Matei Chihaia

Literatur als imaginäre Institution?

Johannes Rauwald, Politische und literarische Poetologie(n) des Imaginären. Zum Potenzial der (Selbst-)Veränderungskräfte bei Cornelius Castoriadis und Alfred Döblin. Würzburg: Königshausen & Neumann 2013 (Studien zur Kulturpoetik, Band 17). 484 S. [Preis: EUR 58,00]. ISBN: 978-3-8260-5040-4.

Johannes Rauwalds umfangreiche Dissertationsschrift enthält eine systematisch organisierte Auseinandersetzung mit zahlreichen zentralen Fragen der Literaturwissenschaft. Der erste Kern ist die Konkretisierung von Cornelius Castoriadisʼ Theorie des »Imaginären« zu einer kultursemiotischen Metasprache – einer Matrix von »Dispositiven« – auf unterschiedlichen, klar voneinander differenzierten Ebenen des Literarischen; dies soll unter anderem auch eine Antwort auf die Frage nach dem hermeneutischen Nutzen von Theorie in der Literaturwissenschaft bieten. Den zweiten Schwerpunkt bilden eine originelle Lektüre von Alfred Döblins Poetologie und eine Anwendung der mit Castoriadis und Döblin erarbeiteten Kategorien auf den Roman Berge Meere und Giganten.

Die unterschiedlichen Teile dieser Arbeit sind explizit miteinander verschränkt, lassen sich aber auch gewinnbringend unabhängig voneinander lesen. Die ersten beiden Abschnitte bieten eine schöne Übersicht über die bisherige literaturwissenschaftliche Rezeption von Castoriadis (I) sowie eine sehr empfehlenswerte Einführung in das Denken des griechisch-französischen Philosophen (II). Ein eigener Abschnitt (III) ist der Verknüpfung dieser Ideen mit dem Dispositiv-Begriff gewidmet, der unter Bezug auf Foucault, Deleuze und Agamben definiert wird; Dispositive sind für Rauwald Konkretisierungen des Imaginären in einer kultursemiotischen Metasprache, die – aufgrund ihrer Relevanz für historische Poetologien – auch als »literaturwissenschaftliche Analyseparameter« (120) funktionalisiert werden können: »Der Formationsprozess von Kultur (und von kulturellen Bestandteilen wie Institutionen) ›achtet‹ die imaginären Dispositive, das heißt, der Entstehungsprozess wird von den vernetzten Dispositiven gesteuert.« (117) Konkret gelten Subjektivierung und Desubjektivierung, Bestimmbarkeit und Unbestimmbarkeit, Hierarchisierung und Enthierarchisierung als »kulturformative Dispositive der Moderne« (115).

Ein weiterer systematisch notwendiger Schritt zur Anwendung von Castoriadisʼ Theorie auf Literatur besteht in der Definition von Sprache und Literatur als imaginäre Institutionen (IV). Für ersteres bietet das Werk des Philosophen gute Ansatzpunkte, für letzteres greift Rauwald auf die Rezeption von Castoriadis bei Iser, Warning und Kleinschmidt zurück; für den eigenen Literaturbegriff Rauwalds rückt allerdings das Konzept der »Entfremdung« in den Mittelpunkt: »das ästhetische Potenzial eines Textes als imaginiertes Produkt […] entsteht dabei im Spannungsverhältnis von subjektiver Imagination und kollektiver Institution« (152). Bei der Vermittlung dieses Konflikts ist es der imaginäre Anteil der Literatur, der ihre spezifische Differenz zu anderen gesellschaftlichen Diskursen begründet: »Erst durch kreative Differenzierungstendenzen vom Literaturschaffenden zur Gesellschaft bzw. zu anderen imaginären Institutionen wird eine ästhetisierte Aufnahme gesellschaftlicher Diskurse möglich.« (162) Diese Tendenzen bezeichnet Castoriadis als »Entfremdung«, d.h. als die »Verselbständigung und Vorherrschaft des imaginären Moments der Institution«[1] (162, Anm. 101). Auf der Formebene wird diese Entfremdung mit der »Verfremdung im Sinne Brechts« (155) identifiziert, auf der Inhaltsebene mit dem Experimentalcharakter des modernen Erzählens, auf das Mach und Zola hinweisen (159). Diese spezifisch modernen Referenzen und die Fokussierung von »›moderne[r]‹ Literatur« (150) legen die Frage nahe, ob damit die imaginäre Institution von Literatur schlechthin gemeint ist oder die der klassischen Moderne. Genau genommen zielt das Kapitel auf beides zugleich, indem die Moderne als Epoche der »Radikalisierung« (13) der imaginären Entfremdung der Literatur verstanden wird. Gerade bei der Diskussion von Konzepten wie der »Autonomie« (156-157) oder der »Wahrscheinlichkeit« (158-159), die in der Tradition der Poetik gerade nicht mit dem Imaginären assoziiert werden, wäre ein kontrastiver Bezug auf andere, weniger ›radikale‹ Epochen nützlich gewesen, um die These von ›Literatur als imaginärer Institution‹ zu stärken.

