Thomas Petraschka
Historische Prolegomena zu einer modernen Hermeneutik
Wolfgang Detel, Geist und Verstehen. Historische Grundlagen einer modernen Hermeneutik. (Philosophische Abhandlungen Band 104) Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann 2011. 592 S. [Preis: EUR 69,00]. ISBN: 978-3-465-03711-8.
Wolfgang Detel hat ein ausgezeichnetes Buch vorgelegt, das den Leser dennoch auf eine gewisse Weise unbefriedigt zurücklässt. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen, von denen der meines Erachtens wichtigste in der Konzeption liegt.
Geist und Verstehen ist angelegt als Versuch, »die Hermeneutik als klassische Theorie des Verstehens im Rahmen der gegenwärtigen Theorie des Geistes neu zu rekonstruieren« (12). Detel macht einleitend klar, dass er dieses fulminante Unterfangen »in einer möglichst sanften Form« angehen will und sein Buch dementsprechend nicht nur an »Hermeneutik-Spezialisten und Philosophen« adressiert, sondern an alle, »denen die Geisteswissenschaften am Herzen liegen« (13). Da es Detel außerdem nicht für hilfreich erachtet, »unmittelbar mit einer ausführlichen Darstellung der einschlägigen subtilen Theorien zu beginnen«, entscheidet er sich dafür, auf knapp 300 Seiten einschlägige Stationen der Hermeneutikgeschichte »aus geist-theoretischer Sicht zu interpretieren und zu kommentieren« (ebd.), bevor er sich in einem zweiten Teil systematischen Fragen zuwendet (vor allem in Kap. 8, »Geist und Verstehen: Ein systematischer Grundriss«). Die dort gewonnenen Erkenntnisse werden in der Folge exemplarisch auf die Bereichshermeneutik der Literaturinterpretation bezogen (vgl. Kap. 9, »Zum Verstehen von Literatur«), bevor Detel nochmals zusammenfassend versucht, die Geschichte der Hermeneutik »mit der Theorie des Geistes zusammenzubringen« ([ebd.], vgl. Kap. 10, »Hermeneutik und Geist-Theorie«).
Es handelt sich also bei Detels Buch dem Anspruch nach nicht um eine ausschließlich historische Arbeit, vielmehr soll gerade in dem zentralen Kapitel 8 – dessen herausgehobene Stellung schon dadurch deutlich wird, dass imposante 44 Fußnoten des historischen Teils darauf verweisen – genügend systematische Durchschlagskraft entwickelt werden, um die angekündigte Neu- bzw. Rekonstruktion einer modernen Hermeneutik theoretisch aufzufangen. Dass die Konzeption des Buchs in Hinblick auf dieses ehrgeizige Vorhaben durchaus »riskant und prekär« ist, macht Detel einleitend auch selbst schon deutlich (13). Besonders »riskant und prekär« scheint mir dabei aber nicht nur der von Detel benannte Zwang, »sich in großen Schritten durch einflussreiche hermeneutische Theorien des Verstehens« bewegen zu müssen oder »die Fülle der zum Teil sehr interessanten Sekundärliteratur allenfalls selektiv berücksichtigen« zu können, sondern eher noch, dass der Raum, der für die Fundierung des theoretischen Rahmens verwendet wird, zwangsläufig vergleichsweise gering ausfallen muss, obwohl gerade »subtile Theorien« besonders ausführlicher Erläuterungen bedürfen (ebd.). Abhilfe wird hier eine vom Autor bereits angekündigte Folgestudie mit dem Titel Kognition und Interpretation. Systematische Grundlagen einer modernen Hermeneutik schaffen, auf die man bereits gespannt sein darf.
Bevor ich etwas genauer auf die systematischen Aspekte eingehe, soll kurz der historische erste Teil, dessen scharfsinnige Analysen übrigens alleine schon eine lesenswerte Studie ergeben hätten, zu seinem Recht kommen.
