich zudem auch für vormoderne Kulturen spezifizieren.

Einen ganz anderen Aspekt von ›Kolonisierung‹ nimmt sich Oliver Machart vor, nämlich die moderner Gesellschaften durch eine allgegenwärtige ›Prekarisierung‹. Diese betrifft, wie die ›Unterschichten-Debatte‹ des Jahres 2006 implizierte, nicht nur gewisse Teile der Bevölkerung, sondern – in unterschiedlichen Formen und Intensitäten – das gesamte soziale Spektrum, so dass global von einer ›Prekarisierungsgesellschaft‹ gesprochen werden könne. Aus der Synopse diverser Theoriemodelle (ökonomische Regulation, Gouvernementalität, Hegemonietheorie, etc.), aber ohne empirische Erhebungen, extrapoliert Machart den gemeinsamen Ertrag, dass Prekarisierung auch auf integrierte Bevölkerungsteile zurückwirke in Form einer ›Existenzsicherung auf Widerruf‹, dass sie zudem auch andere Lebensbereiche als nur die Arbeitswelt betreffe und Mentalitäten sowie psychische Dispositionen präge. Die Verantwortung und Bereitschaft der Individuen, diese Entwicklungen mitzutragen, muss durch subjektivierende Strategien hervorgebracht werden, und hierfür spielt Kultur eine kardinale Rolle als ›Medium der Macht‹. Allerdings dürfte diese Einschätzung eine zu enge Auffassung von den Funktionen kulturellen Handelns sein, und man vermeint – trotz des ehrenwerten und nachvollziehbaren kritischen Anliegens – im Generalbass des Beitrags ein Echo der Kritischen Theorie bzw. ihrer pauschalen Verwerfung der ›Kulturindustrie‹ zu vernehmen.

Der Aufsatz von Mario Wenning »Zur Struktur gelingenden Handelns« und die Analyse des Westerns The Man Who Shot Liberty Valance (1962) durch Martin Seel bieten beide sehr viel Interessantes, stellen aber wenig Bezugspunkte zum globalen Thema des Bandes her. Wenning geht aus von der Unterscheidung zwischen der Erfahrung des Handelnden in actu und der im Nachhinein verobjektivierten Handlung im Auge ihres Beobachters. Ihm geht es explizit um die erste Perspektive, die in den westlichen, ›narrativen‹ Modellen der Handlungstheorie abhandengekommen sei und die es nun wiederzugewinnen gelte. Daher setzt Wenning den Konzepten bei Aristoteles und Heidegger (die ein wenig nonchalant und pauschal zusammengebracht werden) eine durch daoistische Philosophie inspirierte Theorie des ›mühelosen Handelns‹ entgegen, bei der sich das Subjekt ohne zielorientiertes Zutun in die Rhythmik vorgängiger Wandlungsprozesse ›einspiele‹. Diese Argumentation ist spürbar weltanschaulich engagiert, dennoch hält Wennings Beitrag für eine interkulturelle Ethik mancherlei inspirierende Anschlüsse bereit, weil er die Kulturkreise und ihre Handlungsmodelle auf durchaus reflektierte Weise zusammenführt.

Auch Martin Seels Beitrag ist themenspezifisch sehr informativ und bietet eine geradezu spannend zu lesende, dichte Analyse und Interpretation von John Fords Western, der vordergründig die Transformation eines rechtlosen Gesellschaftszustands in eine geordnete staatliche Gemeinschaft inszeniert. Diese Betrachtungsweise wird aber zugleich auch auf vielfachem Wege unterschwellig konterkariert. Alles in allem bleibt die Genese rechtlicher Rationalität im Film selbst irrational und erscheint als nachträgliche Zuschreibung der Akteure. So wenig aber der Film die Frage beantwortet (und beantworten muss), ob und wie eine systematische Aufarbeitung und Rechtfertigung kulturellen Wandels überhaupt möglich ist, so ganz bewusst auch der Autor der Analyse, der generell an der Möglichkeit dieses Unterfangens zweifelt. Mit dieser fundamentalen Skepsis fällt Seels Beitrag aus dem Vorhaben des Bandes heraus, der ja gerade gedankliche Mittel zu einer rationalen Rekonstruktion offerieren will, die Seel in Frage stellt.

