Tobias Klauk und Tilmann Köppe

Erzähltheorie, philosophisch

Tim Henning, Person sein und Geschichten erzählen. Eine Studie über personale Autonomie und narrative Gründe. Berlin/New York: de Gruyter 2009. VIII, 289 S. [EUR 89,00]. ISBN: 978-3-11-020569-5.

Tim Hennings ausgezeichnetes Buch gehört eigentlich in den Kontext philosophischer Theorien zum Begriff der Person. Henning entwickelt eine bestimmte Antwort auf die Frage, wie der Begriff der Person verstanden werden sollte. Seine These, in einem ersten »groben Umriss«, lautet folgendermaßen: »Es ist Teil der normativen Vorstellungen, die mit dem Begriff ›Person‹ semantisch verknüpft sind, dass ein nicht-defizitäres personales Leben bestimmte Einstellungen erfordert. Um Einstellungen dieser Art zu rechtfertigen, braucht es Geschichten über die Geschichte ihres Subjekts.« (21)

Hennings Buch steht also in der Tradition so genannter ›narrativer‹ Theorien des Personseins. Diese Theorien haben mindestens zwei Probleme: Erstens bleibt oft unklar, was genau als ›narrativ‹ bezeichnet werden und was ›narrativ‹ dabei heißen soll (vgl. 2–10), und zweitens sind ernst zu nehmende Einwände gegen solche Theorien vorgebracht worden (vgl. 10–18). Das Buch ist als Lösungsvorschlag für diese Probleme gedacht. Henning versucht dabei nicht, eine vollständige Theorie des Personseins zu entwickeln, sondern eine einzelne, wichtige Bedingung herauszugreifen und zu begründen. [1]

Zum Aufbau des Buches

Im ersten von drei Hauptteilen entwickelt Henning die These, dass es »Teil eines nicht-defizitären personalen Lebens [ist], dass eine Person sich praktisch an dem orientiert, was sie im emphatischen Sinne wirklich will« (234). Diese Einstellungen müssen gerechtfertigt werden können, d.h. die Person muss sich zu der Frage äußern können, weshalb sie sich mit bestimmten Handlungs- oder Lebensweisen identifiziert. Solche Rechtfertigungen beruhen auf Überzeugungen über die eigene Geschichte und Bewertungen derselben. Im zweiten Hauptteil (den wir im nächsten Abschnitt etwas ausführlicher darstellen) bestimmt Hennig den Begriff der Narrativität, um im dritten Hauptteil das Folgende zeigen zu können: »Wer sich gerechtfertigt mit einer Einstellung identifiziert, nimmt auf eine Geschichte Bezug, die für ihn die Art von Bedeutsamkeit hat, die Narrationen auszeichnet.« (Ebd.) Noch einfacher gesagt: Wenn wir uns selbst oder jemand anderem gegenüber begründen, weshalb uns bestimmte Dinge wichtig sind, dann zeichnen sich diese Begründungen durch genau die Merkmale aus, die Erzählungen ausmachen. Unsere Begründungen sind also narrativ. Und als knapper Slogan: »Wir benötigen Geschichten, um zu verstehen, wer wir sind und was unsere wirklichen Anliegen sind.« (235) Zum Schluss skizziert Henning normative Schlussfolgerungen aus seiner Theorie. Ein Namens- und Begriffsregister rundet das Buch ab.

Zum Begriff der Narrativität

›Narrativ‹ ist ein Modebegriff, unter dem vieles verstanden wird und der selten auch nur ansatzweise geklärt wird. Henning dagegen gibt auf 80 Seiten eine präzise Definition, die in drei Teile zerfällt: Spezifiziert werden grammatische, semantische und pragmatische Bedingungen für Narrativität. Keine der insgesamt acht Einzelbedingungen für Narrativität ist völlig neu in der Debatte (Henning benennt sie als »Textualitätsbedingung«, »Bedingung der Ereignisreferenz«, »Diachronizitätsbedingung«, »Sequenzialitätsbedingung«, »Bedingung des Sinnzusammenhangs«, »semantische Intentionalitätsbedingung«, »Dramatizitätsbedinung« und »Ganzheitsbedingung«). Die Bedingungen werden aber mit bemerkenswerter Klarheit formuliert und erklärt.

Exemplarisch greifen wir die zu den semantischen Bedingungen gehörende semantische Intentionalitätsbedingung heraus. Sie lautet: »Eine Teilmenge I der Ereignisse in Γ [einer Menge von Ereignissen, auf die die Sätze von S Bezug nehmen] wird von S [einer Menge von Tokensätzen] explizit oder implizit im Skopus intentionaler Operatoren beschrieben, und für jedes weitere Ereignis e in Γ beschreibt S eine sinnhafte Verknüpfung zu mindestens einem Element von I« (169). Die semantische Intentionalitätsbedingung besagt, grob gesagt, dass die Ereignisse, von denen eine Erzählung handelt, als Gegenstand mentaler Einstellungen von Akteuren beschrieben werden (vgl. 190–194). Narrationen heben daher nicht irgendwelche Aspekte von Ereignissen heraus, sondern vielmehr solche, die sich den Einstellungen von Akteuren (ihren Gedanken, Hoffnungen, Interessen, Wünschen etc.) verdanken. Das kann direkt oder indirekt geschehen, und ist ein Ereignis nicht Gegenstand solcher Einstellungen von Akteuren, so muss es zumindest (auf genau bestimmte Weise, vgl. 183–190) zu einem solchen in Beziehung zu bringen sein.

