Thomas Petraschka
Die Vermessung der Forschungswelt
Aktuelle theoretische Perspektiven zur Problemkonstellation
›Literatur und Wissen‹
Tilmann Köppe (Hg.), Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge. (linguae & litterae, Publications of the School of Language & Literature, Freiburg Institute for Advanced Studies, Bd. 4) Berlin/New York: de Gruyter 2011. 240 S. [Preis: EUR 99,95]. ISBN: 978-3-11-022917-2.
1. Entstehung und Zielsetzung des Bandes
In der aktuellen geisteswissenschaftlichen Debatte gibt es wohl nur wenige Themen, die Gegenstand intensiverer Forschung sind als das Problemfeld ›Literatur und Wissen‹. Tilmann Köppe, der bereits 2007 mit dem vielbeachteten Aufsatz »Vom Wissen in Literatur« einen wichtigen Beitrag zu dieser Diskussion geleistet hat, [1] fungiert nun als Herausgeber eines Sammelbandes, der auf eine im September 2008 an der School of Language and Literature des Freiburg Institute for Advanced Studies abgehaltene Tagung zurückgeht.
Explizites Anliegen des Bandes ist es, die umfassende und weit verzweigte ›Literatur und Wissen‹-Debatte nicht durch noch mehr Spezialisierung, sondern durch einen allgemeinen Überblick zu ergänzen. Es sollen keine weiteren Fallstudien zu bestimmten Zeiträumen, bestimmten Autoren oder bestimmten Wissenskonzeptionen geliefert werden – stattdessen sei es nach Meinung Köppes mittlerweile »an der Zeit, einen Schritt zurück zu treten und den Versuch zu unternehmen, das Feld aus etwas größerem Abstand zu vermessen« (1).
Für die Zielsetzung des Sammelbandes heißt das konkret zweierlei. Es soll zum einen eine »übersichtliche Darstellung der Problemkonstellationen oder des Forschungsbereichs ›Literatur und Wissen‹« (ebd.) geliefert werden, zum anderen sollen »Ansätze zu einer Bewertung einzelner Forschungszweige« (ebd.) erarbeitet werden. Dieses Anliegen ist für einen mit 240 Seiten doch relativ schmalen Sammelband durchaus ambitioniert, gerade weil das zu vermessende Terrain ›Literatur und Wissen‹ durch die ihm zuteil gewordene Aufmerksamkeit mittlerweile enorm weitläufig und disparat geworden ist. Umso erfreulicher ist es daher, dass der Band die Ankündigung in weiten Teilen auch einlöst.
2. Einführung des Herausgebers
Eingeleitet wird der Sammelband durch eine Einführung des Herausgebers samt recht ausführlicher, 229 Titel umfassender Auswahlbibliographie, auf die sieben Beiträge folgen, die die angekündigte Vermessung des Forschungsfelds in Angriff nehmen. Köppes übersichtliche Einführung veranschaulicht mögliche Gliederungen allgemeiner Fragestellungen zu ›Literatur und Wissen‹ anhand von drei Ordnungsschemata.
Erstens liefert die Verortung von ›Literatur und Wissen‹ in einem Kommunikationsmodell mit den Instanzen ›Autor – Text –Leser – Kontext‹ [2] nach Köppe eine Heuristik, die es erlaubt, Fragestellungen den jeweiligen Begriffen zuzuordnen und sie dadurch übersichtlich zu gruppieren. Exemplarisch wäre auf Autorseite etwa die Frage zu stellen, was der Autor eines literarischen Textes wusste bzw. welche Wissensbestände sein Werk beeinflussten. Auf Textseite ist unter anderem von Interesse, inwiefern die Rede von einem Text als Träger von Wissen sinnvoll ist, auf Leserseite, inwiefern der Leser bereits etwas wissen muss, um den Text zu verstehen, oder unter welchen Bedingungen der Leser aus einem Text Wissen gewinnen kann. Ein dem Begriff ›Kontext‹ zuzuordnendes Problem wäre nach Köppe z.B. die Frage, wie sich ein literarischer Text zu anderen nicht-literarischenTexten verhält, die als Medium der Vermittlung von Wissen verwendet werden.
