Katja Kremendahl
»Aber ich bin verantwortlich«:
Von der auktorialen Ethik bei Platon und Nietzsche
Seán Burke, The Ethics of Writing. Authorship and Legacy in Plato and Nietzsche. Edinburgh: Edinburgh University Press 2008. XII, 243 S. [Preis: EUR 15,17]. ISBN: 978-0-7486-4179-6.
Einordnung und Struktur
Seán Burkes The Ethics of Writing. Authorship and Legacy in Plato and Nietzsche, deren Titel sich nicht ohne Grund an J. Hillis Millers The Ethics of Reading anlehnt, beschäftigt sich mit dem autororientierten Ansatz literaturwissenschaftlicher Ethik:
In treating of [sic!] the ethics of writing we are obliged to remain within the realm of ›textual ethics‹, but in our equation of ›authorial acts‹ with ›deeds‹ in the more traditional ethical sense, it is our aim to approach the borderline at which an act of inscription translates into ethically serious consequences at the social, historical, institutional and political levels. [1]
(38, Anm. 11)
Die Abhandlung grenzt sich somit sowohl thematisch als auch systematisch von dem weitaus verbreiteteren leserorientierten Ansatz ab, wie er insbesondere von Wayne C. Booth und Martha Nussbaum in den letzten Jahren vertreten wurde. [2] Zunächst ist festzustellen, dass die Monographie von Burke das hält, was der Titel verspricht. Auf den 250 Seiten beschäftigt sich der Autor ausführlich mit den Konzepten ›Autorschaft‹ und ›Nachlass‹ bei Platon und Nietzsche, indem er sich detailliert mit diesem Untersuchungsgegenstand und darüber hinaus intensiv mit dem Forschungsstand auseinandersetzt. [3] Die Zielsetzung wird zunächst klar herausgestellt: »The aim of this work is to reawaken the Socratic anxiety about the orphaned writing opening itself to abusive and sometimes calamitous intonations.« (XII) Sich dem Vergleich von Platon und Nietzsche auf der ethischen Ebene zu nähern, klingt zunächst einmal sinnvoll. Während Nietzsche allerdings hauptsächlich als schlechtes Bespiel herhalten muss – Burke widmet sich ihm vor allem im Prolog und im letzen Kapitel des Hauptteils – führen die einleitenden Kapitel zur Einzelbetrachtung der Bedeutung des Schreibens im Werk Platons hin.
Nietzsche in Gefahr
Der Prolog läutet die Vorgehensweise Burkes ein: Die Auseinandersetzung mit den historischen Konsequenzen von Nietzsches Werk bildet den Rahmen für eine detaillierte Analyse von Platons Aussagen zur Autorschaft von gesprochener und geschriebener Rede. Irritierend ist zunächst der Einstieg in das Thema: Die im Prolog gewählte fiktionale Form steht zum Rest der Publikation im Widerspruch. Hier versetzt Burke den 100-jährigen Nietzsche nach Auschwitz, eine wörtliche Auslegung seines Ausspruchs aus dem Ecce Homo:
Ich kenne mein Loos. Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen, ‒ an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Collision, an eine Entscheidung, heraufbeschworen g e g e n Alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war. Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit. [4]
Burke entwirft mit der Frage »How, amidst, the Holocaust, would Nietzsche have felt?« (5) eine literarisch anmutende Fiktion, welche Nietzsche direkt mit der Interpretation seines Werks in Verbindung bringt. Diese ungewöhnliche Herangehensweise, nicht per se zu verurteilen, wird jedoch erst später in der »Introduction« und auch nur in einer Fußnote erläutert und gerechtfertigt, die in ihrer Ausführlichkeit und Bedeutung für den Gesamttext auch gerne früher und an exponierterer Stelle hätte stehen können:
The categories of aesthetic, cognitive and ethical are not treated as mutually exclusive in the present work: rather, the argument proposes that the ethical realm can be malignly invaded by mixed discourses which draw from aesthetic resources in the presentation of (supposedly) pure cognitive claims. […] Part-story, with an essayistic interlude, [this work] knowingly flaunts the law of genre. […] It draws on fictional resources without making positive propositions concerning the issues of intention, consequences, responsibility or the ethical problematic of the afterlife of the written sign. One might even say that it exploits the unbearable catastrophe of Auschwitz in order to capture the reader’s intention through the manipulation of arresting imagery. […] The creation of a fantastic scenario in which Nietzsche is brought face to face with events which were seeking a certain legitimation in his name follows from Derrida’s brave assertion that something in Nietzsche’s work must have lent itself to this appropriation. […] Nevertheless, in its ›Prologue‹, the work enters quite opportunistically into the realm of the mixed discourse – or aestheticisation of theoretical discourse – which it will question and, of occasion, condemn.
(23f., Anm. 2)
Dass die Form des Prologs im Kontext durchaus ihre Berechtigung erhält, erschließt sich dem Leser erst im letzten Kapitel der Monographie, in dem Burke über Mixed Genres und deren Konsequenzen spricht. Die so entstehende metafiktionale Strukturierung der hier besprochenen Publikation gleicht daher einem zweischneidigen Schwert: Auf der einen Seite scheint der Prolog während der gesamten Lektüre keinen unmittelbar eingängigen Sinn-Zusammenhang zum Hauptteil der Monographie aufzuweisen. Auf der anderen Seite ist es aber genau diese formale wie auch inhaltliche Idee, die der Monographie eine (leider erst spät zu verstehende) zirkuläre Struktur gibt. Grundlegend für den Hauptteil der Monographie ist auch die frühzeitige Einordnung der Begrifflichkeiten von Intention und Verantwortung: Nietzsche könne zwar nicht die Intention, den Holocaust zu entwerfen, wohl aber ein nachlässiger Umgang mit der Verantwortung für seine Hinterlassenschaft vorgeworfen werden. Burke beschuldigt Nietzsche, der Ästhetik (dem ›leichten‹ Spiel) Vorrang vor der Ethik und Moral (der ›schweren‹ Verantwortlichkeit für den eigenen Text) zu geben. Um am Ende der Monographie diese These stützen zu können, erläutert Burke auf den nächsten 200 Seiten fundiert und evident die dafür relevanten Grundlagen der ethischen Verantwortung eines Autors für sein Werk und dessen posthumen Ge- bzw. Missbrauch.