Ein kurzer, aber inhaltlich sehr dichter Abschnitt geht sodann die hermeneutischen Probleme an, die sich bei der Verwendung von Castoriadis’ politischer Philosophie zur literaturwissenschaftlichen Analyse ergeben (V). Hier findet sich eine pragmatische Positionierung (eher als allgemeine Überlegungen zur Angemessenheit des Imports von Begriffen, Methoden und Denkfiguren aus den sciences humaines in die Literaturwissenschaft). Rauwalds Ansatz ist es, das Imaginäre der Literatur an der Schnittstelle von Literatur- und Kulturwissenschaft zu situieren: Der Roman als »literarisch hochkarätige[s] und kulturtheoretisch herausfordernde[s] Gebilde« (168) kann nur mit dem »theoretischen Bezugsrahmen« (167) von Castoriadis’ Modell der Vermittlung von Sozialem und Imaginärem in seinen »kulturellen, kulturtheoretischen und geschichtlichen Kontext« (168) eingebettet werden. Umgekehrt erweist sich die begriffliche Tragfähigkeit von Castoriadis’ Kategorien erst in dem Erklärungspotenzial, das sie auf verschiedenen, deutlich benannten Ebenen entfalten können: »auf literaturtheoretischer (z.B. bei Rezeptionsprozessen und der Ästhetik und Stilistik von Sprache) als auch auf literaturgeschichtlicher (wie bei der Epocheneinteilung und der Kennzeichnung des Modernebegriffs) und hermeneutischer, also inhaltlich-interpretatorischer Ebene (so bei der Romananalyse)«. (169) Das Ziel der Arbeit, das der Titel bereits klar auf den Punkt bringt, ist also, die Texte von Castoriadis und Döblin als Poetologien zu lesen, die nicht nur vom Imaginären geformt werden, sondern es auch zu einer ästhetischen Kategorie erheben.

Dieses ›ins Werk setzen‹ des Imaginären ereignet sich in der klassischen Moderne als »Knotenpunkt der kulturformativen Dispositive des Imaginären« (175); diesen Epochenkontext rekonstruiert ein eigenes Kapitel (VI). Zum einen zeigt sich dabei in den verschiedenen poetologischen und wissenschaftlichen Diskursen, die kommentiert werden, eine Verdichtung und Verschränkung der in (III) eingeführten kulturellen Dispositive (198). Zum anderen zeichnet sich ein »zentrales Imaginäres« dieser Epoche ab, und zwar »die Entdeckung und Erprobung neuer Denklogiken« (199). Diese Denklogiken, die für Rauwald das nicht-identitätslogische »Magma« von Castoriadis vorwegnehmen, äußern sich in verschiedenen Zusammenhängen: bei Dichtern wie Valéry und Denkern wie Husserl, von dem ein etwas kühner Sprung zu Isers Rezeptionsästhetik führt, um eine phänomenologisch-magmalogische Theorie des Lesens anzudeuten (201f.).

Die bisher geschilderten theoretischen Erörterungen werden immer wieder auf das Werk Döblins und auf den Roman perspektiviert, so wie auch die der Analyse der Primärtexte gewidmeten Abschnitte immer wieder präzise auf die Theoriekapitel zurückverweisen und die darin erörterten Begriffe fruchtbar machen. Die Interpretation beginnt mit den poetologischen Bemerkungen Döblins, die das Imaginäre betreffen (VII). Dieser für die Arbeit zentrale Abschnitt ist allerdings etwas zu dicht und vielstimmig geraten: Obwohl die Kategorien grundsätzlich nachvollziehbar sind, springt die Argumentation, um die Affinitäten von Döblin und Castoriadis zu erklären, etwas zu sehr hin und her; dieses Verhältnis kompliziert sich zudem noch durch die Stimme der Döblin-Lektüren Kleinschmidts, die sich vielfach auch auf Castoriadis beziehen. Diese Vielzahl ausführlicher Belege aus allen drei Autoren, aus denen ganze Absätze zitiert werden, und die entsprechende Proliferation von Kontexten und Bezügen erschweren die Lektüre.