Das zweite Ordnungsschema gliedert mögliche Forschungsfragen nach konkreten, der Literatur zugeschriebenen Leistungen. Je nach Ansatz soll Literatur unter anderem Wissen vermitteln, veranschaulichen, antizipieren, enthalten oder sein. Ausgehend von diesen Zuschreibungen lässt sich der verwendete Wissensbegriff bezüglich der Aspekte Struktur, Inhalt und Wissensträger näher konturieren, woraus sich eine weitere Gliederungsmöglichkeit verschiedener Problemstellungen ergibt.
Eine dritte von Köppe vorgeschlagene Systematisierung ergibt sich durch die Verortung bestimmter Fragestellungen zu ›Literatur und Wissen‹ in etablierten literaturwissenschaftlichen und der Literaturwissenschaft nahe stehenden Arbeitsfeldern, wie beispielsweise der Literaturgeschichte, der Literaturtheorie oder der philosophischen Erkenntnistheorie.
Nach dieser ersten Skizze des Forschungsfeldes werden die sieben folgenden Beiträge vorgestellt, die laut Köppe ihrer theoretischen Ausrichtung entsprechend auf zwei unterschiedliche Arten vorgehen: Sie nehmen »erstens eine Metaperspektive ein und schlagen Systematisierungen einzelner Aspekte des Forschungsfeldes vor und/oder sie nehmen zweitens Stellung zu der Kernfrage, in welchem Sinne davon gesprochen werden könne, Literatur sei ein Träger oder eine Quelle von Wissen« (14).
3. Die Beiträge im Einzelnen
Der allgemeinen Systematisierung des Forschungsfeldes widmen sich am ausführlichsten die Beiträge von Lutz Danneberg/Carlos Spoerhase und Olav Krämer.
Olav Krämer ordnet in seinem Aufsatz »Intention, Korrelation, Zirkulation. Zu verschiedenen Konzeptionen der Beziehung zwischen Literatur, Wissenschaft und Wissen« verschiedene aktuelle Ansätze der ›Literatur und Wissen‹-Forschung den drei übergreifenden Erklärungsmustern Intention, Korrelation und Zirkulation zu. Anhand der exemplarischen Besprechung einzelner prominenter Studien (z.B. von Horst Thomé, Michael Titzmann oder Joseph Vogl), die jeweils den entsprechenden Sammelbegriffen zugeordnet werden, entwickelt Krämer eine allgemeine Systematik divergenter Forschungsstrategien zur Problematik ›Literatur und Wissen‹.
Unter dem Begriff ›Intention‹ fasst Krämer Ansätze zusammen, die das Verhältnis von Literatur und Wissen »durch den Rekurs auf die Kenntnisse und die angenommenen Intentionen des Autors« (80) zu erklären versuchen. »Korrelations«-Ansätze zielen im Unterschied dazu eher auf eine Untersuchung »von überindividuellen Trends in der Literatur und ihren Beziehungen zu wissenschaftlichen Entwicklungen« (88) ab und nehmen globale »Merkmale und Veränderungen in der Literatur eines Zeitabschnitts« (96) in den Blick. Das Erklärungsmuster der »Zirkulation« betrifft Ansätze, die von der Grundannahme ausgehen, dass »Wissen stets innerhalb von Wissensordnungen hervorgebracht werde, die durch bestimmte Regeln und Verfahren der Aussagenbildung und insbesondere durch spezifische Darstellungsformen charakterisiert seien« (99). Eine weitere wichtige Annahme ist, dass »Literatur und Wissenschaften in einem Raum des Wissens situiert beziehungsweise Teil einer Wissensordnung seien oder von demselben Wissen ›durchquert‹ werden« (100). Ausgehend von der entsprechenden These, dass Literatur und Wissenschaft denselben diskursiven Regeln unterworfen sind und sich daher »derselben Darstellungsformen oder Repräsentationsweisen« (100 f.) bedienen, setzen sich Zirkulations-Untersuchungen – wie Joseph Vogls Kalkül und Leidenschaft [3] oder Roland Borgards Poetik des Schmerzes [4] – typischerweise als Ziel, »literarische und wissenschaftliche Texte eines Zeitraums als Teile derselben Wissensordnung zu erweisen, also jene Ähnlichkeiten zwischen Literatur und den Wissenschaften eines Zeitabschnitts herauszuarbeiten, in denen sich ihre Situiertheit innerhalb desselben Wissensraums manifestiert« (102).