»Wer spricht?« und die ethische Verantwortung
In dem einleitenden Kapitel »Introduction: The Responsibility of the Writer« umreißt Burke zunächst die Entwicklung der Einstellung zum Poeten/Autor von Platon bis in die heutige Zeit. [5] Die Gesellschaft gebe dem Autor zwar die nötige imaginative Freiheit, mache ihn aber andererseits immer auch verantwortlich für mögliche Auswirkungen in der Realität. Diese Untrennbarkeit von ethischem Diskurs und literarischem Werk verfolgt Burke bis in die Anfänge der Schriftlichkeit und dem damit einhergehenden Auftreten der Instanz des Autors zurück, was ihn ‒ durchaus nachvollziehbar ‒ zu seinem zweiten Untersuchungsgegenstand, dem Œvre Platons, führt. Die Vorbehalte Platons gegenüber einer schriftlichen Abfassung, wie sie in Der Staat, seinen Briefen und insbesondere dem Phaidros dargestellt werden, bilden die Basis der in den Hauptkapiteln 1‒3 gestellten ethischen Fragestellung, was passiert, wenn ein Text in die falschen Hände fällt. Dass Schrift an sich immer schon schutzlos gegenüber falschen Lesarten sei, nutzt Burke als Brückenschlag zu den postmodernen Theorien des 20. Jahrhunderts, um die Relevanz seiner Ausführungen für den zeitgenössischen Diskurs aufzuzeigen. Über das Konzept des Nachlasses verbindet Burke dann seine beiden Untersuchungsgegenstände: Was in Platons Phaidros als Kritik an den problematischen Folgen von Schriftlichkeit angelegt sei, könne dann exemplarisch an Nietzsches Vermischung von mythos und logos (von poetischen und philosophischen Techniken) und deren Konsequenzen aufgezeigt werden. Leider finden sich die Kernaussagen des im Anschluss vorgestellten Überblicks über den Hauptteil der Arbeit nicht in den Überschriften des Inhaltsverzeichnisses wieder, so dass die Leserführung hier eher verwirrt als veranschaulicht. Interessant und hilfreich ist aber die abschließende Leseempfehlung durch den Autor, der in »pathways of selective readings« (45) unterschiedliche Kapitel der Publikation für bestimmte Leseinteressen empfiehlt.
Platon und das Problem der Schriftlichkeit
In dem mit dem Kapitel »The Ethical Opening« beginnenden Hauptteil zieht Burke den Phaidros sowie Platons zweiten und siebten Brief als Grundlage für die Behauptung heran, dass eine in Schriftform verfasste Herabsetzung des schriftlichen Diskurses sich selbst bloßstellt, und stellt auf den nächsten Seiten mehrere Lösungsversuche dar. In einer detaillierten Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand bemängelt Burke, dass ausschließlich der performative Widerspruch (oder auch das selbst-referenzielle Paradox) auf vielfältige Weise zu lösen versucht worden sei, [6] der Fokus der Auseinandersetzung jedoch eine auf thematische und philosophische Widersprüche ausgelegte Diskussion vernachlässige. Damit schlägt Burke die Brücke zu seiner eigenen ethischen Interpretation. [7] Er zieht dazu zwei Diskussionen heran, deren zunächst widersprechende Aussagen er miteinander verbinden und somit deren jeweilige Schwächen ausgleichen möchte: Jacques Derridas »Plato’s Pharmacy« und Eric A. Havelocks Preface to Plato. Havelocks Darstellung der Konsequenzen von Schriftlichkeit für die Philosophie beurteilt Burke als herausragende Grundlagenanalyse und stimmt mit der darin zum ersten Mal in der Forschung vorgestellten These überein, dass es überhaupt erst in einer lese- und schreibkundigen Gesellschaft (durch die Trennung von Kognitivem und Ästhetischem) möglich sei, abstrakte Reflektion und damit ein kulturelles und ethisches desideratum zu entwickeln. [8] Allerdings weise Preface to Plato auch kritikwürdige Aspekte auf, welche Burke besonders in der Vernachlässigung des Phaidros sieht, dessen janusgesichtige Gestalt wohl nicht in Havelocks Konzept passe. [9] Somit erscheine dessen Abhandlung monokausal wie auch übervereinfachend und trage dem graduellen Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit kaum Rechnung. Während Havelock sich auf die in Der Staat propagierte Verunglimpfung der mündlichen Dichtkunst versteife, übersehe er Sokrates’ Aussagen über die Nachteile von Schriftlichkeit im Phaidros. Dieses Versäumnis versucht Burke auf den nächsten Seiten mit seinem eigenen Ansatz zu korrigieren und in die Diskussion die ethische Komponente mit einzubinden. Burke zeigt an den entsprechenden Stellen im Phaidros, dass Sokrates auch über die ethischen Unzulänglichkeiten von Schrift spricht: Geschriebenes könne nicht zwischen geeigneten und ungeeigneten Lesern unterscheiden, es erinnere den Leser nur an etwas, das er schon vorher wusste, und eine Wahrheit brauche keinen Autor. Diese von Platon vorgestellte Ethik des Schreibens spiegle sich laut Burke – und das ist eine der Kernaussagen des Hauptteils – in der dialektischen Form des Werkes wieder: »[D]ialectic proposes itself as the guarantor of a truly assimilated technology of abstract reflection« (91f.). Mit der platonischen Einbindung des ethischen Imperativs im Konzept des Schreibens, welches sich gegen den schlechten Gebrauch abschottet und seine eigene Rezeption bestimmt, kann Burke die vorgestellte Aporie auflösen: [10]
Plato resists both orality and writing in their untrammelled forms and yet welcomes the resources of both media which assist his revolutionary ethical and educational programme for transforming knowledge. The aporia […] stems not from confusion, or from unconscious motivation and inner conflicts, but from Plato’s subordination of the speech/writing issue to ethical imperatives.
(94)
Burke geht in seiner Interpretation so weit, Platon ein Interesse an einer »ethic of agency« (103) zuzuschreiben, indem er dessen Einstellung zum Diskurs mit einer ethischen und kulturellen Funktion versieht, die vormals im klassischen Athen zu vermissen war. Die zwangsläufige Schlussfolgerung dieses Kapitels, dass Platon nicht mit einem agôn zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, sondern mit einer Ethik des Diskurses beschäftigt war, löst die erste erkannte Aporie dieser Monographie und erweitert die aktuelle Forschung um einen interessanten Aspekt.
Vorzüge der Dialektik und der (un)geeignete Leser
Der nächste Hauptabschnitt der Monographie soll laut Burke Erkenntnisse darüber bringen, inwiefern für Platon Text niemals selbst-suffizient sein könne, sondern in ihm immer ein ethischer Anspruch an eine auktoriale Verantwortlichkeit bestünde:
In this process we will witness how Plato drew an era dominated by oral ethos into one characterised by a literate ethics whilst taking note of the manner in which dialectic unfolded in resistance to the new cultural space of authorship which it had itself created.