Von Zeit zu Zeit schießt Henning bei der Spezifikation der Bedingungen mit Kanonen auf Spatzen. Ob es z.B. wirklich nötig ist, darüber zu sprechen, dass die Sätze eines Textes »auf eine Menge Γ von faktischen oder kontrafaktischen Ereignissen Bezug« nehmen und »dass die Kardinalität der Menge Γ ≥ 2 ist« (169), anstatt es bei der schlichten Bemerkung zu belassen, dass es mindestens zwei Ereignisse sein müssen, auf die eine Erzählung Bezug nimmt, darf bezweifelt werden. Die Präzision zahlt sich allerdings aus, sobald es um die Erklärung und Erläuterung der komplexen pragmatischen Bedingungen geht, welche die Narrationsbedingung für den Personenbegriff über den Status einer Trivialität hinausheben. Hier leistet Henning echte Aufklärungsarbeit, indem er analysiert, was die in narratologischen Debatten eher schlagwortartig benutzten Thesen, dass Narrationen eine dramatische Struktur oder eine Auflösung enthalten, eigentlich besagen können. Er führt vor, wie viel Arbeit man leisten muss, um aus den genannten Schlagworten gehaltvolle Thesen entstehen zu lassen.

Hennings Definition bildet das maximale Gegenstück etwa zu Peter Lamarques minimaler Definition von Narrativität. [2] Für Hennings Zwecke ist es genau richtig, den Narrativitätsbegriff so reichhaltig wie eben möglich zu fassen. Schließlich will er zeigen, dass bestimmte Konzeptionen der Geschichte eines Subjekts narrativ sind, und diese These wird umso interessanter je stärker man den Narrativitätsbegriff auffasst. Es macht daher nichts aus, dass Hennings Vorstellung, es gebe eine robuste Alltagsverwendung des Begriffs ›Narration‹, die man für eine Begriffsanalyse nutzen könne, eher fragwürdig ist. Außerhalb dieses Kontextes lohnt sich aber die Frage, ob Definitionen von Narrativität nicht verschiedene Zwecke erfüllen können und sich eher an diesen als an vagen Intuitionen über einen kaum vorhandenen Alltagsgebrauch messen lassen sollten.

Fazit

Hennings Bestimmung des Narrativitätsbegriffs dürfte, vor allem aufgrund der ausführlichen Erläuterungen, die beste sein, die derzeit erhältlich ist.

Auch der Stil des Buches ist beispielhaft. Jeder argumentative Schritt wird motiviert und jede These wird erklärt, ihr Status wird bestimmt, sie wird begründet und mit nahe liegenden (und manchmal auch gar nicht so nahe liegenden) Einwänden konfrontiert. Und wo Henning meint, dass er eine These (noch) nicht begründen kann, da räumt er dies ein, so dass in jedem Fall klar wird, auf welche Weise ein philosophischer Fortschritt erzielt werden könnte.

Narratologen werden mit diesem Buch vielleicht im Detail überfordert sein. An verschiedenen Stellen setzen Hennings Argumentation und seine Darstellungsweise voraus, dass man mit bestimmten Problemzusammenhängen der (analytischen) Philosophie – und mit prädikatenlogischer Notation – vertraut ist. Die erfreuliche Nachricht ist: Die fraglichen Passagen sind keine Voraussetzung dafür, die wesentlichen Thesen sowie die Umrisse der Argumentation zu verstehen. Henning nimmt seine Leser vorbildlich bei der Hand und formuliert alles Wesentliche zunächst (und immer wieder) in einer einfachen Sprache. Die komplizierten Details finden sich da (und nur da), wo sie hingehören: wenn es um die Präzisierung einzelner Thesen geht, die zuvor schon in einer intuitiv einleuchtenden (wenngleich eben unpräzisen) Weise eingeführt wurden.

Tobias Klauk

Tilmann Köppe

Georg-August-Universität Göttingen

Courant Forschungszentrum ›Textstrukturen‹

Anmerkungen

[1] Dass Henning trotz der wiederholten Zusammenfassung seines Vorhabens in dieser Hinsicht bereits missverstanden wurde, liegt wohl nicht zuletzt an der Gründlichkeit, mit der er Probleme benennt und diskutiert – man vergisst ob der Vielfalt der dargebotenen Probleme nur zu leicht, wie eng gefasst Hennings eigentliches Anliegen ist. So hat etwa Edda Kapsch völlig Recht damit, dass es ebenso konstitutiv für Personen ist, sich mit ihrer Zukunft zu befassen, wie die von Henning betrachtete (vgl. 105–112) Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit (vgl. Edda Kapsch: Sei, der du gewesen bist (Rezension zu: Tim Henning, Person sein und Geschichten erzählen), Deutsche Zeitschrift für Philosophie 57 (2009), 650–654). Aber für Hennings These ist dieser Umstand zunächst ganz unbedeutend. Allerdings wäre es interessant zu erfahren, ob sich im Stile Hennings narrative Konzeptionen auch in der Beschäftigung mit der eigenen Zukunft nachweisen lassen, eine Frage, die Henning selbst nicht behandelt. [zurück]

[2] Vgl. Peter Lamarque, On Not Expecting Too Much from Narrative, Mind & Language 19 (2004), 393–408. [zurück]

2011-11-03

JLTonline ISSN 1862-8990

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