In deutlich abgeschwächter Form zeigt sich dieses Problem auch in Daniel Martin Feiges Untersuchung zum »Wandel in der Kunst« bzw. der Künste untereinander. Am Beispiel der Entstehung des Bebop gewinnt Feige die Leitfragen seiner Untersuchung, die erklärtermaßen ›nur‹ auf die innere Wandlungsdynamik der Künste abzielen: Welche Veränderungen bedeutet ein neuer Stil für seine Kunstform, wie verändert er den Blick auf die vorhergehenden Stile und wie wirkt er sich auf andere Künste aus? Feige nimmt zwei historische Versuche der Kategorisierung vor, nämlich Lessings Unterscheidung der Zeit- und Raumkünste und Hegels ästhetischen Systembau, die er auf zwei zentrale Theoreme zuspitzt: die These der ›Materialspezifität‹ bei Lessing (nach der den Künsten durch ihren ›Stoff‹ ein fixer Spielraum gesetzt ist) und die eines hierarchischen Systems bei Hegel (die ein konstituierendes Kriterium benötigt, nach dem sich die Systemstelle und die ›Optimalität‹ einer Kunst bemisst). Die erste These wird nach Feige nicht den Tatsachen gerecht, dass von der Kunst ständig neue Materialien ›erfunden‹ werden, dass an bestehenden Materialien sich neue Eigenschaften ›entdecken‹ lassen und dass sich durch beide Tendenzen Kunstwerke und Künste auch retrospektiv anders darstellen und ›transformieren‹. Der zweiten dagegen hält Feige – weniger überraschend – entgegen, dass das hierarchische Modell den vielfältigen Beziehungen in und zwischen den Künsten nicht gerecht wird. Damit wirft er Hegel allerdings etwas vor, was auf der Hand liegt: dass sich nämlich das dialektische Modell nicht ohne weiteres aktualisieren lässt, weil wir seine Prämissen nicht mehr teilen. Erst müsste Feige folglich auch für die beiden Modelle des künstlerischen Wandels eine historisierende Rekonstruktion leisten, bevor ihr möglicherweise weiterhin gültiger systematischer Ertrag gewonnen werden könnte. Zudem hat Feige zwar einen interessanten Beitrag geleistet zur Intermedialität der Künste, aber nicht unbedingt auch deren Wandel erhellt. Seine finale Pointe, dieser weise »immer ein produktives Moment von Kontingenz« (218) auf, besagt schließlich, dass historische Transformationen sich im Grunde der philosophischen Systematisierung entziehen.

Die Untersuchung »Zur Antizipation zukünftigen Wandels« von Johannes Rohbeck verleiht dem Band zum Abschluss noch einmal einen ganz eigenen Blick auf kulturellen Wandel, nämlich diesmal nicht in die Vergangenheit gerichtet, sondern in die Zukunft. In rascher Auseinandersetzung mit Theorien der posthistoire und der (populären) Zukunftsforschung erarbeitet Rohbeck eine Vorstellung von Zukunft als ›bedingte Offenheit‹, die zur Grundlage einer Ethik der Generationengerechtigkeit werden könne. Das ›Ende der Zukunft‹ wird bei seinen unterschiedlichen Vertretern sehr unterschiedlich gezeichnet, mündet aber stets in eine von zwei Konsequenzen, die beide Orientierungsverlust bedeuten: entweder eine ›endlose Gegenwart‹, weil nichts Neues mehr erwartet werden kann, oder eine ›vorzeitige Zukunft‹, weil der Wandel sich so beschleunigt, dass der Eigenwert der Gegenwart davon ›aufgesogen‹ wird. Dem hält Rohbeck eine Vorstellung von Zukunft entgegen, die der Gegenwart einen eigenständigen Handlungsrahmen sichert und gleichzeitig die Möglichkeit eines zukünftigen Wandels der Bedürfnisse und Interessen offen hält, somit auch kommenden Generationen Wahlfreiheit garantiert. Dazu gehört zum einen, dass alle etablierten Systeme so eingerichtet werden müssen, dass sie reversibel oder veränderbar sind, zum anderen, dass Ressourcen bewahrt werden. So deutet sich bei Rohbeck am Ende des Bandes, wie ganz am Anfang in der Studie von Rosa, auch eine Möglichkeit der Bewertung, nicht nur Beschreibung von Prozessen kulturellen Wandels an.