(106)
Die Identifikation von Diskursen bei Platon sieht Burke als einen ethischen Akt, den er sowohl im Phaidros, als meta-ethischer Reflektion, als auch in Der Staat finden möchte. Im erstgenannten Werk werde die Frage nach der Destination des Diskurses, d.h. der zeitgenössischen und der posthumen Leserschaft, laut. An der Grenze zwischen »transcription and authorial inscription« (110) denunziere Platon eine Autorschaft von Schrift dann, wenn diese »replicates unquestioned authorial intentions: unresponsive, potentially dogmatic, immune to dialectical interrogation, the written word is condemned for its monologic propensity« (109). Dass univokale Kommunikation, im Gegensatz zu dialektischer, nur iterativer Natur sei, führt Burke zu der Aussage, dass die Unterscheidung von monologischer und dialogischer Form der wahre Gegensatz in Platons Werk sei, nicht aber die Schriftlichkeits-/Mündlichkeits-Debatte. [11] Durch die dialogische Form versuche Platon jede Art von Fehl-Rezeption zu verhindern und den Diskurs gegen ethisch problematische Konsequenzen abzusichern. Damit verbinde er auf ethischer Ebene die auktoriale Intention (dianoesthai) mit der Rezeption durch den Leser, um auf rationalem Wege alētheia, »the true wisdom« (137), erreichen zu können. [12] Dem dialogischen Diskurs zugrunde liegend sei die Form des Vertrages zwischen Autor und Rezipient, der als Absicherung die Selektion der Rezipienten wie deren Verständnis-Evaluation erlaube. Dass es aber, anders als in der Mathematik, in anderen Bereichen der Wissenschaft dennoch zu falschen Deutungen kommen könne, sieht Burke in der Leserschaft angelegt, die Platon in eine geeignete und eine ungeeignete unterteile. Diese Aussage untermauert Burke im anschließenden Unterkapitel »Suitable and Unsuitable Readers« nachvollziehbar mit Textstellen aus dem 7. Brief Platons, in dem die ethische Verantwortung eines Textes skizziert wird, [13] und dem Phaidros, der verlangt, dass der Redetypus an den Rezipienten angepasst werden solle. In Der Staat unterscheide er zwei Klassen von ungeeigneten Lesern: Erstens die passiven, die durch den Text in Gefahr gebracht werden könnten, moralischen oder psychischen Schaden zu nehmen. Zweitens, und da liegt der Fokus des Phaidros, gebe es die Gruppe an Lesern, die aktiv den Diskurs pervertieren und den Text in Gefahr bringen. Nach einem kurzen Exkurs, in dem Burke auf das Konzept der Zensur und vorgreifend auf das der Signatur eingeht, [14] ist es besonders letztere Leserschaft, auf die großes Augenmerk gelegt werde. [15] In dieser entscheidenden Diskussion in Der Staat sieht Burke dann auch den Schritt von der persönlichen Moral zur philosophischen Ethik bei Platon. Hier ist jedoch anzumerken und zu kritisieren, dass die durchaus komplizierten Konzepte von ›Moral‹ und ›Ethik‹ von Burke viel zu vereinfachend dargestellt werden. Es mutet merkwürdig an, dass er sich bei einer so notwendigen Ein- bzw. Abgrenzung in einer Fußnote auf einen kurzen Hinweis auf die weiterführende Literatur beschränkt:
It is beyond our compass to discuss ethics qua ethics. On contemporary philosophical ethics, see Bernard Williams, Ethics and the Limit of Philosophy (London: Fontana, 1985), a work whose distinction between ethics and morality is presupposed throughout the present work and the succeeding volume treating of ethics and voice in Levinas and Derrida.
(38, Anm. 11)
Die inhaltliche Übertragung von Platons politischem Konzept der »misrule« auf das »misreading« (137) erscheint dagegen ebenso eingängig wie die daran anschließende Verbindung zur Ethik. In dem Ausblick auf den nächsten Teil der Monographie wird die Bedeutung einer Signatur für den dialogischen Diskurs präsentiert. Die Frage, die sich Burke hier stellen möchte, ist, warum gerade Platons Werk in die eigene Grube falle, indem es eben nicht in der Lage sei, zwischen guten und schlechten Lesern zu trennen.
Signatur, Diskurs-Varietät und Tribunal
Das dritte Hauptkapitel beginnt mit einer kurzen Einbindung von Nietzsches Verantwortung für sein Œvre in die Diskussion um die Bedeutung einer Signatur. Mit der Hilfe von Derridas Ansatz wird der Zusammenhang zwischen Platon und der Rezeptionsgeschichte von Nietzsche deutlich, der laut der im Folgenden noch zu untermauernden These Burkes zu wenig für die Vermeidung abweichender Lesarten seines Werks getan habe. [16] Allerdings kommt hier noch einmal der Eindruck auf, dass der Fokus der Monographie im Hauptteil auf dem platonischen Werk liegt ‒ die im Hauptteil vereinzelt eingestreuten Bezüge zu Nietzsche muten oft gezwungen an und unterbrechen eher den Gedankengang als dass sie einen positiven Nutzen bringen. Ein epistemologischer Vergleich, der detaillierten Herausarbeitung platonischer Einstellungen entsprechend, kann Burke bei Nietzsche bis zu diesem Punkt in der Abhandlung aus diesem Grund auch nicht gelingen.
Der Übergang bei Platon von ›schwachem‹ Schreiben (die reine Transkription eines mündlichen Diskurses) zu ›starkem‹ Schreiben (graphisch, ohne den Umweg über eine Mündlichkeit) wird als Einstieg in die Analyse in dem dritten Kapitel genutzt. [17] Die Darstellung der in der Forschung bereits häufig beleuchteten Einstellung Platons zur sokratischen Mündlichkeit führe laut Burke tatsächlich zunächst zu einer durchaus negativen Beleuchtung des Phänomens. [18] Dass die ethischen Überlegungen Platons dessen eigentliche Motivation seien und somit der Übergang von der mündlichen zur dialektischen Methode nur ein sekundäres Phänomen darstelle, ist eine der innovativen Thesen Burkes, die er in diesem Kapitel interessant und nachvollziehbar erläutern kann. Die Vorstellung einer Dialektik als epistemologische Anforderung kann er auf den nächsten Seiten unter Zuhilfenahme von Aristoteles (hauptsächlich aus dem Werk De Sophisticis Elenchis) demontieren. [19] Damit liege eine weitere Aporie darin, dass Platon einerseits Dialektik als Methodik zur Wahrheitsfindung sehe, die zwar keines Autors bedürfe, [20] aber auf die Präsenz des Autors in ihrer Verteidigung angewiesen sei. Dieser bisher in der Forschungsliteratur noch nicht beleuchteten und durchaus merkwürdig anmutenden epistemologischen Ambiguität in Platons Werk widmet sich Burke auf den folgenden Seiten und beschäftigt sich mit dessen Unterscheidung von Diskursen: Spekulative Gedanken (z.B. der philosophische Diskurs bzw. die Literatur) bedürfen im Gegensatz zu apodiktischen Wahrheiten (»self-sufficient, true in its own terms and impersonal« [166]) zwingend eines Autors. So müsse sich Platon seinen eigenen Anforderungen stellen:
Plato clearly wishes to insist upon agency, signature in discourses without an answerable logos: anything which does not admit of rational proof, demonstration, deduction must eo ipso be monitored. However, as a discourse which outgrows generic and disciplinary constraints, as a body of work which allows narrative, muthos, utopian projection to consort with philosophical demonstration, Platonism runs the risk of calling itself to its own tribunal, of taking its own stand beside the sophists, poets and rhetors.
