Peter Brandes

Filmtheorie narratologisch

Markus Kuhn: Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell. (Narratologia 26) Berlin/New York: de Gruyter 2011. XV, 410 S. [Preis: EUR 99,95]. ISBN: 978-3-11-025354-2.

Die transmediale Erzähltheorie gehört seit einigen Jahren zum festen Bestandteil der narratologischen Forschung. [1] Dass in der Reihe Narratologia nun ein Band zur Filmnarratologie erschienen ist, wird man insofern nicht überraschend finden. Überraschend ist aber sehr wohl die Tatsache, dass Markus Kuhns Dissertationsschrift die erste deutsche narratologische Monographie darstellt, die sich ausschließlich dem Medium Film widmet. Der Band schließt damit eine Forschungslücke. Es handelt sich bei dieser Qualifikationsschrift nicht um eine Einführung in die Filmnarratologie. Kuhn geht es in erster Linie um die Etablierung »einer anwendungsorientierten und werkinternen Filmnarratologie« (3). Er baut dabei auf Gérard Genettes Ansatz auf, [2] dessen Kategorien weitgehend übernommen und z.T. modifiziert bzw. ergänzt werden.

Die Arbeit beginnt mit einem Kapitel über die methodischen Grundlagen, in dem die zentralen Begriffe der Narratologie diskutiert und erläutert werden. Das zweite Kapitel widmet sich der transmedialen Narratologie und leitet damit über zu den folgenden Kapiteln, die sich den narrativen Instanzen, der Fokalisierung, der Zeit und komplexen Kommunikations- und Ebenenstrukturen im Film widmen.

Die vielleicht wichtigste Leistung der Arbeit besteht darin, Genettes Konzept der Erzählinstanz für den Film neu zu durchdenken. Kuhn macht deutlich, dass die Erzählinstanz im Film anders als in der Literatur nicht allein durch die Frage Wer spricht? bestimmt werden kann. Die einschneidende Neuerung, die Kuhn vollzieht, besteht darin, dass er die Erzählinstanz im Film in zwei Kategorien unterteilt, die visuelle und die sprachliche Erzählinstanz:

Der Prozess des filmischen Erzählens entsteht im Zusammenspiel einer visuellen Erzählinstanz, die durch audiovisuelles Zeigen bzw. Vorführen von Szenen erzählt, mit einer oder mehreren (oder auch gar keiner) sprachlichen Erzählinstanz(en), die wortsprachlich erzählen und der visuellen Erzählinstanz untergeordnet sein können, aber nicht müssen.

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Mit diesem basalen Modell der filmischen Erzählinstanzen löst sich Kuhns Ansatz nicht nur von Seymour Chatmans Begriff des cinematic narrator, [3] er schafft vor allem eine wichtige Grundlage für seine weiteren Analysen. Ein Problem ergibt sich allerdings daraus, dass die so gefasste Erzählinstanz einen Aspekt beinhaltet, der nach Genette nicht zur Stimme, sondern zum Modus gehört. Die Frage Wer sieht? bezieht sich bei Genette bekanntlich auf den Aspekt der Fokalisierung. Die Unschärfe des Genette’schen Modells, die darin besteht, dass die Fokalisierung durch die Semantik des Visuellen bestimmt wird, ist vielfach als solche benannt und kritisiert worden. Doch auch wenn man die Fokalisierung auf Aspekte der Wahrnehmung verallgemeinert, bleibt die Schwierigkeit, wie das Konzept einer visuellen Erzählinstanz von der Fokalisierung zu unterscheiden wäre. Kuhn löst dieses Problem, indem er die visuelle Erzählinstanz vor allem als das Zusammenspiel von Kamera und Montage auffasst: »Die visuelle Erzählinstanz ist […] eine durch Kamera und Montage selektierende, perspektivierende, akzentuierende, gliedernde, kombinierende und organisierende Vermittlungsinstanz.« (90) Bei der visuellen Erzählinstanz geht es also nicht, wie man zunächst annehmen könnte, um die Frage Wer sieht?, sondern um die Fragen Wer kombiniert und wer zeigt die Bilder, die etwas zu sehen geben? Kuhn überträgt dabei Chatmans Konzept von showing und telling, [4] das dieser für die Differenzierung mimetischer und diegetischer Darstellung im Film nutzt, auf die Kategorie der Erzählinstanz. Das widerspricht zwar dem narratologischen Modell Genettes, ist aber im Hinblick auf das filmische Erzählen nicht nur pragmatisch, sondern auch plausibel. Dass Kuhn bei aller Nähe zu Genettes Ansatz durchaus flexibel mit dessen Kategorien umgeht, zeigt sich in diesem Zusammenhang auch an dem Begriff der Fokalisierung. Kuhn geht davon aus, »dass sowohl sprachliche als auch visuelle narrative Instanzen fokalisieren können« (122). Damit unterlaufe er »die strikte Trennung der Fragen ›Wer sieht‹ und ›Wer spricht?‹« (ebd.). Im Kontext seines Analysemodells ist dies allerdings nur konsequent. Zudem modifiziert er Genettes Bestimmung der Fokalisierung so, dass sich seine Begrifflichkeiten nicht widersprechen. Genette selbst hat im Nouveau discours du récit die Frage Wer sieht? wegen der Dominanz des Visuellen verworfen und stattdessen die allgemeinere Frage Wer nimmt wahr? als Kriterium der Fokalisierung vorgeschlagen. Kuhn präzisiert Genettes Bestimmung zusätzlich, indem er den Aspekt des Wissens bzw. der Information zum zentralen Fokalisierungskriterium macht. Fokalisierung meint demnach die Selektion von Information über die Figuren im Sinne von Wie groß ist der Fokus des Wissens? Da die Visualität beim Film im Hinblick auf die Perspektive eine zentrale Rolle spielt, verwendet Kuhn für die visuelle Fokalisierung den von François Jost geprägten Begriff der Okularisierung. [5] Als Pendant für die auditive Fokalisierung nutzt er den Begriff Aurikularisierung. In seiner Filmnarratologie spielt allerdings der Begriff der Aurikularisierung gegenüber dem der Okularisierung eine eher periphere Rolle.