An die deskriptiven Passagen zu den jeweiligen Erklärungsmustern und damit zusammenhängenden literaturtheoretischen Hintergrundannahmen schließt Krämer jeweils eine vorurteilsfreie Diskussion der Stärken und Schwächen einzelner Positionen an. Krämers klar entwickelte Systematisierung ist innovativ und gerade auch für einzelne Fallstudien fruchtbar. Solchen spezialisierten Fallstudien ist durch sie ein Anstoß gegeben, sich selbstreflexiv über die Ausrichtung der eigenen Fragestellung bewusst zu werden und dann die von Krämer als ›typisch‹ vorgestellten Mängel des eigenen Erklärungsmusters zu verbessern.
Der Aufsatz »Wissen in Literatur als Herausforderung einer Pragmatik von Wissenszuschreibungen: sechs Problemfelder, sechs Fragen und zwölf Thesen« von Lutz Danneberg und Carlos Spoerhase widmet sich der Systematisierung des detaillierteren Problemfelds von Wissen in Literatur. Die beiden Autoren machen klar, dass im allgemeinen Kontext ›Literatur und Wissen‹ Wissen keineswegs ein sonderlich problematischer Begriff ist – sofern unter ›problematisch‹ verstanden wird, dass es sich bei Wissen um ein knappes Gut oder eine schwer zugängliche Größe handelt. Dementsprechend spezifizieren sie ihre Zielsetzung dadurch, dass sie sich der präzisierten und sehr wohl problematischen Frage widmen, »unter welchen Voraussetzungen es sinnvoll ist, zu sagen, dass ein bestimmtes Wissen in Literatur ist« (31).
Zur Explikation dieser Thematik liefern Danneberg/Spoerhase einen umfangreichen, 48-seitigen Beitrag, der analytisch klar eine Reihe von eingängigen Thesen und Fragestellungen entwickelt. Der Aufsatz gliedert sich in insgesamt sechs »Problemkonstellationen«, die anstreben, (i) Fragestellungen zu Wissen in Literatur mit »aktuellen Theorien des Testimoniums zu verknüpfen«, (ii) Fiktionalitätstheorien auf ihren Zusammenhang mit der Wissensproblematik zu befragen sowie (iii) zu klären, »wie das Verhältnis von Artefaktproduktion und Artefaktgehalt zu konzeptualisieren ist« (29). Die anderen drei Problemkonstellationen behandeln (iv) die Frage nach der Möglichkeit, in Literatur neues Wissen zu verorten, (v) die methodologische »Analyse der Exemplifikationsrelation im Hinblick auf literaturwissenschaftliche Wissenszuschreibungen« und (vi) Vorschläge für eine »ausformulierte Theorie der Wissensträger« (ebd.).
Diese aufgrund ihrer Klarheit stets nachvollziehbaren theoretischen Überlegungen werden jeweils durch in petit gesetzte Absätze ergänzt, die enorm materialreiche »historische Hinweise« liefern, deren Lektüre, so die Autoren, »für das Verständnis der theoretischen Überlegungen hilfreich, aber nicht notwendig« (35) ist. Bei diesem Hinweis handelt es sich meines Erachtens nicht nur um eine captatio benevolentiae. Die historischen Passagen haben den Charakter von Exkursen, sie sind zwar beeindruckend informiert, wirken aber oft überfrachtet und nicht mehr direkt auf vorhergehende Thesen bezogen. Der Plausibilität der zentralen theoretischen Überlegungen tut dies keinen Abbruch. Die schlichte Formulierung der hilfreich in grauen Kästen von Text abgesetzten Hauptthesen erleichtert außerdem den Umgang mit dem umfangreichen Text und erspart dem Leser bei erneuter Lektüre die Suche nach griffigen Aussagen, die sich als Ausgangsbasis für eine vertiefte Problematisierung der Einzelthesen eignen.