(168)
Über die intrinsisch angelegte Unzulänglichkeit von Sprache führt Burke im Anschluss seine Argumentation zur Iterabilität eines Textes, der, so er denn philosophischer und nicht wissenschaftlicher Natur sei, der ethischen Bedrohung eines möglichen Missbrauchs kaum entrinnen könne: [21] »Because dialectic does not possess the intrinsic resources to distinguish between the proper and improper uses to which it is put, legacy must be ensured by the presence of the dialectical master, by an institution which ensures responsible succession.« (173, eigene Hervorhebung) [22]
Zum Ende der Auseinandersetzung mit Platons Werk geht Burke in dem Kapitel zu »Dialectic and the (Anxious) Origins of Authorship: Tribunal and Signature in the Phaedrus« den letzten gewagten aber durchaus in der Ableitung logischen Schritt seiner Analyse. Er ernennt Platon zum ›Urvater‹ des Konzeptes der Autorschaft, zur primären ethischen Kategorie. Die Dialektik, deren Funktion als kanonisierende Institution Burke ebenso aus dem Phaidros ableitet, führe zwangsläufig zu Errichtung einer neuen Urteilsinstanz ‒ dem Tribunal als »trial of writing« (177). In der Analyse der Geschichte von Theuth und Thamos erkennt Burke eine neuerliche Aporie:
The roles of author and ethical judge are deemed by the king to belong to entirely different spheres; whereas, Socrates asserts that any written work cannot be fairly judged without the testimony of its father. A quandary is presented to the dialectician.
(177, eigene Hervorhebung) [23]
Burke verknüpft seine Argumentationsstränge einleuchtend mit dem Ende des Phaidros, welches in der Forschungsliteratur seiner Aussage zufolge bisher sträflich vernachlässigt wurde. Die angenommene Feindseligkeit gegenüber der Schriftlichkeit weiche hier einem Loblied auf die genreübergreifende dialektische Methode, durch die ‒ auch Schrift ‒ zur Weisheit führen könne:
Sokrates: [U]nd du gehe hin und verkünde dem Lysias, daß wir beide, [...] dort Reden gehört, welche uns befahlen, zuerst dem Lysias und wer sonst Reden abfaßt, dann dem Homeros und wer sonst Gedichte […] verfertigt hat, drittens auch dem Solon und wer sonst in bürgerlichen Versammlungen Schriften, die er Gesetze nennt, geschrieben hat, zu sagen: wenn er dergleichen abgefaßt, wohl wissend, wie sich die Sache in Wahrheit verhält, und im Stande, in Erörterung über das Geschriebene eingehend, demselben Hilfe zu leisten, […] er dann auch nicht mit dem Namen genannt werden müsse, der nur hiervon hergenommen ist, sondern mit einem auf jenes sich beziehenden, woran er ernstlichen Fleiß gewendet. […] [A]ber einen Freund der Weisheit oder dergleichen etwas möchte ihm selbst angemessener sein und auch an sich schicklicher. [24]
Da Tribunal und Verteidigung somit die Eckpfeiler des signatorischen Vertrages darstellen, könne die Intention des Autors im Text nicht mehr als ausreichend für eine Beurteilung von dessen ethischem Nachleben gelten. Hier entstehe der kulturelle Raum der Autorschaft vielleicht zum ersten Mal.
Mit der Zusammenfassung seiner Thesen schlägt Burke dann auf den letzten Seiten des Kapitels wieder den Bogen zurück zu Nietzsche, dessen Ecce Homo er als gutes Beispiel für »authorial abandonment« (188) ansieht und dem er einen einzigartigen signatorischen Vertrag zuspricht.
Nietzsches Verantwortungsverweigerung
Burke beginnt dieses Kapitel – wie durchweg in seiner Monographie – mit Zitaten, [25] in deren Verbindung sich das nietzscheanischen Problem der Signatur widerspiegelt. Nietzsche habe weder ein intrinsisch angelegtes Kriterium zu Unterscheidung von richtigen bzw. falschen Lesarten seines Werks angelegt, noch den (un)geeigneten Leser spezifiziert. Entscheidend für die Argumentation ist aber besonders, dass Nietzsche in der diskursiven Form seines Œvres keine Prävention eines Missbrauchs eingebaut und seine Hinterlassenschaft nicht in kompetente Hände gegeben habe. [26] Die zeitgenössische Forschungsdiskussion möchte Burke hier aus einer Ethik des Lesens in eine Ethik des Schreibens überführen, die den Autor in die Verantwortung seines Werkes stellt. Im Falle Nietzsches will er eine totale Verantwortungsverweigerung (gegeben durch Inkonsistenz und Gattungsvermischung) sehen. Das nietzscheanische Werk kranke ‒ wie auch schon das platonische ‒ an einer Pluralität der Stile, die jetzt aber auch eine Betonung des Ästhetischen vor dem Epistemologischen erkennen lasse. [27] Diese Vermischung der Stile sei von sich aus gefährlich (hier nennt Burke insbesondere die Aphorismen Nietzsches), da sie zwar Freiheiten für den Leser eröffnen könne, aber auf der anderen Seite Fehlinterpretationen Tür und Tor öffne. In dem Umgang mit dieser Gefahr unterscheide sich dann aber das platonische von dem nietzscheanischen Werk. Während Ersterer seinen Nachlass durch die dialektische Methode schützen wollte, wirft Burke Nietzsche eine grobe Fahrlässigkeit im Umgang mit den Konsequenzen seiner Signatur vor. Er ordnet ihn der Kategorie von Autoren zu, deren Texte zwar signiert aber nicht adressiert seien: [28]
Abb. 1: Spannbreite von Signaturen
Der inkohärente Stil, die ›verspielte‹ Unbestimmtheit und die diskursive Freiheit führe zu einer Verweigerung eines generischen Vertrages mit dem zeitgenössischen wie auch dem zukünftigen Leser. Im Fazit entwirft Burke eine Gegenüberstellung der Dichotomie von Kreativität versus Eindämmung (In-Schach-Halten) eines Textes. Der platonischen Philosophie, die für Burke die prägnanteste Darstellung diskursiver Ethik bis zum heutigen Tag darstellt, müsse ebenso wie dem Werk Nietzsches der Vorwurf der Vermischung von Diskursen gemacht werden. [29] Dass der Respekt für die Gattungserwartung die eigentliche ethische Verantwortung von Schrift sei, [30] ist die finale Schlussfolgerung Burkes. Elegant schlägt Burke hier zum Ende seiner Monographie den Bogen zu der ›feinen Aufgabe‹ der Literaturkritik, die als Tribunal in Form eines interventionistischen Imperativs immer schon »an ethical realm and a realm of the ethical« (232) darstellen müsse.