Während diese terminologische Abweichung von Genette im Hinblick auf die visuelle Perspektivik im narrativen Film sinnvoll und nützlich ist, erweisen sich andere Modifizierungen als diskussionswürdig. Der Begriff der mentalen Metalepse, der sowohl in dem Kapitel zur Fokalisierung als auch in dem über komplexe Ebenenstrukturen behandelt wird, ist in sich widersprüchlich. Die Metalepse bezeichnet die Figur der Ebenenüberschreitung, wenn also z.B. die Grenze von extra- und intradiegetischer Erzählebene aufgehoben wird oder wenn eine intra- bzw. metadiegetische Ebene auf eine diegetische reduziert wird. Kuhn fasst unter den Begriff der mentalen Metalepse auch Figuren-Phantasien: »Mentale Metalepsen liegen vor, wenn von einer Reflektorfigur eingebildete Figuren (und Gegenstände) so inszeniert werden, dass sie wie Elemente der diegetischen Realität wirken und agieren.« (156) Kuhn bezieht sich dabei auf Genette, der als Beispiele für drastische Ebenenwechsel u.a. das Entspringen von Figuren aus Träumen oder Phantasmen nennt. Die Ebenenüberschreitung muss also nach Genette deutlich erkennbar sein. Bei den Beispielen, die Kuhn anführt, ist dies allerdings nicht der Fall. Für Kuhn ist der Film Fear and Loathing in Las Vegas eine »Fundgrube mentaler Metalepsen«, da »Realität und Vision […] nicht als zwei getrennte Ebenen inszeniert [sind]« (157). Dem ist entgegenzuhalten, dass die Darstellung von phantasierten und realen Ereignissen nicht notwendig zwei Erzählebenen implizieren muss. Wenn also in Fear and Loathing in Las Vegas Raoul Duke in einer Hotelbar die anderen Gäste als Reptilien wahrnimmt, dann ist damit noch kein Wechsel der diegetischen Ebene vollzogen. Die mentale Metalepse – darauf verweist schon der Ausdruck mental, der sich ja notwendig auf eine intern fokalisierte Figur beziehen muss – bezeichnet in Wirklichkeit einen Effekt der internen Fokalisierung. So nimmt in Fear and Loathing in Las Vegas der Zuschauer ausschließlich die Visionen des Ich-Erzählers Duke wahr. Das zeigt sich auch an der durchgehenden externen Fokalisierung auf die Figur des Dr. Gonzo, von deren Wahrnehmungen während des gemeinsamen Drogentrips der Zuschauer nichts erfährt.

Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich bei der Thematisierung des Distanz-Begriffs. Die Kategorie Distanz wird im Kontext des Kapitels über die Fokalisierung behandelt. Nach Genette sind Distanz und Fokalisierung dem Modus zugeordnet. Die durch die Kapitelstruktur suggerierte Eingliederung der Distanz unter dem Aspekt der Fokalisierung ist unter systematischen Gesichtspunkten nicht nachvollziehbar. Als fraglich muss auch die in diesem Kontext aufgestellte Behauptung angesehen werden, dass beim Film im Unterschied zur Literatur »in der Regel eine Ähnlichkeitsrelation zwischen Zeichen und Bezeichnetem vorliegt« (185). Diese Form des Vergleichs wiederholt eine Argumentationsfigur aus dem ästhetischen Diskurs über das Verhältnis von Dichtung und Malerei im 18. Jahrhundert, demzufolge die Zeichen der bildenden Kunst als natürliche Zeichen aufgefasst wurden, die den willkürlichen Zeichen der Poesie überlegen seien. Dass diese wertende Entgegensetzung nicht haltbar ist, hat bereits Lessing festgestellt, der in den Entwürfen zu seiner Laokoon-Schrift auch der Poesie die Fähigkeit zusprach, durch den Gebrauch von Metaphern und Gleichnissen natürliche Zeichen zu produzieren. [6] Umgekehrt bedienen sich aber auch Bild-Künste wie Malerei und Film zuweilen arbiträrer Zeichen wie der Metonymie oder der Allegorie. Filmbilder lassen sich daher nicht pauschal als natürliche Zeichen, die auf einer Ähnlichkeitsrelation von Signifikant und Signifikat beruhen, qualifizieren. Insofern stellt auch nicht »jedes Filmbild […] eine ›Mimesis-Illusion‹ dar« (ebd.). Dass im Spielfilm der mimetische Modus anders organisiert ist und daher auch anders zu analysieren ist als in der Erzählliteratur, bleibt unbestritten. Die filmische Mimesis-Illusion hat jedoch andere Ursachen als die von Kuhn genannte. Die Einstellung und der Schnitt sind weit eher für den Mimesis-Effekt verantwortlich als die vermeintliche Ähnlichkeitsrelation des filmischen Zeichens.