Ausgehend von der einleitend aufgerufenen Kernfrage, »in welchem Sinne davon gesprochen werden könne, Literatur sei ein Träger oder eine Quelle von Wissen« (14) problematisieren die drei Studien von Thomas Klinkert (»Literatur und Wissen. Überlegungen zur theoretischen Begründbarkeit ihres Zusammenhangs«), Andrea Albrecht (»Zur textuellen Repräsentation von Wissen am Beispiel von Platons Menon«) und Gideon Stiening (»›Und das Ganze belebt, so wie das Einzelne, sei‹. Zum Verhältnis von Wissen und Literatur am Beispiel von Goethes Die Metamorphose der Pflanzen«) vor allem den Gehalt des Wissensbegriffs, der im Kontext ›Literatur und Wissen‹ beziehungsweise ›Wissen in Literatur‹ sinnvoll sein könnte.
Klinkert unterscheidet, angelehnt an das zweite von Köppe einleitend angesprochene Ordnungsschema, die folgenden vier »Grundtypen der Relationierung von Literatur und Wissen« (118): Es seien die Thesen anzutreffen, dass (i) »in der Philosophie oder in den Wissenschaften generiertes Wissen […] von der Literatur importiert wird«, dass (ii) »Literatur und Wissenschaft als diskursive Formationen« (117) anzusehen seien sowie dass (iii) die Literatur »selbst Wissen generiert« (ebd.) und dass (iv) Literatur kein Wissen enthalten könne. Diese Ansätze unterscheiden sich nach Klinkert zuallererst durch eine unterschiedliche Besetzung des Wissensbegriffs. Der Aufsatz ist komplex und ausgesprochen dicht, was sich schon an den Überschriften der Teilkapitel zeigt: Behandelt werden nicht nur die eben angesprochenen vier Relationierungstypen von Literatur und Wissen, der Text versucht sich ebenfalls an der Klärung der Begriffe »Literatur« (Punkt II.1 [123]) »ästhetisch/poetisch« (Punkt II.1.1 [124]), »Fiktion« (Punkt II.1.2 [125]) und »Wissen« (Punkt II.2 [127]). Des Weiteren werden die Großthemen »Systemtheorie« (II.3 [128]), »Diskursanalyse« (II.4 [131]) und »Poetologie des Wissen« (II.5 [134]) samt zugehörigen Autoritäten von Luhmann bis Foucault aufgerufen, so dass sich trotz überzeugender Passagen insgesamt der Eindruck eines etwas eklektizistischen Vorgehens aufdrängt. Klinkerts Schlussfolgerung ist schließlich, »dass es erst durch die Kombination von Systemtheorie […] und Diskursanalyse […] möglich wird, die Komplexität des Verhältnisses von Literatur und Wissen zu erfassen und darzustellen« (138).
Albrecht und Stiening gründen ihre theoretischen Überlegungen auf konkrete Einzeltexte (Platons Menon bei Albrecht, Goethes Die Metamorphose der Pflanzen bei Stiening), liefern jedoch der Zielsetzung des Sammelbandes entsprechend nicht (nur) spezialisierte Fallstudien, sondern entwickeln darüber hinausgehende, allgemeinere Thesen zum Wissensbegriff.
Albrecht rückt speziell nicht-propositionale Wissensformen in den Fokus und plädiert dafür, im Kontext ›Wissen in Literatur‹ »den Wissensbegriff um Aspekte praktischer und nicht-deklarativer Wissensformen zu erweitern«. (162) Keineswegs ist diese Erweiterung des Wissensbegriffs im Fall von Albrechts Aufsatz mit einer Metaphorisierung der Redeweise verbunden. Klar und nachvollziehbar entwickelt sie anhand des Menon-Dialogs die These, dass es Wissensgehalte gibt, die sich nicht direkt in Propositionen übersetzen lassen. Hilfreich wäre ein die Überlegungen ergänzender Hinweis darauf gewesen, dass diese Sichtweise in der Epistemologie nicht unumstritten ist. [5] Nicht-propositionales Wissen wie das »Methodenwissen, Knowhow« (158), »Unterscheidungswissen« und »technisches Gebrauchswissen« (160), das Sokrates in der Geometrielektion an Menons Sklavenjungen weitergibt, kann einem Rezipienten laut Albrecht durch »die formalen Gestaltungselemente eines Textes auf indirektem Wege vermittelt werden« (162).