Formale Beurteilung
»[L]iterate cultures have devised numerous means to limit discursive circulation[: e.g.] the adoption of specialised vocabularies […].« (126). Eigentlich in der Diskussion über die (un)geeignete Leserschaft eines Werkes erwähnt, scheint diese Herangehensweise auch Burkes Motto beim Verfassen seiner Monographie zu sein, deren Zielgruppe sich wohl auf einen kleinen akademischen Zirkel beschränken muss. [31] Neben dem großzügigen Umgang mit diversen Fachtermini (häufig in lateinischer oder auch griechischer Sprache) hegt Burke eine Vorliebe für lange verschachtelte Sätze, die einem Thomas Mann in nichts nachstehen. Ein umständlicher, elliptischer oder leider manchmal auch fehlerhafter Satzbau behindert häufig das bereits durch Thema und Wortwahl erschwerte Verständnis des Textes. Auch sind einige Zitate ungenau bzw. fehlerhaft wiedergegeben (z.B. das Zitat aus Havelocks Preface to Plato, 62f., Anm. 22) oder falsche Seitenangaben erschweren das Auffinden des Originalzitats. Was weiterhin bei der intensiven Auseinandersetzung mit den Formalien des Textes negativ auffällt, ist das zum Teil nachlässige Lektorat. Von den wenigen Tippfehlern abgesehen stört hier insbesondere die Wiederholung von Teilsätzen bzw. ganzer Fußnoten in exakt gleichem Wortlaut. [32] Im Abschlusskapitel erscheint sogar eine halber Absatz zwei Mal mit so minimalen Änderungen, dass von Absicht hier wohl nicht die Rede sein kann:
[…] can be read as the retreat of the work from its world. However, such an inward turn also defends literature against misreading as dogma or constructive myth. A literary work will insist on a hypothetical frame, on the fact that it is articulated ›as if‹. Yet the work inhabits conditionality perpetually rather than provisionally: unlike the scientific hypothesis, it never aspires to shuffle off the hypothetical frame. A hypothesis wishes to become a demonstrable truth; a poem dreams only of being a poem.
(228)
[…], can be read as a retreat of the work from its world. However, such an inward turn also defends poetry against misreading as dogma or constructive myth. As Hans Vaihinger argued in the 1920s, a poem will insist on a hypothetical frame, on the fact that it is articulated ›as if…‹. [Fußnote] Yet the poem inhabits conditionality perpetually rather than provisionally: unlike the scientific hypothesis, it never aspires to shuffle off the hypothetical frame. A hypothesis wishes to become a demonstrable truth; a poem dreams only of being a poem.
(228f.)
Seán Burke spricht zu Beginn davon, dass er einige »brief but intense textual moments« (XII) mehrfach zitieren wird. Dabei meint er jedoch wesentliche Zitate aus dem von ihm vorgestellten Untersuchungsgegenstand und wohl kaum seine eigenen Schlussfolgerungen.
Einordnung in den Forschungsstand
Mit seinem autororientierten Ansatz eröffnet Burke neue Interpretationsspielräume in der ethischen Literaturkritik. Wie eingangs erwähnt, lässt er jedoch die seit den 80er Jahren im Zuge des Ethical Turns entstandene und in Umfang und Qualität durchaus ansehnliche Forschung in den philosophischen wie philologischen Bereichen bis auf kurze Hinweise unerwähnt. [33] Dabei ist diese Entwicklung im Forschungsstand als Prämisse für seinen Ansatz durchaus essenziell. Denn obwohl seine Monographie sich vordringlich mit den philosophischen Schriften Platons und Nietzsches auseinandersetzt, ist es doch genau jene Gattungsbeschränkung, die er insbesondere in dem letzten Kapitel aufzulösen sucht, um seinen ethischen Ansatz der Signatur und des Tribunals auf sämtliche Gattungen anwenden zu können und den Bogen von dem philosophischen Korpus zurück zur Literaturkritik spannen zu können:
We are currently seeking to bridge the cultural divisions between cultures in which the word should only ever be the word of logos.
(231, Hervorhebung im Original)
›More poetry‹ would then mean not the proliferation of new discourses but the reclamation by literature from philosophy of all that properly belongs within its sphere, its domain. On this account alone, the responsibilities of the writer extend beyond the writing of ethical works to an ethics of writing in general.
(233)
So spricht er sich gegen die Position aus, dass literarische Werke nichts mit Ethik zu tun haben bzw. ethische Werte in der Literatur keine Relevanz besitzen, wie sie von Kritikern (in der Tradition des New Criticism) vertreten wurde. Exemplarisch werden somit in Literatur Handlungen und deren Motive mit kontingenten Konsequenzen verknüpft, ethische Dilemmata und deren Auflösung in unterschiedlichster Weise präsentiert und moralische Entscheidungen modellhaft dem Leser vorgestellt. Damit liegt es nahe, dass jede Analyse ästhetischer Prägnanzbildungen nicht nur eine kritische Auseinandersetzung mit der Darstellung ethischer Fragestellung erlaubt, sondern vielmehr erfordert – eine These, die Burke implizit benutzt, aber ähnlich wie eine Definition der Ethik nie thematisiert. Dabei ist auch die Prämisse, dass es sich bei den Begrifflichkeiten ›Ethik‹ und ›Moral‹ um zwei differenzierte Aspekte der Moralphilosophie (wie sie sowohl in der philosophischen Ethik-Diskussion als auch in der neueren literarischen Auseinandersetzung gebraucht werden) handelt, bei Burke in der Diskussion des Übergangs von der persönlichen Moral zu philosophischen Ethik bei Platon bereits angelegt:
The import of this discrimination [›lovers of wisdom‹ from ›lovers of opinion‹], but also for that whole inauguration of ethics-as-philosophy, is revealed by this transition from the Socratic concern with personal morality to the quest for a properly philosophical ethics […]. A little earlier, opening the discussion which will separate the rulers from the ruled, the lovers of wisdom from the lovers of sights and sounds, Socrates has announced what we might take as the central tenet of the Republic. Nervously marking the moment when morality gives way to ethics‚ Socrates declares [his tenet].
