Claudia Lillge
Vom Wissen über das Nichtwissen
Achim Geisenhanslüke, Dummheit und Witz. Poetologie des Nichtwissens. München: Wilhelm Fink 2011. 295 S. [Preis: EUR 49,90]. ISBN: 978-3-7705-5205-4.
Blödigkeit, Debilität, Desinteresse, Einfalt, Idiotie, Ignoranz, Phlegma, Unvernunft und Unwissenheit: Die Dummheit hat viele Gesichter. Achim Geisenhanslüke macht es sich in seinem neuen Buch, das eine Poetologie und Kulturgeschichte des Nichtwissens bietet, zur Aufgabe, in viele dieser Gesichter und ihre literarischen Repräsentationen zu blicken. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Annahme einer grundsätzlichen »Dialektik von Dummheit und Witz«, denn, so will es der Autor in Anlehnung an die kantische Philosophie verstanden wissen, »[w]enn sich die Dummheit mit dem Nichtwissen in Verbindung setzen lässt, dann korrespondiert ihr auf der Seite des Wissens der Witz im umfassenden Sinne als geistige Fähigkeit des Subjekts verstanden« (9). Für die gedankliche Komposition der Studie erweist sich der hervorgehobene Gegensatz von Dummheit und Witz insofern als produktive Basis, als er die Dummheit nicht allein aus der Position des Wissens und damit als schlichte »Abwesenheit von Wissen« oder »›unmarkiertes Anderes‹« zu fassen versucht (ebd.), sondern sie in ihren vielgestaltigen Facetten in den Blick nimmt. Das Ziel, welches Geisenhanslüke damit verfolgt, ist ein doppeltes: Einerseits unterzieht er die scharfe Trennung von ›Wissen‹ und ›Nichtwissen‹, wie sie insbesondere durch Kant festgeschrieben wurde, einer Neubesichtigung, andererseits begibt er sich über die Bestimmung des »Anderen des Wissens« zugleich auf die Suche nach historisch variierenden Vorstellungen des Nichtwissens, von denen sich »Wissensformationen« konstitutiv differenzieren und, damit verbunden, ›Wissensgrenzen‹ fixieren (11). Geisenhanslükes Kulturgeschichte folgt dementsprechend einer binären Optik. In dem Vorhaben, eine »Poetologie des Nichtwissens« zu schreiben, ist die Nachzeichnung einer »Genealogie des Wissens« – im Sinne Nietzsches und Foucaults – implizit (ebd.). Prägnante Beispiele für eben jene vielfältigen Verschränkungen von Wissen und Nichtwissen findet Geisenhanslüke in philosophischen und literarischen Texten von der Antike bis zur Moderne sowie im Film der Postmoderne, deren Analyse er in seiner Studie in drei Untersuchungsabschnitte (1. Dummheit und Witz, 2. Poetik des Nichtwissens und 3. Witz und Dummheit) unterteilt. Die Reihe der Unterkapitel folgt trotz des historisch umfänglichen Textkorpus indes keiner rein chronologischen Ordnung, sondern nimmt ihren Ausgang zunächst bei Kant, sprich: mit der Epochenschwelle zur Moderne.
Beginnend mit Kants Versuch über die Krankheit des Kopfes sowie der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht ist es Geisenhanslüke im ersten Untersuchungsabschnitt um die Profilierung von drei Spielarten der Dummheit zu tun, und zwar jene der ›moralischen Einfalt‹, des ›Monströsen‹ und des ›Phlegmas‹, welche er, in einem zweiten Schritt, an literarischen Texten präzisiert. Der Blick des Autors richtet sich zunächst auf die ›Einfalt‹: Nach Kant ist die Einfalt zwar durchaus als ein Mangel an Verstand zu verstehen, als eine Form verminderter Auffassungsgabe dabei aber keineswegs unvermischt negativ besetzt, denn, wie es der Typus des ›ehrlichen Dummen‹ (vgl. 34) oder aber auch das Phänomen der »Einfalt des Herzens« (50) zeigen, setzt die Einfalt eine »moralische Integrität des Charakters« voraus (ebd.). Vor dem Hintergrund dieses kantischen ›Lobs der Einfalt‹ liest Geisenhanslüke Johann Peter Hebels Kalendergeschichten »Kannitverstan« und »Die drei Diebe«, Matthias Claudius’ »Abendlied« und Friedrich Hölderlins Ode »Blödigkeit«. Besonders in der relationalen Lektüre der drei Texte spielen sich dabei differenzierte Sichtweisen und Bewertungen der Einfalt frei: Während Hebel mit seiner Figur des wissenden/nicht-wissenden Handwerksburschen (»Kannitverstan«) und Claudius mit seiner Propagierung ›kindlicher Einfalt‹ das kantische Lob der Einfalt fortschreiben, stellt Hölderlin dem Konzept der Einfalt das ›poetische Geschick‹, Hebel indes – diesmal in »Die drei Diebe« – den ›Witz‹ gegenüber, sprich: Sie verweisen auf Möglichkeiten, ›einfältige‹ Ordnungen zu unterlaufen. Auch dem ›Monströsen‹ sind das Widerständige und der Verstoß gegen das Regelhafte eigen, wie