Auch Stiening stellt begriffliche Überlegungen ins Zentrum seines Beitrags. Er hält es für erforderlich, »einen Wissensbegriff zu formulieren, der gegen die Kulturwissenschaften ebenso wie gegen die analytische Literaturwissenschaft abgrenzbar« (199) sein muss. Im Laufe des Aufsatzes wird deutlich, dass Stienings Sympathie im Zweifelsfall dennoch wohl eher auf Seiten eines analytischen Vorgehens liegt. Erfrischend undiplomatisch wirft er kulturwissenschaftlichen Modellen der Wissenspoetik vor, dass sie den Wissensbegriff unzulässigerweise so sehr aufweichten, dass »Wissen ein Synonym für Sein schlechthin« (201) werde. Des Weiteren entdifferenzierten sie zu Unrecht einen »seit Aristoteles wohldefinierten Begriff« (ebd.), gingen von der »schlicht falsch[en]« These aus, dass jeder erkenntnistheoretische Akt ästhetische Kriterien einschließe [6] und versuchten durch die Einführung obskurer Kategorien »idiosynkratrischen Denkens« von einer »unhintergehbaren Verpflichtung auf Wahrheitsanspruch oder Falschheitsnachweis, die jeder Wissenschaft zukommen, zu abstrahieren« (203).
Anschließend grenzt sich Stiening – weniger unversöhnlich, aber dennoch deutlich – von der analytischen Literaturwissenschaft ab, welche zwar mit den sinnvollen JTB-Kriterien [7] für Wissen arbeite, fälschlicherweise aber darauf beharre, dass »man das in Literatur gestaltete Wissen […] auf seinen materialen Wahrheitsgehalt überprüfen« (205) müsse. Forschung zu ›Literatur und Wissen‹, so sein Fazit, sei dementsprechend zwischen diesen beiden Polen zu situieren.
Claus-Michael Ort argumentiert in seinem wissenssoziologisch ausgerichteten, gegenüber den anderen Beiträgen etwas weitschweifig und weniger leicht nachvollziehbar wirkenden Aufsatz (»Das Wissen der Literatur. Probleme einer Wissenssoziologie literarischer Semantik«) völlig anders als Stiening für einen weiter gefassten Wissensbegriff. Dieser führt Ort zu einer Marginalisierung des »aus der ›Wahrheitsbedingung‹ für ›Wissen‹ resultierende[n] Problem[s] der – dann zumindest stark eingeschränkten – ›Wahrheitsfähigkeit‹ fiktionaler Texte«. (179) Stattdessen sei Wissen immer diskursrelativ zu verstehen, so dass Literatur mindestens als »Medium der Speicherung und Verbreitung, Popularisierung und Ästhetisierung von außerliterarisch präexistentem literatur-unspezifischen ›Wissensbeständen‹ fungieren« (184) könne.
Der abschließende Beitrag von Sandra Richter (»Wirtschaftliches Wissen in der Literatur um 1900 und die Tragfähigkeit ökonomischer Interpretationsansätze«) ist im Rahmen des Sammelbandes auffällig deplatziert. Richter liefert eine interessante Studie zu Romanen von Heinrich Mann, Upton Sinclair und H.G. Wells, tritt aber zu keinem Zeitpunkt »einen Schritt zurück« (1) und geht nie auf die theoretischen Fragestellungen zu ›Literatur und Wissen‹ ein, deren Diskussion sich der Band als eigentliches Ziel gesetzt hat.