(135, eigene Hervorhebung)
Dieser essenziellen Unterscheidung hätte jedoch eine ausführliche theoretische Auseinandersetzung vorangehen müssen. In dem der Monographie zugrunde liegenden Ansatz wird die Ethik (ethics) als Wissenschaft verstanden, die sich nicht mit dem ›richtig‹ oder ›falsch‹ einer einzelnen Gesinnung, Handlung bzw. einer Handlungsauswirkung beschäftigt, sondern auf kritische Reflexion über die Frage der Sinnhaftigkeit der Unterscheidung von ›gut und böse‹ abhebt und somit den Imperativ »to act on principle« selbst ins Zentrum stellt und befragt. [34] Diese Annahme stützt sich unter anderem auf die Ausführungen von Harpham, demzufolge die Ethik eine übergeordnete Arena ist, in der nicht nur Fragen der Moralität, sondern auch kulturelle Normen, Gesetze, ›das Gute an sich‹, verhandelt werden. [35] Attridge führt diese Definition weiter, indem er von einem nicht-moralischen Ethik-Diskurs spricht, der sich mit den fundamentalen (Möglichkeits-)Bedingungen moralischer und politischer Gesetze, Regeln, Programme und Kategorien auseinandersetzen könne, ohne auf sie reduziert zu werden. [36] Der Begriff der Moral (morality) als Gegenstand der Ethik hat dagegen zur Voraussetzung, »daß jede sinnvolle Abgrenzung des Bereichs des Moralischen auf den Inhalt der als moralisch gekennzeichneten Urteile, Handlungsanweisungen, Prinzipien usw. Bezug nehmen muß«. [37] Dabei geht es um die explizite Kodifizierbarkeit von Normen als Basis für die Einzelfall-Entscheidung. Harpham spricht in diesem Zusammenhang von Moral als einem Imperativ innerhalb der Ethik, der zu einer bestimmten Handlungswahl zwinge (im Gegensatz zu dem grundlegenderen Imperativ, überhaupt nach Prinzipien zu handeln). Auch für Attridge ist Moral im Gegenzug zur Ethik nur eine Sammlung von Auswahlmöglichkeiten verschiedener Verpflichtungen im konkreten sozialen Kontext. [38] Die bei Burke nur latent auftretende, aber grundlegende Einschätzung, dass Ethik die übergeordnete Diskussion über Handlungsprinzipien bildet und als Wissenschaft über Moral reflektiert, welche prinzipielle Entscheidungen im Einzelfall fordert, hätte einen weiteren Bereich in der Analyse des Korpus’ darstellen können. Somit hätte das Fazit im Fall Nietzsches zu Ende der Monographie (»In this regard, Nietzsche’s signature is heroic in the tragic sense of making an ethically responsible acknowledgement of an ethically irresponsible act.« [210]) differenzierter lauten können: »Nietzsche’s signature is heroic in the tragic sense of making an ethically responsible acknowledgement of an morally irresponsible act.«
Dass die Diskussion des Gegenstands und der Aufgabe der ethischen Literaturkritik (Ethical Literary Criticism, E.C.) erste Ansätze bereits in der Antike aufweist, kann in der Monographie bis zu Platons ›Dichterschelte‹ eingängig nachvollzogen werden. Burke muss sich damit aber in die Tradition des Ethical Turns stellen, mit dem die mit dem New Criticism begonnene neuerliche Ächtung der ethischen Literaturkritik erst überwunden werden konnte. Auch noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere in den (post)strukturalistischen Ansätzen im Umfeld der Derrida’schen Dekonstruktion galt jegliche ethische Be- bzw. Verurteilung von Literatur als suspekt. Burke profitiert aber davon, dass zum Ende des 20. Jahrhunderts (Harpham benennt hier ostentativ den Zeitraum um den 1. Dezember 1987) die Frage des Ethik- und Moral-Verständnisses in der Literatur wieder in den Mittelpunkt einiger literaturwissenschaftlicher Ansätze geriet. [39] Vertreter dieser Form der Literaturkritik setzten sich zur Aufgabe, die vormalig praktizierte Trennung von Ethik und Ästhetik wieder aufzuheben und die ethische Bedeutung von Kunst im Allgemeinen und Literatur im Besonderen im und für das Leben zu erklären. Burke leistet mit seiner Monographie in dieser Hinsicht keinen neuen Beitrag, da der Forschungsstand (hier sind u.a. J. Hillis Miller, Alasdair MacIntyre (After Virtue) und Tobin Siebers (The Ethics of Criticism) zu nennen) sich bereits ausführlich einer Annäherung an den literarischen Gegenstand gewidmet hat: von der Analyse ethischer Auffassungen und Handlungen in literarischen Werken, über die Bestimmung der ethischen Qualität eines Textes (hier insbesondere Kanon-Bildung und Zensur) und des Effekts auf die ethische bzw. moralische Kompetenz des Lesers, bis hin zu der Auseinandersetzung mit der Verantwortung und dem Vermächtnis des Autors. Eine Untersuchung des aktuellen Forschungsstandes zeigt allerdings auch, dass die Ansätze nicht gleichwertig nebeneinander stehen: Dem ethischen Reader-Response-Criticism wird in der Literaturtheorie derzeit eine höhere Relevanz zugemessen. So vertrauen Kritiker von Wayne C. Booth und Martha Nussbaum in ihrem stark leserorientierten Zugang auf die katalytische Funktion von Literatur. Auch in den neueren Beiträgen von Derek Attridge und Marshall Gregory wird der große Einfluss von Literatur auf den Leser in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen gestellt. In Attridges Konzept der ethics of reading prägt die immer schon ethisch aufgeladene Literatur den Rezipienten durch eine intensive Leseerfahrung. Im Lichte dieser Dominanz des rezeptionsorientierten Ansatzes stellt Seán Burkes Monographie aber eine notwendige und überfällige Erweiterung des Forschungsstands dar. Er schafft es, in seiner fundierten Analyse den immer wiederkehrende Vorwurf an den autororientierten Ansatz, dessen Beschäftigung mit der moralischen Verantwortung sowie dem Vermächtnis (legacy) des Autors oft zu Zensur und didaktischem Dogmatismus führe, zu entkräften und ebnet somit den Weg für weitere Abhandlungen auf diesem Gebiet. Abhängig von dieser Exklusivität seines auktorialen Ansatzes sowie der wohl begrenzten akademischen Zielgruppe der Monographie mag Burke zum Abschluss mit Nietzsche allerdings wohl auch sein eigenes Schicksal zitieren:
Man will nicht nur verstanden werden, wenn man schreibt, sondern ebenso gewiss auch n i c h t verstanden werden. Es ist noch ganz und gar kein Einwand gegen ein Buch, wenn irgend Jemand es unverständlich findet: vielleicht gehörte eben dies zur Absicht seines Schreibers – er w o l l t e nicht von ›irgend Jemand‹ verstanden werden. Jeder vornehmere Geist und Geschmack wählt sich, wenn er sich mittheilen will, auch seine Zuhörer; indem er sie wählt, zieht er zugleich gegen ›die Anderen‹ seine Schranken. [S]ie halten zugleich ferne, sie schaffen Distanz, sie verbieten ›den Eingang‹, das Verständniss, wie gesagt, – während sie Denen die Ohren aufmachen, die uns mit den Ohren verwandt sind. [40]
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Institut für Anglistik und Amerikanistik