Geisenhanslüke am Beispiel des Protagonisten Dr. Katzenberger aus Jean Pauls Dr. Katzenbergers Badereise vorführt. Denn mit dieser Figur formuliert Jean Paul, so die Position Geisenhanslükes, seinen »Einspruch gegen die idealistische Ästhetik in der Nachfolge Kants, die auf der Regelhaftigkeit des Schönen besteht und allein im moralisch besetzten Begriff des Erhabenen eine Ausnahme von den eigenen Gesetzen finden kann« (88). Folgt man Aristoteles und seinen Beschreibungen des phlegmatischen Temperaments in der Nikomachischen Ethik, reduziert sich das ›Phlegma‹ auf ein Zuwenig an Emotionen, was mit Aristoteles’ Ideal der »rechten Mitte« nicht kompatibel ist (91). Kant hingegen unterscheidet negative und positive Seiten des Phlegmas. Während sich das Phlegma mit der »Untätigkeit und Unbewegtheit« in Verbindung bringen lässt, erkennt Kant in ihm zugleich eine »Herrschaft der Vernunft über die Affekte« sowie das Ideal des »besonnenen Denkers« (94). Die Lektüren von Iwan A. Gontscharows Oblomow, Wilhelm Raabes Stopfkuchen und Franz Kafkas Das Schloß, die Geisenhanslüke auf die oben skizzierten Vorüberlegungen bezieht, zeigen – bei aller Unterschiedlichkeit der jeweiligen Figurenkonzeptionen – allerdings noch einen weiteren Aspekt: Sie betrachten das Phlegma als eine Verweigerungshaltung respektive als eine »passiv[e] Form des Widerstandes gegen die Moderne« (95).
Historisch setzt der zweite Teil der Studie, der dem ›Nichtwissen‹ vorbehalten ist, in der Antike an, und zwar bei der durch Benjamin und Nietzsche scharf kritisierten Figur des Sokrates. Die Kritik Benjamins und Nietzsches richtete sich bekanntermaßen gegen das »sokratische Nichtwissen«, welches »sich selbst nur als Nichtwissen ausgibt« (115). Geisenhanslüke führt den Leser nachfolgend von Platons Protagoras-Dialog und der »sokratische[n] Kritik am sophistischen Wissen« zu einer anhand des Menon-Dialogs diskutierten Bestimmung des »Verhältnis[ses] von Wissen und Nichtwissen« (119). Mit Blick auf den Prometheusmythos (Hesiod und Aischylos) und die Antigone (Sophokles) geht es Geisenhanslüke dann vor allem um die Dialektik dieses Verhältnisses, das, so die These des Autors, »in der Konkurrenz von Philosophie und Tragödie für das antike Denken kennzeichnend gewesen ist« (ebd.). Im zweiten Abschnitt dieses Buchkapitels trifft der Leser auf eine Figurenreihe sogenannter ›üblicher Verdächtiger‹, das heißt auf die ›gelehrten Unwissenden‹ (in Texten von Petrarca, Cervantes, Rabelais, Goethe), die ›liebenden Dummköpfe‹ (im Drama Shakespeares) und die ›dummen Schreiber und Kopisten‹: Gustave Flauberts Bouvard und Pécuchet (Bouvard et Pécuchet), Fjodor M. Dostojewskis Fürst Myschkin (Der Idiot) sowie Thomas Manns Adrian Leverkühn (Doktor Faustus).
Während sich der erste Teil des Buches dem dialektischen Verhältnis von Dummheit und Witz primär über Spielarten der Dummheit nähert, verkehrt der dritte Teil der Studie diesen Schwerpunkt und stellt nun den ›Witz‹ in den Vordergrund der Betrachtung. Das Theoriesetting, vor dessen Hintergrund Geisenhanslüke dieses Kapitel situiert, ist Freuds Buch Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, dessen Thesen einleitend durchaus umfänglich rekonstruiert werden. Aber nicht nur strukturell, sondern auch thematisch schließt sich auf diese Weise ein Kreis, zumal in den Analysen der Texte von Robert Musil, Ludwig Wittgenstein, Jorge Luis Borges, E.T.A. Hoffmann und der Filmlektüre von Twin Peaks (David Lynch) abschließend die Unsicherheit bezüglich der Möglichkeiten des Wissens aufgegriffen sowie auf Formen der Fiktionalisierungen des Wissens, aber auch der »Subversion des Wissens« verwiesen wird (274).
Geisenhanslükes instruktives Buch, das durchgängig durch seinen eleganten Stil besticht, kennzeichnet sich durch zugleich scharfsinnige und erkenntnisreiche Lesarten der von ihm behandelten literarischen Textbeispiele. Letztere fügen sich in der Gesamtschau zu einer poetischen tour d’horizon, die die Dummheit in ihren mannigfaltigen Spielarten, ihren widerständigen Potentialen und ambivalenten Funktionen präsentiert. Mögen künftige Leser so klug sein, mit der Lektüre dieses Buches dem Nichtwissen und der Dummheit die Ehre zu geben.
Universität Paderborn
Komparatistik/Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft
2012-10-01
JLTonline ISSN 1862-8990
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