1. Teil I: »Geschichte der Hermeneutik und Theorie des Geistes« – Historische Lektüren
Die historischen Teilkapitel reichen von der Antike bis zur Gegenwart, genauer: von der vorplatonischen Homerexegese bis zur ›kognitiven Hermeneutik‹, die 2007 von Peter Tepe mit einem gleichnamigen Buch aus der Taufe gehoben wurde. [1] Detels Lektüren sind fundiert und klar, Wertschätzung und Kritik werden jederzeit deutlich – zart besaitete Gemüter mögen sagen: überdeutlich – artikuliert. Eine Kostprobe: Die philosophische Hermeneutik Martin Heideggers und Hans-Georg Gadamers hält Detel für ein »unglückliches theoretisches Hybrid« (165), das mit »Philosophie allgemein […] nichts zu tun« hat (166), auch Semiotik, Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus hätten »die Hermeneutik […] nicht entscheidend voranbringen können«, weil »sie zu viel an schlechter und überholter Philosophie« enthielten (245). Eine Passage, in der Heidegger über den Aussagesatz bei Aristoteles schreibt, beurteilt Detel dementsprechend als »an Banalität kaum zu überbieten« (68), eine von Jonathan Culler stammende Dekonstruktion des Kausalitätsbegriffs als »eine peinlich dilettantische arm-chair-Analyse ohne jedes theoretische Gewicht« (229). Da diese kompromisslosen Einschätzungen meines Erachtens aber nicht nur auf der Ebene von gehaltlosen Polemiken stehen bleiben, sondern auch sachlich überzeugend begründet werden, sehe ich darin durchaus einen Vorzug von Detels Studie. Dieser positive Eindruck wird dadurch unterstützt, dass die Kritik bei all ihrer Schärfe nie undifferenziert wirkt. Detel würdigt vielmehr durchaus auch die Leistungen von theoretischen Entwürfen, denen er selbst nicht nahesteht.
Insgesamt sind die historischen Passagen allesamt gründlich, umfassend informiert (einzelne Abschnitte werden in angehängten Exkursen noch weiter vertieft [2]) und von großer analytischer Schärfe. Dass Detel etwa Georg Friedrich Meier, dem Oliver Scholz explizit einen »Ehrenplatz in der Geschichte der Hermeneutik« zuweist, [3] möglicherweise etwas unterschätzt, oder die Einschlägigkeit Gottlob Freges und der logischen Empiristen etwas zu emphatisch bespricht, sind keine substantiellen Kritikpunkte, sondern lediglich Marginalien. Was allerdings durchaus verwundert, ist das Fehlen eines Kapitels zu Willard van Orman Quine und Donald Davidson, die eine in ihrer Wichtigkeit kaum zu überschätzende Gelenkstelle zwischen der in der Tradition Freges und der logischen Empiristen stehenden analytischen Sprachphilosophie und der für Detel so zentralen modernen Hermeneutik bilden. Die Arbeiten Davidsons sind für Detel auch in systematischer Hinsicht fundamental. Er bezieht sich auf Davidsons Kritik der Idee inkommensurabler Begriffsschemata (z.B. 381f., 386), auf Davidsons transzendentale Wahrheitsunterstellung für die (radikale) Interpretation und seine darauf fußende, als ›Interpretationismus‹ bezeichnete Interpretationstheorie (z.B. 335, 379f., 387) sowie auf Davidsons Überlegungen zum Verstehen von Metaphern (z.B. 458–462). Aufgrund dieser exponierten Stellung Davidsons wäre eine ausführlichere, über den knappen und formalisierten Exkurs 5 zum »Modell einer davidsonianischen Interpretationstheorie« hinausgehende Rekonstruktion seiner Arbeit nachgerade ideal geeignet gewesen, um den Übergang zur angestrebten theoretischen Grundlegung einer modernen, geist-theoretisch informierten Hermeneutik zu bilden.