Anmerkungen
[1] Es soll bereits hier angemerkt werden, dass Burke beachtenswerte Anmerkungen zu Definitionen und zur Methodik bedauerlicherweise oftmals in langen Fußnoten verpackt. [zurück]
[2] Mit wenigen Ausnahmen versucht Burke somit die sonst notwendige Auseinandersetzung mit diesem weiten Feld zu umgehen und fokussiert ausschließlich auf eine Analyse des Forschungstandes zu seinem Korpus. [zurück]
[3] Hier insbesondere mit den Aussagen Jacques Derridas und Eric A. Havelocks zu dem Thema. [zurück]
[4] Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Band 6: Ecce Homo, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München et al. 1988, 365 (Hervorhebung im Original); bzw. in einem der Fragmente aus dem Jahr 1883 »Wie leicht nimmt man die Last einer Entschuldig<ung> auf sich, so lange man nichts zu verantworten hat. Aber ich bin verantwortlich.« (Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Band 10: Nachgelassene Fragmente 1882–1884, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München et al. 1988, 369 [Hervorhebung im Original]). Hier irrt Burke, wenn er – mit unvollständiger Quellenbezeichnung und ohne Angabe im Literaturverzeichnis – sagt, dieser Ausspruch Nietzsches komme aus einem Brief. [zurück]
[5] Die Gesellschaft habe trotz der Phase des New Criticism immer noch daran Interesse, wer spricht (vgl. 20). Die Kategorie des ethischen Diskurses tauche immer dort auf, wo das Werk mit »real-world catastrophes« in Verbindung gebracht werde (22). [zurück]
[6] Beispielsweise die Einordnung des Phaidros in das Früh- bzw. Spätwerk Platons, das Herausarbeiten einer gewissen Ironie oder auch Spielhaftigkeit, die Betonung der dialogischen Form (hier insbesondere Hans Georg Gadamer, »who stressed that Plato’s dialogues should be read as actual speech situations« [55]). [zurück]
[7] »This contradiction will underlie the proposed argument that Plato’s ideas about speech and writing form twin aspects of a consistent ethical programme« (56). [zurück]
[8] »[T]he separation between subject and sign that writing facilitates was the mind thus disencumbered to analyse the underlying principles or philosophical status of ethics qua ethics or ›ethicity‹, to question rather than subordinately accept the strictures of normative ethics, to ask the epistemological and ethical question of ethics. […] The pre-literate mind could lay down ethical precepts, Havelock argues, but never enquire into the ›ethics of ethics‹, meta-ethics or ethicity.« (66). [zurück]
[9] Der Vorwurf, den Burke an Havelock richtet, mag in Zukunft auf ihn selbst zurückfallen: Denn auch wenn Burke seine Argumentation breit anlegt und aus dem Gesamtwerk Platons und Nietzsches zitiert, kann eine gewisse Dominanz zweier Werke (Phaidros und Ecce Homo) wohl nicht geleugnet werden. Kritiker, die ihren Schwerpunkt auf andere Werke der Autoren legen, mögen aus diesem Grund ‒ zu Recht ‒ zu anderen Schlussfolgerungen bezüglich der ethischen Konsequenzen kommen. [zurück]
[10] Er unterstützt diese These mit einer kurzen und einleuchtenden Abhandlung über Platons Einstellung zu gutem und schlechtem Schreiben: »[T]he good and bad writings are themselves distinguished in terms of their mode of circulation in society: on the side of the good writing we have the oral method of dialectic and the chirographic making of laws; on the side of the bad we find oral poetry, oratory, sophistic testaments, perhaps even those letters which bear the name ›Plato‹« (97). [zurück]
[11] In der Entwicklung nachzuzeichnen sei »a gradual replacing of dialogue as representation of a speech situation to dialectic as the origins of a cultural space of authorship which has perdured down some twenty-five centuries« (111). [zurück]
[12] Nur im Dialog, dem Zusammenspiel von Frage und Antwort, könne der Text seinen telos erreichen. Dabei werde die besondere Definition von Intention bei Platon deutlich: Da sie auf den Rezipienten reagieren müsse und in ihr schon immer eine Rechenschaft und Verantwortung liege, sei sie nie reine Intention. Burke schließt hier eine Auflistung positiver Kategorien der dialogischen Methode an, die in ihrer Ausführlichkeit und Einzigartigkeit in der Monographie sich etwas seltsam und nicht weiterführend ausnimmt. [zurück]
[13] »Wenn ich aber dächte, man müsse es der Menge hinreichend in der Schrift verständlich machen und könne es aussprechen, was hätte ich Schöneres vollbringen können in meinem Leben, als niederzuschreiben, was den Menschen großen Nutzen gewährt, und das Wesen der Dinge für alle ans Licht zu bringen? Aber ich glaube nicht, daß der Versuch, darüber zu sprechen, für die Menschen etwas Gutes wäre, außer für einige wenige, die imstande sind, es selbst aufzufinden mit Hilfe eines kleinen Hinweises, von den übrigen aber würde es die einen mit einer unberechtigten Verachtung erfüllen, die keineswegs im Sinn der Sache ist, die andern aber mit einem hochfahrenden und aufgeblasenen Dünkel, als hätten sie wer weiß welche erhabenen Wahrheiten gelernt.« (Platon, Briefe, hg. von Willi Neumann, München 1967, 89). [zurück]
[14] Sehr viel später definiert Burke den Terminus mit den Worten Jacques Derridas: »[T]he signature is not only a word or a proper name at the end of a text, but the operation as a whole, the text as a whole, the whole of the active interpretation which has left a trace or a remainder« (Jacques Derrida, The Ear of the Other. Otobiography, Transference, Translation, Lincoln, NE/London 1982, 52). [zurück]
[15] Platon unterscheide, und dies belegt Burke ausführlich und durchaus nachvollziehbar an mehreren Stellen in Platons Werk, zwischen geeigneten Lesern (»lovers of wisdom«, philosophoi [132]) und ungeeigneten, die sich nur mit Meinungen beschäftigen (»lovers of opinion«, hier die große Gruppe der Dichter und philodoxoi und doxosophoi [133ff.]). [zurück]
[16] »As we shall argue in the next chapter, the worst dreams of Plato’s Socrates are recurring in this context of the ethically underdetermined scene of Nietzsche’s reception history.« (146). [zurück]
[17] Leider werden diese gerade erst eingeführten Begrifflichkeiten direkt wieder aufgegeben. [zurück]
[18] So seien mündliche Diskurse kaum gegen den Verlust der ipsissima verba gefeit, führten oft über die Vereinfachung der Inhalte zum Dogmatismus, könnten sich kaum gegenüber abseitigen Deutungen abschotten und lägen zu nah an poetischer Verzauberung. [zurück]
[19] »Beyond which neither the Phaedrus nor the Platonic text in general provides any epistemological justification for the claim that truths whose original transmission is dialectical can defend themselves once they have departed their subject (Phaedrus, 276a). If such ›truths‹ are ›true‹, then they will be so regardless of the medium within which they have been articulated.« (159). [zurück]