4. Fazit
Die vereinzelt angemerkten Kritikpunkte trüben meines Erachtens nicht den umfassend positiven Eindruck nach der Lektüre des Sammelbandes, der insgesamt, wie einleitend schon bemerkt, seine ambitionierten Ankündigungen auch einlöst. Durch seinen durchgehend hohen Abstraktionsgrad bereichert er die theoretische Debatte um ›Literatur und Wissen‹ substantiell. Er wirkt sehr homogen und verliert sich – abgesehen von dem letzten Beitrag – nicht in spezialisierten Fallstudien, so dass in der Gesamtschau genau jener theoretische Überblick über die Debatte entsteht, der explizites Ziel des Bandes war.
Gerade die klare und unprätentiöse Vorgehensweise der einzelnen Studien hebt sich erfreulich ab von der schwammigen Metaphorik anderer Publikationen, welche in den einzelnen Aufsätzen auch immer wieder kritisch in den Blick genommen werden. Dennoch wirkt der Band keineswegs als Tummelplatz einer verschworenen, philosophisch-literaturwissenschaftlichen Schule, auch diskursanalytische, wissenssoziologische oder wissenschaftshistorische Theorieelemente werden aufgenommen und unvoreingenommen diskutiert. Sofern Kritik an bestimmten Positionen geübt wird, ist sie klar und pointiert, so dass sich der Band als hochgradig anschlussfähig auch für die Teile der Fachdiskussion erweisen sollte, die grundsätzlich einen theoretisch anders fundierten Zugang zu der Thematik ›Literatur und Wissen‹ befürworten.
Universität Regensburg
Neuere deutsche Literatur
Anmerkungen
[1] Vgl. Tilmann Köppe, Vom Wissen in Literatur, Zeitschrift für Germanistik 17 (2007), 398–410. Zu der unmittelbar auf diesen Beitrag folgenden Diskussion vgl. Roland Borgards, Wissen und Literatur. Eine Replik auf Tilmann Köppe, ebd., 425–328; Andreas Dittrich, Ein Lob der Bescheidenheit. Zum Konflikt zwischen Erkenntnistheorie und Wissenschaftsgeschichte, ebd., 631–637; Tilmann Köppe, Fiktionalität, Wissen, Wissenschaft. Eine Replik auf Roland Borgards und Andreas Dittrich, ebd., 398–410; Fotis Jannidis, Zuerst Collegium Logicum. Zu Tilmann Köppes Beitrag »Vom Wissen in Literatur«, Zeitschrift für Germanistik 18 (2008), 373–377. [zurück]
[2] Ausführlicher zu diesem Modell vgl. Harald Fricke, Textanalyse und Textinterpretation. Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlagen, in: Thomas Anz (Hg.), Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen, Bd. 2: Theorien und Methoden, Stuttgart/Weimar 2007, 41–54. [zurück]
[3] Joseph Vogl, Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, München 2002. [zurück]
[4] Roland Borgards, Poetik des Schmerzes. Physiologie und Literatur von Brockes bis Büchner, München 2007. [zurück]
[5] Den Standpunkt, dass sich jedes nicht-propositionale Wissen letztlich doch in propositionales Wissen übersetzen lasse vertreten z.B. Stanley/Williamson: »[W]e contest the thesis that there is a fundamental destinction between knowledge-how and knowledge-that. We will argue that Ryle was wrong to deny that ›knowledge-how cannot be defined in terms of knowledge-that‹. Knowledge-how is simply a species of knowledge-that.« (Jason Stanley/Tim Williamson, Knowing how, Journal of Philosophy 98:8 [2001], 411–444, hier 411). [zurück]
[6] Stiening zitiert als Vertreter dieser These Bernhard Dotzler, der eine »unauflösliche Verschränkung von Poetologie und Epistemologie« postuliert (Bernhard Dotzler, Literaturforschung & Wissen(schaft)sgeschichte. Vorwort, in: B. D./Sigrid Weigel [Hg.], fülle der combination. Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte, München 2005, 9-13, hier 12). [zurück]
[7] Das Kürzel JTB bezeichnet die Definition von Wissen als ›justified true belief‹, also als ›gerechtfertigte wahre Überzeugung‹. Diese Definition ist in der philosophischen Erkenntnistheorie nach wie vor weitgehend akzeptiert. [zurück]
2011-03-25
JLTonline ISSN 1862-8990
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