Was Detels einleitend zitierte Ankündigung, klassische Überlegungen aus der Geschichte der Hermeneutik »im Rahmen der gegenwärtigen Theorie des Geistes neu zu rekonstruieren« (12), im Detail heißen soll, lässt sich exemplarisch anhand seiner Lektüre Friedrich Schleiermachers nachvollziehen. Schleiermachers grundlegende Prämisse, »dass Reden ›gewordene Gedanken‹ der Autoren sind, also ›die äußere Seite des Denkens‹ darstellen«, und dass damit das »Verstehen […] grundsätzlich die ›Umkehrung des Redens‹« sei (124), ist für Detel keineswegs eine »Einengung des Verstehens auf das Entschlüsseln der Autorenintention und damit auf einen psychologischen, subjektiven und individuellen Sachverhalt« (125). Vielmehr lege sich Schleiermacher damit lediglich »auf das Lesen des Geistes als Grundmodell des Verstehens fest« und betone »die Expressivität menschlicher Gedanken in sprachlichen Zeichen« (ebd.). Es sei »nicht eine der Schwächen, sondern einer der Vorzüge seiner Hermeneutik, dieses zentrale Grundmodell in aller wünschenswerten Klarheit artikuliert zu haben« (ebd.).
Die grammatische Dimension von Schleiermachers Auslegungskonzept rekonstruiert Detel in aktueller, sprachphilosophisch geprägter Terminologie als »das rationale (zum Beispiel auch logisch inspirierte, auf Kohärenz zielende) Nachkonstruieren der Rede auf der Basis eines semantischen Holismus. Die grammatische Auslegung ist für Schleiermacher nicht ein Einfühlen, sondern eine Rationalisierung der zu interpretierenden Rede.« (126) Damit aber nicht genug, auch die psychologische Dimension der Auslegung bei Schleiermacher lasse sich auf vergleichbare Art und Weise aktualisieren. Wie Detel völlig richtig argumentiert, sei das Konzept der ›Einfühlung‹ auch hier nicht auf den enthusiasmierten Nachvollzug emotionaler Konstellationen zu beschränken, sondern eher zu verstehen als ein »Sich-Einlassen auf die konsistente Gedankenwelt einer anderen Person« (132). Damit sind Analogien zur theory-theory-Variante der aktuell diskutierten theory of mind gegeben: »Das psychologische Verstehen im Sinne der Theorie-Theorie ist darauf ausgerichtet, das Netz propositional gehaltvoller mentaler Episoden bestimmter Personen rational zu rekonstruieren. Dieses Verfahren ist objektiv, d.h. unterliegt durchaus öffentlich zugänglichen Adäquatheitsbedingungen« (ebd.). [4] Selbst die divinatorische Variante des psychologischen Verstehens will Detel nicht vorschnell im Sinne von Empathie oder mentaler Simulation verstanden wissen. Obwohl verschiedenste Interpreten gerade mit dieser Variante »so viele Schwierigkeiten haben, weil sie angeblich zu subjektiv« sei, habe sie »nichts mit dem Erfassen des psychologischen Modus, der Stimmung, des phänomenalen Bewusstseins, der Gefühle nach ihrer Erlebnisseite hin (also mit Empathie im geist-theoretischen Sinne) zu tun« (ebd.).
Schon anhand dieser kurzen Auszüge wird Detels allgemeine Stoßrichtung deutlich. Seine Relektüren der klassischen Texte teilen den so innovativen wie vielversprechenden Impetus einer Rationalisierung und Objektivierung der hermeneutischen Anstrengungen, die im Sinne einer wissenschaftlich belastbaren, intersubjektiv nachvollziehbaren Methode aufgefasst werden sollen. Das Fazit zu Schleiermacher unterstreicht dies erneut:
Das Modell des Personenverstehens, das Schleiermacher hier vor Augen hat, ist also schlicht das möglichst maximale Durchrationalisieren der Absichten und Überzeugungen der Person anhand ihrer Äußerungen und Schriften, insbesondere auch in Hinsicht auf die Genese dieser Gedanken. […] Das zentrale Resultat der vorstehenden Analyse der Schleiermacherschen Hermeneutik ist, dass Schleiermacher die Methode des Verstehens nicht als einfühlende subjektive Empathie, sondern als wissenschaftsfähige Rationalisierung im Blick auf holistisch organisierte semantische Netzwerke betrachtet hat.