[20] »Dir aber macht es vielleicht einen Unterschied, wer der Redende ist und woher. Denn nicht darauf allein siehst du, ob sich so oder anders die Sache verhält.« (Platon, Phaidros, in: Sämtliche Werke, Band 2, hg. von Friedrich Schleiermacher, Reinbek bei Hamburg 1994, 539–609, hier 604). [zurück]
[21] »This overspill, the excess of the iterable, constitutes an ethical threat« (172). [zurück]
[22] Aber nicht nur das ‒ direkt auf der nächsten Seite beginnt der Absatz genauso, führt aber diesmal zum Thema der (un)geeigneten Leserschaft zurück: »Because dialectic does not possess the intrinsic resources to distinguish between the proper and improper uses to which it is put, the text must set itself the near-impossible task of separating suitable from suitable readers.« (174, eigene Hervorhebung) Dass es sich hier wohl kaum um Absicht, sondern um nachlässiges Lektorat handelt, zeigt die Vielfalt solcher Wiederholungen von Textstellen (siehe formale Beurteilung der Monographie). [zurück]
[23] Daraus folgt, dass die ›Dialektik als etabliertes Tribunal‹, welches durch seinen »canonising impulse« (178) jetzt auch die Dichtkunst erretten könne, wichtiger erscheint, als die ›Dialektik als Methode‹. Ihre ethische Funktion liege aber nicht nur im Urteil über das Werk, sondern auch im Urteil über dessen Gebrauch. Dies gelte auch für die ›harten‹ Wissenschaften: »[S]cientific expertise does not guarantee ethical vision – only the dialectician can adjudge the proper uses to which scientific findings should be put in a society« (180). [zurück]
[24] Platon, Phaidros, in: Sämtliche Werke, Band 2, hg. von Friedrich Schleiermacher, Reinbek bei Hamburg 1994, 539–609, hier 608. Entscheidend für Burkes These ist, dass Sokrates keinen Unterschied zwischen Redner, Dichter und Gesetzgeber auf der einen und Schriftlichkeit/Mündlichkeit auf der anderen Seite macht. [zurück]
[25] Die Einbindung der Zitate, die sich meistens schlüssig während des Lesevorgangs ergeben, funktioniert häufig gut. Referenzen zu vorherigen Zitaten schaffen auch hier entweder im Kapitel oder sogar über die ganze Monographie (z.B. der Rückgriff auf das erste Zitat im Fazit [vgl. 222]) eine zirkuläre Struktur. [zurück]
[26] Das Problem liege laut Burke darin, dass der »author of the œuvre signs on the back of the eternal return« (207) und ‒ im Gegensatz zu beispielsweise Platon mit seiner Akademie, aber auch Marx (1. Internationale) und Freud (Institut der Psychoanalyse) ‒ seinen Nachlass durch keine counter-signatorische Instanz habe absichern lassen. [zurück]
[27] Für Nietzsche sei der philosophische Ansatz immer schon mit dem Kreativen verknüpft: Die Philosophen »greifen mit schöpferischer Hand nach der Zukunft, und Alles, was ist und war, wird ihnen dabei zum Mittel, zum Werkzeug, zum Hammer. Ihr ›Erkennen‹ ist S c h a f f e n, ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist – W i l l e z u r M a c h t«. (Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Band 5: Jenseits Von Gut Und Böse, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München et al. 1988, 145 (§ 211). [zurück]
[28] Es scheint für Nietzsche »unerläßlich, zu sagen, w e r i c h b i n. Im Grunde dürfte man’s wissen: denn ich habe mich nicht ›unbezeugt gelassen‹« (Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Band 6: Ecce Homo, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München et al. 1988, 257 [Hervorhebung im Original]). [zurück]
[29] Dass auch Burke selbst-reflexiv Genres mischt, ist bereits mit der Einordnung des Prologs gezeigt worden. Hier im Schlusskapitel flackert dies aber nur in einem kurzen Satz auf: »It is as if the map of a river’s course were to alter the course of that river itself.« (227). [zurück]
[30] Die Antwort darauf, wie sich ein Werk zwischen Kreativität und Eindämmung bewegen könne, liege damit bei den textuellen Rahmen (»textual frames« [224]). [zurück]
[31] Burke benennt es selbst in einer Fußnote: »Furthermore, the author of the present work may console himself that not only is The Ethics of Writing bereft of constructive content, but destined to remain ›non legor, non legar‹, or received only within the narrowest and safest of academic confines.« (23, Anm. 2). [zurück]
[32] Gleicher Absatz in Text und Fußnote auf S. 14 und in der dortigen Anmerkung 16 sowie S. 62 und in der dortigen Anmerkung 22; Wiederholung eines Satzes auf den S. 110, Anmerkung 4 und 135; ein Teil der Fußnoten auf den Seiten 12f., Anm. 14 und 206, Anm. 23. [zurück]
[33] Von wenigen und äußerst kurz gehaltenen Hinweisen auf Robert Eaglestone, J. Hillis Miller und Martha Nussbaum abgesehen. [zurück]
[34] Geoffrey Galt Harpham, Ethics, in: Frank Lentricchia/Thomas McLaughlin (Hg.), Critical Terms for Literary Study, Chicago, IL 1995, 387–405, hier 396. [zurück]
[35] Geoffrey Galt Harpham, Ethics, in: Frank Lentricchia/Thomas McLaughlin (Hg.), Critical Terms for Literary Study, Chicago, IL 1995, 387–405, hier 394. [zurück]
[36] »The usefulness of a nonmoral discourse of ethics is that it can provide insights into the fundamental conditions of the moral-political domain, the world of rules, programs, categories, without being reduced to them.« (Derek Attridge, Innovation, Literature, Ethics: Relating to the Other, PMLA 114:1 [1999], 20–31, hier 29). [zurück]
[37] Bernard Williams, Der Begriff der Moral. Eine Einführung in die Ethik, Stuttgart 1978, 84. [zurück]
[38] Vgl. Tamas Benyei, Angelic Omissions: Iris Murdoch’s Angels and Ethical Criticism, European Journal of English Studies 7:2 (2003), 151–163, hier 152. [zurück]
[39] »On or about December 1, 1987, the nature of literary theory changed. When the New York Times reported the discovery of a large number of articles written by the youthful Paul de Man in a Belgian collaborationist newspaper in 1941–42, virtually everything about literary theory and criticism as practiced in the United States underwent a transformation as violent and radical as that which had been wrought a generation earlier by the advent of ›theory‹ itself.« (Geoffrey Galt Harpham, Ethics, in: Frank Lentricchia und Thomas McLaughlin (Hg.), Critical Terms for Literary Study, Chicago, IL 1995, 387–405, hier 389). [zurück]
[40] Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Band 3: Die fröhliche Wissenschaft, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München et al. 1988, 633–634 (§ 381, Hervorhebung im Original). [zurück]
2012-01-12
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