Wenn man als Kulturhistoriker resümiert, ob man nach Lektüre aller Beiträge des Bandes einem besseren Umgang mit den eingangs erwähnten Problemen nähergekommen ist, dann fällt die Bilanz nicht einheitlich aus. Die Frage, was es eigentlich ist, das ›sich wandelt‹, wird in einigen Beiträgen tatsächlich weiterführend und erhellend systematisiert (Rosa, Gerber, Angehrn), in den meisten bleibt sie allerdings unthematisiert und wird durch die disziplinären Zuständigkeiten der Beitragenden präjudiziert (Wissenschafts- und Musikgeschichte, Soziologie, Ethik). Die Warum-Frage dagegen wird gar nicht erst gestellt, vielleicht aus Sorge vor Essenzialismus- und Reduktionismusvorwürfen, vielleicht aber auch schlicht, weil sie konzeptionell gar nicht in den Blick geriet. Es dominieren im Band Modelle und Theorien des ›Immer schon‹ (Handlungstheorie, Hermeneutik, Ästhetik der Selbstreferenz). Wegen dieses Fokus findet in den Beiträgen entsprechend auch keine Diskussion der explanatorischen Konzepte statt, die die kulturhistorischen Disziplinen in den letzten Jahren und Jahrzehnten aufgestellt oder rezipiert haben – für die Literaturwissenschaft etwa Sozialgeschichte, System- und Feldtheorie, evolutionistische Modelle, neuere Problem- und Ideengeschichte, Kanontheorie, etc. Selbst Bezüge auf klassische Autoren, die kulturellen Wandel erklären wollten, sucht man vergeblich (Herder, Marx, Weber, Simmel, Elias, Foucault, Luhmann).

Im Zentrum des Bandes steht die Frage nach dem Wie des kulturellen Wandels, und diesbezüglich finden sich tatsächlich allerlei weiterführende Überlegungen, etwa zu verschiedenen Prozessformen (Applikation, Revolution, Emergenz, Dialektik, Fortschritt) und Antrieben (personale Intentionen, Gruppendynamiken, Gedächtnistransfer). Allerdings wird zwischen den Konzepten und Beiträgen, so lesenswert und informativ sie jeweils sind, nur ansatzweise Konsens hergestellt und eher wenig Übersetzung der diversen Beschreibungssprachen versucht. Hier ließe sich das Erarbeitete weiterentwickeln und ausbauen, um dadurch auch den Nutzen der vorliegenden Überlegungen in den kulturhistorischen Einzelwissenschaften zu erhöhen. Bezüge zu diesen werden zwar von fast allen Beiträgern in den Schlussbemerkungen beschworen – vor allem deshalb, weil die historischen Prozesse zu speziell, diffus und komplex seien für eine abstrakte philosophische Systematik –, es könnten aber noch deutlicher mögliche fachwissenschaftliche Anschlussstellen offeriert werden. Daher kommt die erfreuliche und vielversprechende Interdisziplinarität der Autoren nicht vollauf zur Geltung. Selbst die Vertreter der nicht-philosophischen Fächer im Band, v.a. Soziologie und Wissenschaftsgeschichte, stammen meist aus den theoretischen und philosophieaffinen Subdisziplinen ihrer Fächer und verharren überwiegend in einer ›apriorischen‹ Sphäre.

Vielleicht ließen sich die zahlreichen inspirierenden Einzelüberlegungen zu den ›Formen kulturellen Wandels‹, die sich im Band finden, daher zukünftig noch mehr in Kontakt mit den am historischen Material arbeitenden Wissenschaften bringen. Dann könnte man auf arbeitsteilige Weise die Beantwortung der zentralen Frage weiterführen: Wie macht kultureller Wandel Sinn?

Anmerkungen

[1] Leider handelt es sich um keinen Originalbeitrag. [zurück]

[2] Es sei jedoch erwähnt, dass Gerber zu manch auf den ersten Blick wenig intuitiver Begriffsverwendung ausführlicher Stellung nimmt in ihrer Monographie Analytische Metaphysik der Geschichte. Handlungen, Geschichten und ihre Erklärung. Berlin: Suhrkamp 2012. [zurück]

2014-02-17

JLTonline ISSN 1862-8990

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