(135f. [meine Hervorhebung])
2. Teil II: »Perspektiven einer modernen Hermeneutik« – Systematische Grundlagen
Nachdem durch die aktualisierende Lektüre einiger hermeneutischer Klassiker der Boden für die systematischen Überlegungen bereitet ist, macht sich Detel daran, »die allgemeine Kennzeichnung von Geist und Verstehen« genauer auszubuchstabieren (329). Der von ihm angelegte metarepräsentationale Begriff des ›Verstehens‹ läuft – etwas vereinfacht – darauf hinaus, dass Person A Person B versteht, wenn A die Funktionalität und die Repräsentationalität (sowie unter Umständen die ›Bewusstheit‹, obwohl mir gerade dieser Aspekt eher für ein Verstehen im Sinne einer tendenziell subjektiven Simulation bestimmter Erlebnisqualitäten relevant scheint), außerdem die Syntax und die Normativität der mentalen Zustände von B anhand der von B produzierten expressiven Zeichen erfasst (vgl. 330–334). [5] Metarepräsentational ist dieser Verstehensbegriff in dem Sinn, dass er sich auf das Repräsentieren einer Repräsentation bezieht – das, was in der Welt der Fall ist, wird durch einen mentalen Zustand repräsentiert, diese Repräsentation wird wiederum durch bestimmte Zeichen repräsentiert, welche dann im Verstehensprozess erfasst werden müssen. Im impliziten Rekurs auf Davidson [6] geht Detel nicht davon aus, dass der »Rückgriff auf linguistische Konventionen in der Semantik theoretische Priorität haben sollte« (335), grundlegende Formen des Verstehens sind für ihn vielmehr »die rationale Rekonstruktion der semantischen Gehalte von Äußerungen, Gedanken und Texten« sowie »das Nachempfinden des phänomenologischen Bewusstseins anderer Menschen« (336). Beide Formen erläutert Detel anschließend in Bezug auf die aktuelle Theorie-Theorie und die Simulationstheorie, ohne dabei jedoch allzu sehr in die Tiefe zu gehen.
In den folgenden Teilen von Kapitel 8 versucht Detel die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestehende Debatte um die Dichotomie von ›Verstehen‹ und ›Erklären‹ als »lediglich […] terminologische Differenz« zu entschärfen (378), indem er das im Sinne einer rationalen Rekonstruktion verstandene ›Verstehen‹ als eine Form der Erklärung etabliert, deren Spezifikum nicht in der Methode, sondern im Untersuchungsgegenstand – dem Geist und geistigen Erzeugnissen wie Texten, und eben nicht naturgesetzlichen Vorgängen – liegt. Außerdem wird versucht, den Geltungsbereich des Verstehens auf Handlungserklärungen auszuweiten und es evolutionär respektive kognitionspsychologisch als »Ferment des Humanen« zu verankern (369). Damit ist gemeint, dass die moderne Hermeneutik zeigen soll, dass das »Verstehen selbst eine humanspezifische Fähigkeit ist, die den größten Leistungen des Menschen zugrunde liegt«, aber auch, dass »das Verstehen seiner zentralen Funktion nach das Humanspezifische am menschlichen Artgenossen und an sich selbst zu erfassen vermag« (ebd.). Abschließend argumentiert Detel dafür, eine erneut auf Davidsons Arbeiten zurückgehende Interpretationstheorie – den sogenannten Interpretationismus – zu akzeptieren, die es ermöglicht, das Verstehen unter Bezugnahme auf als »Rationalitätsunterstellungen« (387) konkretisierte Nachsichtigkeitsprinzipien systematisch mit den schon erwähnten Rationalisierungsstrategien zu verschränken.
In Kapitel 9 wird dieser Grundriss eines modernen hermeneutischen Verstehensbegriffs an der Bereichshermeneutik der Literaturinterpretation erprobt. Diese Erprobung hat nicht den Charakter einer ausführlichen und detaillierten Modellinterpretation, [7] Detel versucht eher allgemein zu zeigen, dass »der geist-theoretische Grundbegriff des Verstehens in vielen Formen des Verstehens von Literatur eine Rolle spielt« (393). Detel liefert dementsprechend insgesamt etwas heterogen wirkende Kommentare zu Einzelproblemen, wie etwa zur Anwendung der hypothetisch-deduktiven Methode auf die Lyrik Sapphos, zum Literaturbegriff allgemein, oder zur Spezialfrage des Verstehens von Metaphern.