Die Kategorie Zeit behandelt Kuhn in Anlehnung an Genette unter den Aspekten Ordnung, Dauer und Frequenz. Am weitreichendsten sind Kuhns Überlegungen zur iterativen Erzählweise. Die singulative Erzählung ist nämlich, wie leicht ersichtlich ist, der Regelfall der filmischen Erzählung: Es wird einmal erzählt, was einmal passiert ist. Dagegen stellt sich die Frage, ob die iterative Erzählung (es wird einmal erzählt, was wiederholt passiert ist) im Film überhaupt realisierbar ist. Die Verfilmungen von Prousts Recherche, die ja bekanntlich durch den Typus der iterativen Erzählung dominiert wird, scheitern mitunter (wie etwa Chantal Akermans La captive) gerade an der Darstellung der Iteration. Eine klassische Form der iterativen Erzählung macht Kuhn in der Filmerzählung dann auch nicht aus. Er spricht aber in Anlehnung an Genette von pseudo-iterativen Erzählformen. Die Anfangssequenz von Truffauts La nuit américaine, in der durch das Zeigen verschiedener Filmklappen angedeutet wird, dass »ein sich mehrfach wiederholendes Ereignis der histoire […] wenige Male repräsentiert« (232), kann insofern als iterativ angesehen werden. Kuhn bezeichnet diese Form der Erzählung »als Spielart des iterativen Erzählens« (233). Mit dieser Kompromisslösung lässt sich das iterative Erzählen dann doch in das Konzept der Filmnarratologie eingliedern.

Als erhellend erweist sich schließlich auch der Abschnitt über den Film im Film im letzten Kapitel, der die unterschiedlichen Repräsentationsformen dieses klassischen Topos systematisch aufarbeitet, indem zwischen Filmsehen im Film (6.4.1), Filmproduktion im Film (6.4.2), Fernsehshow im Film (6.4.3) und schließlich Filmproduktion als Autofiktion (6.4.4) unterschieden wird. Hier nehmen die konkreten Filmanalysen, was man an anderen Stellen z.T. vermisst, einen größeren Raum ein. Der pragmatische Mehrwert der Filmnarratologie wird dem Leser deutlich vor Augen geführt, wenn etwa die Schlusssequenz der Truman Show, in der der Protagonist bei seiner Flucht mit dem Boot die seine Welt begrenzende Kulissenwand rammt, als visuelles Symbol eines »metaleptische[n] Ebenendurchbruch[s]« (349) gelesen wird.

Der Erkenntnisgewinn, den die Lektüre von Kuhns Band zeitigt, ist zweifelsohne enorm, auch wenn an einigen Stellen die Übertragung der Genette’schen Kategorien auf das Medium Film nicht vollständig gelungen ist. Dass Kuhns Darstellung z.T. zum Widerspruch reizt, ist überhaupt als ein gutes Zeichen zu werten, denn die lebendige Debatte hat ja schon immer die narratologische Forschung geprägt und befruchtet.

Peter Brandes

Ruhr-Universität-Bochum

Komparatistik

Anmerkungen

[1] Vgl. Nicole Mahne, Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung, Göttingen 2007; Vera Nünning (Hg.), Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, Trier 2002. [zurück]

[2] Vgl. Gérard Genette, Die Erzählung [1994], aus dem Franz. von Andreas Knop, München ²1998. [zurück]

[3] Vgl. Seymour Chatman, Coming to Terms. The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film, Ithaca, NY/London 1990, 124–138. [zurück]

[4] Vgl. Seymour Chatman, Coming to Terms. The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film, Ithaca, NY/London 1990, 109–118. [zurück]

[5] Vgl. François Jost, L’œil – caméra. Entre film et roman, Lyon 1987. [zurück]

[6] Vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, Werke und Briefe Bd. 5,2, hg. von Wilfried Barner, Frankfurt a.M. 1990. [zurück]

2013-03-04

JLTonline ISSN 1862-8990

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