Griffiger ist die Analyse des Romans (VIII), in der »Berge Meere und Giganten selbst als imaginäre Institution gedeutet [wird], in der wiederum imaginäre Institutionen und ihre komplexen Strukturen und Wechselwirkungen narrativiert werden« (390). Mit dem Konzept des Imaginären und den von Castoriadis abgeleiteten kulturformenden Dispositiven lassen sich tatsächlich programmatische metapoetische Ausdrücke wie die »Tatsachenphantasie« (267) oder das »Wuchern« (270) als Momente einer imaginären Selbst-Instituierung von Literatur verstehen. Die Programmatik des Imaginären wird durch detaillierte Analysen bis in den Stil hinein verfolgt (271-279) und bekannte Verfahren wie die Montage (279) erhalten in diesem neuen Rahmen eine ganz unformalistische Deutung; der verwendete Begriff der »Differenz« ist zwar etwas missverständlich, und der Unterschied der Entfremdungstheorie zur »Differenzqualität« des russischen Formalismus wird zwar zu spät und zu knapp genannt (400, Anm. 1) – aber im Grunde ist es aus dem theoretischen Zusammenhang klar, dass das Imaginäre nicht in der logischen Differenz zwischen Entitäten, also z.B. unterschiedlichen Formen, sondern im Wirken des radikal ›anderen‹ ›Magmas‹ unter der funktionalen Oberfläche der Symbole beruht. Hier erweist sich der Nutzen eines Begriffs des Imaginären, der radikale Andersheit zu beschreiben gestattet, für eine innovative Analyse moderner Poetologie. Überzeugend sind sodann die Unterkapitel, in denen Dispositive und Institutionen als Themen der Fiktion untersucht werden (293-390). Hier erscheint der Roman Döblins als Ort, an dem die drei zugleich ästhetisch und sozial relevanten Dispositive der Moderne, die Entfremdung, die Subjektivität, das Geheimnis, verhandelt werden. Die Gesellschafts- und also die Kulturanalyse Castoriadis’ werden auf die fiktiven Gesellschaften und Kulturen des Romans angewandt und ergeben ein eigenes Modell von Handlung, Figurencharakteristik, Stimme und anderen narratologisch interessanten Erscheinungen. Es ist einerseits etwas schade, dass diese Beobachtungen nicht mit den Konzepten der Erzähltheorie vermittelt oder nach entsprechenden Kriterien geordnet werden, um einen weiteren Einsatz in diesem Forschungsgebiet zu gestatten; andererseits liegt es im Interesse der eigenen Systematik, die Darstellung nach den eigenen Leitkategorien, also der Matrix von Dispositiven und den Institutionen Natur, Technik und Gesellschaft, zu ordnen.

Zwei kürzere Schlusskapitel runden das Werk ab: Eines fasst noch einmal die Argumentation zusammen (IX), ein anderes skizziert den Entwurf einer neuen Art von Literaturgeschichtsschreibung, die nicht von der symbolischen, sondern von der imaginären Dimension der Kultur ausgeht (X). In der Zusammenfassung wird noch einmal die Autonomie des Kunstwerks betont, die dieses dem Wirken des Imaginären in der Gesellschaft verdankt: Literatur könne daher als Medium begriffen werden, »das sowohl selbst instituiert wird als auch instituierend auf die Gesellschaft zurückwirkt« (406). In einer interessanten Erweiterung der Perspektive hebt das Schlusskapitel noch einmal den Ertrag der Dissertation für die Literaturtheorie hervor, diesmal mit einer klar diachronen Orientierung, die eine wichtige Ergänzung zu Kapitel IV bietet. So werden nun auch andere Epochen der neueren deutschen Literatur, beginnend mit dem Sturm und Drang und über die Romantik bis in den Vormärz, gemäß der Dispositive charakterisiert, in denen sich das Imaginäre bzw. die Magmalogik jeweils besonders stark ausformt (417). Das ist ein schöner Schlusspunkt, zum einen deswegen, weil schon bei Castoriadis das Magma des Imaginären »unbestimmt aber bestimmend« (428, Hervorh. im Text) zu einer nicht-teleologischen Erklärung des historischen Anderswerdens von Institutionen dienen soll, zum anderen wegen der Provokation, die darin liegt, Epochen nicht durch die Menge des Bestehenden – also die jeweils aktuellen Institutionen und ihre zentralen kulturellen Symbole – sondern durch ihr magmatisches Potenzial zu bestimmen – also die imaginären, dysfunktionalen Tendenzen, die sich poetologisch manifestieren.