Offensichtlich ist der Vorwurf der fehlenden Umfassendheit müßig – es ist völlig legitim, einzelne Problembereiche auszulagern. Dennoch wäre eine konsequentere Beibehaltung des kritisch-theoretischen Impetus auf dem Gebiet der Literaturinterpretation wünschenswert gewesen. Einige Fragen werden nicht ausreichend gewürdigt oder gar nicht gestellt, obwohl sie für die Anwendung von Detels allgemein hermeneutischen Überlegungen auf die philologische Hermeneutik konstitutiv sind.
So äußert sich Detel bedauerlicherweise nicht zu dem Konflikt, der entsteht, wenn man einerseits die Erkenntnis, dass hermeneutisches Verstehen als unabhängig vom Wahrheitswert des Verstandenen aufzufassen ist (vgl. z.B. 78f., 96), ernst nimmt und diese mit der für Davidsons radikale Interpretation transzendentalen Unterstellung von Wahrheit zusammenführt. Der Verweis, dass die basale Unterstellung von Wahrheit in eine allgemeinere Unterstellung von Rationalität eingeht und potentielle Falschheiten erst vor dem Hintergrund weitgehender Rationalität des Interpretierten erkennbar werden (vgl. z.B. 387f.), scheint mir zwar nicht detailliert genug erläutert, im Kern aber natürlich richtig. Im Fall der Literaturinterpretation ist dieses Problem jedoch besonders virulent, da die Interpretanda des Literaturinterpreten – im Gegensatz zu normalsprachlichen Äußerungen wie gavagai – charakteristischerweise keineswegs wahr sind. Im Gegenteil, unterstellte ein Interpret von George Orwells Animal Farm ohne Weiteres die Wahrheit der in dem Text enthaltenen Propositionen, hätte man gute Gründe, seine interpretative Kompetenz zu bezweifeln. Im Fall der philologischen Hermeneutik scheint die genauere Ausdifferenzierung des notorisch vagen Rationalitätsbegriffs dementsprechend eine andere sein zu müssen als in anderen Bereichshermeneutiken. Womöglich sind es anstelle von Wahrheit eher Kriterien wie Kohärenz oder Konsistenz (dies wird z.B. auf Seite 410 impliziert), die als zentrale Rationalitätsunterstellungen im Rahmen des Verstehens fiktionaler literarischer Texte fungieren könnten. Eine genauere Diskussion dieser Probleme wird jedoch nicht geführt. Es ist auch in solchen Aspekten die enorm umfassende Bandbreite von Detels Buch, die dazu führt, dass der bekanntlich im Detail sitzende Teufel ab und an aus dem Blick gerät.
3. Fazit
Wie schon angesprochen, ist Wolfgang Detel ein so ambitioniertes wie hochinteressantes Buch gelungen, dem viele Leser zu wünschen sind – im Anschluss an Detels eigenen Wunsch auch außerhalb eines engen Zirkels von Hermeneutik-Spezialisten. Dass sich nach der Lektüre dennoch kein restlos positiver Eindruck einstellen will, erklärt sich, abgesehen von einigen Detailproblemen, in erster Linie aus dem (allzu) umfassend formulierten Anspruch einer theoretischen Neu- bzw. Rekonstruktion der Hermeneutik, den die Studie in dieser Form noch nicht einlöst – und als zum großen Teil historische Arbeit auch gar nicht einlösen kann, da die für Detel maßgeblichen Hintergrundtheorien schon aufgrund ihrer interdisziplinären Natur und Komplexität ausführlicher Erläuterung bedürfen. Die in dem zweiten Abschnitt des vorliegenden Buchs vorgenommene, eher einführende Skizze ist dafür nicht ausreichend.
Da sich Detel dessen auch selbst bewusst ist und dementsprechend nahegelegt wird, seine Studie als ersten Teil eines umfassenderen Projekts aufzufassen, scheint es mir aber durchaus angemessen, diese Anmerkungen positiv zu reformulieren. Detel lässt seinen Leser, wenn man so will, in mehr als gespannter Erwartung auf die schon angekündigte Folgestudie Kognition und Interpretation zurück, die, wie der Untertitel Systematische Grundlagen einer modernen Hermeneutik anzeigt, einiges an essentieller theoretischer Arbeit nachliefern soll. Geht man von der Qualität des vorliegenden Buchs aus, darf man beruhigt erwarten, dass sie das auch tun wird.