Kann das Konzept des Imaginären – über eine analytische Darstellung bestimmter Poetologien hinaus – nun auch für eine Theorie der Literatur gebraucht werden? Es scheint mir ein interessanter Ansatz, das »Dispositiv«, also kultursemiotische Metasprache oder Denkfiguren, als Vermittlungsinstanz zwischen dem formenden Magma des Imaginären und dem symbolisch ausgeformten Zustand von Text und Imaginären zu wählen. Diese ›weiche‹ Vermittlung verdeckt allerdings die harte Fügung von Diskursen und Konterdiskursen ebenso wie das Gefälle zwischen einer Analyse der ästhetischen Erfahrung und einer Analyse sozialer Produktions- und Herrschaftsverhältnisse. Auch wenn beides in ähnlicher Weise von den Dispositiven des Imaginären geformt sein mag, so müsste gerade eine kulturwissenschaftliche Analyse den Unterschied berücksichtigen. So schießt das Plädoyer für eine theoretische Berücksichtigung des Imaginären an den Stellen über das Ziel hinaus, an denen es die magmatischen Tendenzen von den funktionalen, konservativen Bestrebungen des Bestehenden ablöst. Wenn außerdem mit Castoriadis imaginäre Gebilde »nicht bloß als phantasmatische Einheiten, sondern als wirkliche Bestandteile der gesellschaftlichen Institution«[2] (428) bestimmt werden, dann läge es nahe, etwas mehr über die Realität der instituierten Literatur zu erfahren. Gerade weil von der Literaturgeschichte in diesem Sinne, also als sozialer Institution, die Rede ist, erstaunt die vergleichsweise textimmanente – auf poetologische und fiktionale Äußerungen zentrierte – Betrachtungsweise der klassischen Moderne. Dieses Problem wäre weniger auffällig, würde Rauwald wie Iser das Imaginäre in den Rahmen einer Phänomenologie ästhetischer Erfahrung und künstlerischer Produktion stellen. Aber es geht hier ausdrücklich um mehr als bei Iser: »Im (literarischen) Experiment wiederum äußert sich nicht nur ein bestimmter ästhetischer Akt« (423). Um diese These belegen zu können, müsste das literarische Feld in der Gesellschaft verankert werden. Mit anderen Worten, gefordert wäre eine kulturanthropologische Analyse, wie sie Castoriadis selbst an verschiedenen Institutionen vorführt; diese könnte mit literatursoziologischen Analysen – etwa in Anlehnung an Pierre Bourdieu[3] – konkurrieren. Auch als theoretische Referenz wäre Bourdieu der Argumentation nützlich: Indem man die als Folge imaginärer Entfremdung bestimmte »Differenz« mit den »feinen Unterschieden« und dem literarischen Feld vergleicht,[4] ließe sich noch besser verdeutlichen, welche Vorzüge für eine literaturtheoretische Aneignung der Gesellschaftstheorie von Castoriadis sprechen.

Anmerkungen

[1] Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution. Frankfurt a.M. 1984, 226. [zurück]

[2] Ebd., 528. [zurück]

[3] Ein guter Überblick über entsprechende Analysen zur deutschsprachigen Moderne findet sich bei Markus Joch, »Literatursoziologie / Feldtheorie«. In: Jost Schneider (Hrsg.): Methodengeschichte der Germanistik. Berlin u.a. 2009, 385-420. [zurück]

[4] Die beiden hierzu relevanten Hauptwerke wären Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M. 1982 und Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a.M. 1999. [zurück]

2014-04-13

JLTonline ISSN 1862-8990

Copyright© by the author. All rights reserved.

This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and JLTonline.

For other permission, please contact JLTonline.