Universität Regensburg
Neuere deutsche Literatur
Anmerkungen
[1] Diese Kapitel sind im Einzelnen: »Hermeneutik in Antike und Mittelalter« (Kap. 1), »Hermeneutik der frühen Neuzeit und der Aufklärung« (Kap. 2), »Hermeneutik bei Schleiermacher, Dilthey und Weber« (Kap. 3), »Das Projekt der philosophischen Hermeneutik« (Kap. 4), »Von der Semiotik zur postmodernen Textanalyse« (Kap. 5), »Verstehen als logische Analyse« (Kap. 6) und »Interkulturelle, naturalistische und kognitive Hermeneutik« (Kap. 7). [zurück]
[2] Die Exkurse sind »Der Aufbau der Syllogistik«, »Zur postmodernen Historiographie der Mathematik«, »Beweise der Widerspruchsfreiheit und Vollständigkeit von Kalkül K«, »Zur Wahrheitstheorie Tarskis« und »Modell einer davidsonianischen Interpretationstheorie«. [zurück]
[3] Oliver Scholz, Die allgemeine Hermeneutik bei Georg Friedrich Meier, in: Axel Bühler (Hg.), Unzeitgemäße Hermeneutik. Verstehen und Interpretation im Denken der Aufklärung. Frankfurt a. M. 1994, 158–191, hier 163. Detel äußert sich durchgehend anerkennend über die Arbeiten von Scholz, dessen zentrale Monographie Verstehen und Rationalität er als ein »hervorragendes Buch« einschätzt (22), das »in vielerlei Hinsichten ein Vorbild für die vorliegende Studie« gewesen sei (23), vgl. Oliver Scholz, Verstehen und Rationalität. Untersuchungen zu den Grundlagen von Hermeneutik und Sprachphilosophie, Frankfurt a. M. 1999. [zurück]
[4] Was diese Adäquatheitsbedingungen genau sind, wird an dieser Stelle nicht ausführlicher erläutert – sinnvoll erscheint es, hier etwa auf Carlos Spoerhases Vorschlag, Prinzipien hermeneutischer Billigkeit als Adäquatheitsbedingungen zu konstruieren, zurückzugreifen, vgl. Carlos Spoerhase, Autorschaft und Interpretation. Methodische Grundlagen einer philologischen Hermeneutik, Berlin 2007, v.a. 385–438. [zurück]
[5] Es geht nicht eindeutig aus dem Text hervor, ob Detel hier hinreichende oder notwendige und hinreichende Bedingungen für Verstehen spezifiziert. Dass Detel selbst schreibt »Lebewesen A versteht Lebewesen B, wenn« (331) bestimmte Bedingungen erfüllt sind (und nicht etwa »Lebewesen A versteht Lebewesen B, genau dann wenn« bestimmte Bedingungen erfüllt sind) spricht eher für die erste Lesart. Formulierungen wie »Nur geistige Wesen können etwas verstehen. Und sie können nur andere geistige Wesen verstehen, also nur mentale zustände geistiger Wesen und die von ihnen produzierten Zeichen« (330) scheint mir eher für die stärkere Variante zu sprechen. Da ich mir nicht sicher bin, habe ich im Fließtext eine neutrale Formulierung gewählt, die sich diesbezüglich nicht festlegen will. [zurück]
[6] An dieser Stelle speziell im Rekurs auf Donald Davidson, Eine hübsche Unordnung von Epitaphen, in: Eva Picardi/Joachim Schulte (Hg.), Die Wahrheit der Interpretation. Beiträge zur Philosophie Donald Davidsons, Frankfurt a. M. 1990, 203–227. [zurück]
[7] Für ein ausgezeichnetes Beispiel einer solchen umfassenden exemplarischen Anwendung hermeneutischer Überlegungen vgl. Peter Tepe/Jürgen Rauter/Tanja Semlow, Interpretationskonflikte am Beispiel von E. T. A. Hoffmanns »Der Sandmann«. Kognitive Hermeneutik in der praktischen Anwendung, Würzburg 2009. [zurück]
2012-06-12
JLTonline ISSN 1862-8990
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